Rede von
Iris
Gleicke
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Töpfer hat im vergangenen Jahr hier im Parlament hervorgehoben, wie wichtig es sei, daß der Kompromiß zur Einführung des Vergleichsmietensystems in Ostdeutschland die Verpflichtung enthalte, „ein neues Wohngeldgesetz vorzulegen, das im Jahr 1996 wirksam wird" . Der Bauminister wollte eine Regelung finden, „die alle Seiten mittragen können". Was er im vergangenen Sommer vorgelegt hat, war aber alles andere als die versprochene gesamtdeutsche Wohngeldnovelle. Das war nichts anderes als ein glatter Wortbruch.
Wir Sozialdemokraten - Herr Rau, Sie tun gut daran, unseren Sprecher dafür zu loben - haben das Schlimmste verhindern können. Wir haben verhindert, daß das ostdeutsche Wohngeld auf das niedrige Westniveau abgesenkt wird; denn das und nichts anderes war der Kern des ursprünglichen Gesetzentwurfs.
Für Ostdeutschland konnten ganz wesentliche Verbesserungen durchgesetzt werden. Aber eine gesamtdeutsche Politik ist das nicht, was hier abgelaufen ist. Eine gesamtdeutsche Politik würde die Vereinheitlichung der Rechtsverhältnisse in Ost und West überall dort umsetzen, wo es vernünftig und machbar ist. Es ist doch völlig klar, was die Wohngeldempfänger im Westen dazu sagen werden, daß es auch in diesem Jahr nur Sonderregelungen für den Osten und keine gesamtdeutsche Wohngeldnovelle gibt. Die Menschen im Westen haben kein Verständnis dafür, daß ihre berechtigten Ansprüche in keiner Weise berücksichtigt werden und daß noch nicht einmal ein erster Schritt in diese Richtung getan wird.
Das hat verheerende psychologische Folgen. Die Politik der leeren Versprechungen schürt Neid und Mißgunst. Sie spaltet die Gesellschaft. Sie schadet der deutschen Einheit.
Es waren Sozialdemokraten hier im Deutschen Bundestag und in den SPD-geführten Bundesländern, die verhindert haben, daß das Wohngeld in den neuen Ländern durchschnittlich um die Hälfte gekürzt wird.
Hätte die Bundesregierung ihre ursprünglichen Pläne verwirklicht, dann wären in Ostdeutschland Rentner und Arbeitslose von einem Tag auf den anderen in Armut gestürzt worden.
Leerstände dort, Kollege Rau, wo wegen der fehlenden Arbeitsplätze keine Wohnungssuchenden sind, nützen den Leuten in Ballungszentren, die Wohnungen suchen, überhaupt nicht. Sie führen da eine Scheindiskussion.
Die Miete nicht mehr bezahlen zu können und keine andere bezahlbare Wohnung zu finden, das bedeutet oft genug den ersten Schritt in die Obdachlosigkeit und damit ins soziale Aus, im Osten wie im Westen. Ich sage es Ihnen hier nicht zum erstenmal: Eine Wohnung ist nicht irgendein x-beliebiges Wirtschaftsgut. Sie ist nicht einfach nur eine lohnende Kapitalanlage, ein Abschreibungs- oder ein Verlustobjekt. Für den Menschen, der in seiner Wohnung lebt, ist sie der Ort, wo er sich ein Heim schafft, wo er seine Gäste bewirtet, wo er zu Hause ist.
Bei der Wohnungspolitik geht es um Menschen und nicht um irgendwelche Statistiken und Zahlenspielereien. Die sich christlich nennenden Parteien in diesem Hause scheinen das vergessen zu haben; von den Marktideologen von der F.D.P. will ich an dieser Stelle gar nicht erst reden. Wie weit haben Sie sich eigentlich schon von den Menschen entfernt, und wie weit wollen Sie sich noch von ihnen entfernen?
Der Bauminister hat vor ein paar Tagen erklärt, die Mieter in den neuen Bundesländern würden unter anderem auch auf Grund von Einkommenszuwächsen aus den Einkommensgrenzen für das Wohngeld herauswachsen.
Iris Gleicke
Hören Sie doch endlich damit auf, sich Ihre Statistiken schönzurechnen! Hören Sie doch endlich damit auf, die Leute für dumm zu verkaufen!
Die Einkommensgrenzen, von denen Sie reden, sind seit sechs Jahren nicht mehr angepaßt worden. Dagegen sind die Mieten und die allgemeinen Lebenshaltungskosten gestiegen; was steigt und steigt und steigt, ist die Arbeitslosigkeit.
Was diese Bundesregierung treibt, hat System und folgt einer wohldurchdachten Strategie: Zuerst macht man großartige Versprechungen und feste Zusagen. Dann entdeckt man neue Haushaltslöcher in der Kasse, von denen man angeblich vorher nichts gewußt hat und für die man dann irgend jemanden verantwortlich macht. Zum Opfer dieser Heuchelei kann fast jeder werden: die Gewerkschaften, die angeblich zu hohe Lohnforderungen stellen, die Arbeitslosen, die angeblich gar nicht arbeiten wollen, oder am besten gleich dieser ganze lästige Sozialstaat, der den Standort Deutschland gefährdet. Das Muster ist immer dasselbe.
Man stellt also fest, daß man wieder einmal sparen muß, und bastelt eine sogenannte Wohngeldnovelle zusammen, die aber keinen Pfennig zusätzlich kosten darf. Das ist ja auch logisch: Irgendwie muß man die Steuergeschenke an die Superreichen ja finanzieren.
Nachdem man der Öffentlichkeit lange genug eingehämmert hat, daß man eigentlich überhaupt kein Geld für eine Wohngeldreform hat, nimmt man diese Ankündigung nach einiger Zeit zumindest teilweise zurück. Man gibt sich großzügig und tut wenigstens etwas für die Wohngeldempfänger im Osten. Auf diese Weise will man das eigene Versagen in Erfolg ummünzen. So haben es die Herrschaften von der Bundesregierung bei der Erhöhung des Rentenalters für Frauen gemacht; so versuchen sie es derzeit bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Ostdeutschland; so soll es auch beim Wohngeld laufen. Das machen wir Sozialdemokraten nicht mit.
Wir werden hier kein Gesetz ablehnen, das den Mietern in Ostdeutschland weiterhilft. Wir werden aber auch nicht einem offenen Wortbruch der Bundesregierung unseren Segen geben, indem wir diesem Gesetz zustimmen. Deshalb werden wir uns heute hier enthalten.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.