Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Bläss, wenn der DGB angekündigt hat, gegen das Gesetz beim Verfassungsgericht zu Felde zu ziehen, dann müssen wir dieses Gesetz erst beschließen; denn sonst kann der DGB das nicht. Deshalb bitte ich um Zustimmung.
Das Bundesverfassungsgericht hat, wenn es hierzu aufgerufen wird, zu prüfen, ob die Gesetze, die dieses Parlament beschließt, mit dem Grundgesetz in Einklang stehen. Wenn es bei dieser Prüfung zu dem Ergebnis kommt, daß die erlassenen Rechtsnormen in verfassungsrechtlich verbriefte Rechte eingreifen, kann es diese Normen verwerfen oder, wenn dies geboten ist, dem Gesetzgeber die Gelegenheit geben, seine Regelung im Lichte der Entscheidung zu überdenken und eine andere Gestaltung zu wählen.
Mit einem solchen Gestaltungsauftrag des Bundesverfassungsgerichts haben wir es hier zu tun. Das ist überhaupt nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich ist nur die Schärfe, mit der diese Diskussion hier und teilweise auch in der Presse geführt wird.
Worüber wir streiten und was auch in den sehr eingehenden Ausschußberatungen zu kontroversen Diskussionen geführt hat, ist die Frage, welche Gestaltungsmöglichkeiten die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Januar 1995 dem Gesetzgeber läßt. Dabei wird aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts teilweise gefolgert, in allen Zweigen der Sozialversicherung müsse künftig eine strenge Äquivalenz zwischen der tatsächlichen Beitragsentrichtung eines einzelnen Versicherten und der Leistung bestehen, die er im Versicherungsfalle beanspruchen kann.
Wer der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine solch enge Betrachtungsweise entnimmt, wird in der Tat nicht umhinkommen, künftig Leistungen egal welchen Zweiges der Sozialversicherung ohne Rücksicht auf Verluste allein danach auszurichten, was an Beiträgen gezahlt worden ist. Für die Anhänger dieser Auslegung würde dem Gesetzgeber vorwiegend nur noch die Rolle des Vollstreckers bleiben, der sich darauf zu beschränken hat, mißliebige Zufälligkeiten durch mehr oder weniger geschickte rechts- und verwaltungstechnische Maßnahmen auszuschließen, und dies mit gewaltigen finanziellen, aber auch strukturellen Auswirkungen in den Sozialversicherungssystemen.
Wir sind davon überzeugt, daß das nicht die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist, sondern daß das Bundesverfassungsgericht es zuläßt, daß der Gesetzgeber die Differenzierungen vornimmt, die auf Grund des sozialen Schutzzweckes und auf Grund des Charakters des jeweiligen in den einzelnen Sozialversicherungsbereichen versicherten Risikos erforderlich sind.
Wir sind überzeugt davon, daß dieser Schutzzweck einer übertriebenen Anwendung des Äquivalenzprinzips in der Sozialversicherung entgegenstehen kann, weil dessen uneingeschränkte Anwendung zu wenig sinnvollen Ergebnissen führen würde.
Das Bundesverfassungsgericht selbst hat dies in anderen Entscheidungen betont. Aber auch namhafte Sachverständige, anerkannte Juristen, haben im Anhörungsverfahren einen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bestätigt.
Der vorliegende Gesetzentwurf folgt dieser Linie: In der Arbeitslosenversicherung ist Maßstab des Arbeitslosengeldes das Arbeitsentgelt, das der Arbeitslose bei Aufnahme einer neuen Beschäftigung verdienen könnte. Letzteres ist sogar AFG-Norm; es wird nur nicht angewandt, weil es zu kompliziert ist. Deshalb wird von dem vorangegangenen Verdienst ausgegangen. Schon heute ist aber Recht, daß das Entgelt angesetzt werden müßte, das er verdienen könnte.
Im übrigen: Dazu zählen betriebliche Sonderzahlungen nicht.
Ich nenne nur zwei Beispiele aus der Praxis. Erstens. In der Metallindustrie, Kollege Büttner, haben Arbeitnehmer erst dann Anspruch auf eine Jahressonderzahlung, wenn sie dem Betrieb mindestens sechs Monate angehören.
Zweitens. In der chemischen Industrie haben Arbeitnehmer, die nach dem 30. September des lauf enden Kalenderjahres eingetreten sind, keinen An-
Parl. Staatssekretär Horst Günther
Spruch auf eine Jahressonderzahlung. - Die Liste der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen.
In der gesetzlichen Krankenversicherung soll nach dem vorliegenden Gesetzentwurf eine Sonderzahlung künftig berücksichtigt werden, wenn tatsächlich festgestellt werden kann, daß der Arbeitnehmer sie wegen der eingetretenen Arbeitsunfähigkeit nicht erhält. Gleiches soll für weitere kurzfristige Lohnersatzleistungen aus anderen Zweigen der Sozialversicherung, etwa beim Übergangsgeld für Rehabilitanden, gelten.
Daß dies insgesamt verfassungsmäßig begründbar ist, hat der Bundesjustizminister auf Bitten des federführenden Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung nochmals ausdrücklich bestätigt. Und was verfassungsmäßig begründbar ist, ist auch verfassungskonform.
Meine Damen und Herren, in dem vorliegenden SPD-Antrag steht ganz hinten - ich denke, in der Hoffnung, daß das niemand mehr liest -, unter Punkt 6:
Als weitere Lösung wäre denkbar, Einmalentgelte in pauschalierter Form zu berücksichtigen, indem dem jeweiligen Leistungsempfänger ggfs. ein zusätzliches Krankengeld, Übergangsgeld, Arbeitslosengeld etc. dann gezahlt wird, wenn eine solche Zahlung durch den Eintritt des Versicherungsfalls ausfällt.
Genau das machen wir, nur nicht pauschal, sondern konkret. Insoweit ist unser Gesetz begründbar. Es ist verfassungsrechtlich in Ordnung.
Ich bitte Sie, dem Gesetz zuzustimmen. Vielen Dank.