Rede von
Ulla
Schmidt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Sohns, Sie haben - wie viele andere heute auch - in Ihrer Rede die Kompromißfähigkeit der SPD angemahnt. Ich frage Sie einmal ganz ehrlich: Wer soll denn mit Ihnen Kompromisse schließen, wenn Ihr Wort nichts wert ist?
Die Erhöhung des Kindergeldes auf 220 DM in 1997 war ein Kompromiß, den wir durchgesetzt haben und dem Sie zugestimmt haben. Es hindert Sie nicht daran, dies einige Monate später einseitig aufzukündigen und die Erhöhung des Kindergeldes für viele Familien zu verschieben.
Es ist noch nicht lange her - gerade sehe ich die Präsidentin, Frau Süssmuth, unter den Abgeordneten sitzen -, daß wir unter anderem durch die gemeinsame Initiative der Frauen im Deutschen Bundestag den Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes ergänzt und dort festgelegt haben, daß es Aufgabe des Staates ist, die Gleichberechtigung zu fördern und bestehende Nachteile abzubauen. Die Frauen in Deutschland haben dies als einen Fortschritt angesehen. Jetzt müssen sie erfahren, daß mit dem vorliegenden Gesetzespaket unter dem irreführenden Namen „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung" bestehende Nachteile vergrößert werden.
Wenn Sie, meine lieben Kolleginnen, dem vorliegenden Gesetzespaket zustimmen, dann richtet sich Ihr Ja direkt gegen die Interessen von Frauen.
Dann stellen Sie mit Ihrem Ja die Weichen für eine Politik, die die angestrebte Halbierung der Arbeitslosenzahlen durch die systematische Heraustrennung von Frauen aus dem regulären Arbeitsmarkt erreichen wird. Dann stimmen Sie für eine Politik, die die Altersarmut von Frauen zementiert, statt sie, wie von uns allen beschlossen, wirksam zu bekämpfen.
Wenn Sie den Schwellenwert im Kündigungsschutzgesetz von bisher fünf Beschäftigte auf zehn Vollzeitbeschäftigte - das können auch 20 oder 25 Teilzeitbeschäftigte sein - anheben, dann werden zirka 5 Millionen derzeit erwerbstätige Frauen künftig ohne jeglichen Schutz vor Kündigungen dastehen.
Liebe Kolleginnen, es trifft die Frauen nicht nur deshalb überproportional, weil sie es sind, die überwiegend in Kleinbetrieben arbeiten. Es trifft sie vielmehr, weil es in der Regel Frauen sind, die sich urn die Kinder und um die Älteren in diesem Land kümmern und die deshalb nicht rund um die Uhr uneingeschränkt für den Arbeitgeber, nicht uneingeschränkt für Überstunden zur Verfügung stehen. Sie werden deshalb einerseits entlassen und an der gleichen Stelle als geringfügig Beschäftigte wieder eingestellt werden.
Es ist für Frauen eh schon schwierig genug, einen Arbeitsplatz zu finden, von dem sie leben können. In Chemnitz mußten sich einige Dutzend Bewerberinnen von der Geschäftsleitung sagen lassen - ich zitiere: „Alle über 30 und alle Frauen mit Kindern können gleich wieder gehen. "
Ulla Schmidt
Schon heute hat jeder fünfte Beschäftige Angst um seinen Arbeitsplatz. In Ostdeutschland ist es sogar jeder dritte. Welche Mutter, so frage ich Sie, wird sich in Kleinbetrieben noch trauen, ihr krankes Kind zu betreuen? Die Freistellung bei Erkrankung des Kindes bedeutet nicht nur die geplante Kürzung der Lohnersatzleistung auf 70 Prozent. Sie wird für Millionen von Frauen nur noch das Papier wert sein. Nach Ihrem Gesetzentwurf müssen sie nämlich damit rechnen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren.