Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um auf das Thema zurückzukommen: Worum geht es?
Es geht darum, die Rahmenbedingungen für mehr Arbeit in Deutschland zu verbessern. Nicht mehr und nicht weniger.
Es geht darum, die sozialen Lasten so zu verteilen, daß sie bei den Bedürftigen ankommen und nicht von den Cleveren mißbraucht werden.
Es geht darum, den Steuerzahler nicht zu überfordern, um seine Leistungsbereitschaft in den Gesamtdienst des Staates zu stellen.
Zu einem solchen Vorgehen gibt es keine Alternative.
Das ersehen Sie aus dieser Diskussion, in der keine Alternativen vorgestellt worden sind, genauso wie aus den Maßnahmen im Umfeld der europäischen Nachbarländer.
Ich sage denen, die von den Sparmaßnahmen betroffen sind:
Es ist eine zumutbare Einschränkung, wenn die Sozialleistungsquote um 0,4 Prozent gesenkt wird,
weil das der Aufgabe dient, die 4 Millionen Arbeitslosen nach und nach wieder in Arbeit und Brot zu bringen. Das ist das Opfer wirklich wert.
Ich verstehe, daß der Kollege Scharping - er mußte die Scharte vom Mittwoch auswetzen - tief in die ideologische Mottenkiste gegriffen hat.
Ich kann aber nicht verstehen, daß er Beispiele anführt, die einfach unwahr sind.
Dr. Hermann Otto Solms
Der von Ihnen zitierte Rollstuhlfahrer muß natürlich nicht in die Sozialhilfe zurück.
Er muß vielmehr, wie jeder andere Arbeitnehmer auch, für eine Woche Krankheit von seinen ihm zustehenden 31 Urlaubstagen einen Urlaubstag opfern. Ist das nicht eine zumutbare Einschränkung?
Diese Überhitzung der Diskussion dient der Sachaufklärung nun wirklich nicht, Herr Kollege Scharping. Das war kein gutes Kapitel Ihres Vortrages hier im Bundestag.
Wenn Frau Kollegin Müller eben behauptet, die Grünen hätten eine Alternative geboten, und dann auf die Ökosteuer als Alternative für die Senkung der Lohnzusatzkosten zurückkommt, dann frage ich: Ist das eine wirkliche Alternative, wenn jeder weiß, daß die Steuerlast in Deutschland ohnehin viel zu hoch ist?
Es gibt nur eine Möglichkeit: Die Steuerlast für die, die Leistung bringen und investieren, zu senken
und sie gleichmäßig und gerecht zu verteilen, damit in Deutschland wieder Arbeitsplätze geschaffen werden.
Wir haben gute Zeugen für unsere Politik. Der Kollege Henning Voscherau, der in Fragen der Steuerpolitik zum Wortführer der SPD erklärt worden ist, hat seine eigene Partei selbst ermahnt, sie solle zurück zur „wirklichen Wirklichkeit" kommen. Was ist denn die wirkliche Wirklichkeit?
Das ist, daß wir die Leistungskräfte in unserer Gesellschaft überfordern und deswegen im internationalen Wettbewerb zurückgefallen sind.
Ich will Ihnen nicht vorenthalten, was Walter Hamm in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" über das schwedische Beispiel schreibt:
In Schweden, von der SPD jahrezehntelang als Musterland gepriesen, hat eine sozialdemokratische Regierung alles das bereits verwirklicht, was die SPD verurteilt: Karenztage in der Kranken- und in der Arbeitslosenversicherung, Kürzung des Krankengelds, Erhöhung des Rentenalters, Lockerung des Kündigungsschutzes, Abschaffung der Vermögensteuer
- wohlgemerkt, Herr Scharping in Schweden -
und Senkung des Spitzensteuersatzes. Sparen
auf Kosten der Alten und Kranken? Die schwedische Regierung hat erkannt, daß Übertreibungen des Wohlfahrtsstaates und die verbreitete mißbräuchliche Inanspruchnahme sozialer Leistungen das Land zugrunde zu richten drohten, und hat gehandelt. Wie hoch müssen die Arbeitslosenzahlen und die Soziallasten in Deutschland noch steigen, ehe die SPD erkennt, daß es so wie bisher nicht weitergehen kann?
So ließen sich viele Beispiele aus unseren europäischen Nachbarländern zitieren. Ich will Ihnen das ersparen.
Wahr ist, daß die Bundesrepublik Deutschland einen Nachholbedarf hat und daß wir unsere Leistungen auf das Wesentliche konzentrieren müssen. Deswegen sage ich Ihnen noch einmal und rufe das in Erinnerung: Die sozialste Tat, die man überhaupt vollbringen kann, ist, den Menschen zu helfen, daß sie aus eigener Arbeit ihr Leben gestalten und finanzieren können.
Mit den Schlagworten Marktwirtschaft und Leistungsgesellschaft einerseits und Sozialstaatsprinzip andererseits soll immer ein Widerspruch beschrieben werden. Das ist aber kein Widerspruch, sondern beides gehört eng zusammen. Das Sozialstaatsprinzip ist ein tragendes Element unserer Gesellschaftsordnung. Aber das Sozialstaatsprinzip ist auch ein komplementäres Element zur marktwirtschaftlichen Ordnung. Um es auf deutsch zu sagen: Wir können - für soziale Leistungen - nur ausgeben, was wir erwirtschaften.
Der Staat, der auf Dauer über seine Verhältnisse lebt und ausgibt, was nicht zuvor erwirtschaftet worden ist, der wird à la longue in die Schuldenfalle tappen und die Lasten den nachfolgenden Generationen überlassen, die heute nicht mitwählen können, weil sie minderjährig oder überhaupt noch nicht geboren sind.
Deswegen muß mit diesem Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung eine Konsolidierung der Staatsfinanzen zwingend verbunden sein. Es gibt keine Möglichkeiten, dem auszuweichen.
Das müssen wir den Menschen sagen, die in diesem Prozeß im einzelnen Opfer bringen müssen. Das ist unvermeidlich. Wir können nur da sparen, wo wir Geld ausgeben. Woanders können wir nun einmal nicht sparen; das ist eine Selbstverständlichkeit.
Für mich ist bis heute unerklärlich, wie es den Gewerkschaften, gestützt von den Sozialdemokraten, gelungen ist, den Menschen einzureden, daß wir diese schwierige Situation, in der wir Mangel an Arbeit haben, durch weniger Arbeit überwinden könnten. Jeder Mensch, den Sie fragen, sagt: Wenn es mir schlechtgeht, muß ich mehr tun. Das gilt natürlich auch für den Staat, die Tarifparteien, die Arbeitneh-
Dr. Hermann Otto Solms
mer und die Unternehmen. Wenn es mir schlechtgeht, muß ich mich mehr anstrengen, dann muß ich mehr arbeiten, und ich brauche flexible Tarifverträge, die den Ansprüchen der Nachfrage des Marktes und dem verschärften Wettbewerb gerecht werden. Genau das tun jetzt die Unternehmen und die Arbeitnehmer vor Ort. Sie laufen dem Tarifkartell aus Arbeitgebern und Gewerkschaften davon und suchen Lösungen, weil sie es für wichtiger halten, ihren persönlichen Arbeitsplatz und die Existenz ihres Unternehmens zu sichern, als dem alten Tabu der flächendeckenden starren Tarifverträge weiter anzuhängen. Wenn sich die Tarifvertragsparteien dieser Auseinandersetzung nicht stellen - einige tun das ja: IG Textil und IG Chemie haben das erkannt, andere tun es noch nicht -, dann wird die Desolidarisierung in diesem Bereich unabhängig davon, ob die Politik das will oder nicht, fortschreiten. Ich bin nicht der Meinung, daß hier politische Vorgaben gemacht werden sollten. Die Lohnfindung, die Tarife und die Arbeitszeiten liegen im Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien. Aber sie müssen die Zeichen der Zeit erkennen und müssen das umsetzen, sonst werden sie der Frage nach der Zukunftssicherung der Arbeitsplätze nicht gerecht.
Meine Damen und Herren, ich will auf die Einzelheiten der Maßnahmen, die heute zur Abstimmung stehen, nicht weiter eingehen. Der Kollege Schäuble ist auf die wichtigsten Punkte eingegangen. Ich sage nur: Es werden zumutbare Opfer zum Wohle aller verlangt.
Die Oppositionsparteien, insbesondere die Sozialdemokratische Partei, werden nicht umhinkommen, sich ihrer Verantwortung als Mehrheitspartei im Bundesrat zu stellen und in wichtigen Fragen mit dem Deutschen Bundestag in seiner Mehrheit zusammenzuarbeiten, weil sie sich sonst an der Zukunft der Arbeitsplätze in Deutschland schuldig macht.
Wenn Herr Scharping sagt, wir würden nur da auf Sie zukommen, wo es verfassungsmäßig nicht vermeidbar sei, dann ist das nicht wahr. Wir haben in der Frage der Unternehmensteuerreform Angebote gemacht, Verhandlungen geführt, Sie zum Mitmachen aufgefordert und sind nahezu anderthalb Jahre hingehalten worden. Die Gewerbekapitalsteuer könnte schon längst beseitigt sein, und die Unternehmen könnten längst die Möglichkeit haben, hier Geld zu sparen, um mehr zu investieren. Aber Sie sind nur dann bereit zu reden, wenn es gar nicht mehr anders geht. Also müssen wir vorangehen. Eine Mehrheit ist gewählt, um zu handeln. Wir handeln, wir tun das, was richtig und vernünftig ist, weil wir unserer Aufgabe und Verantwortung als Mehrheitspartei gerecht werden.
Abschließend möchte ich sagen: Alternativen haben Sie nicht geboten.
Wir müssen vorangehen, die Ziele formulieren und durchsetzen, soweit wir es können. Wir müssen Sie zwingen, da mitzugehen, wo es unausweichlich ist. Es gibt keine Möglichkeit, sich dieser Verantwortung zu entziehen. Für Sie gibt es dann nur noch die politische Alternative, andere Mehrheiten zu suchen - Sie haben für die nächste Legislaturperiode eine Mehrheit zusammen mit den Grünen angekündigt -, das ist Ihr gutes Recht. Die Wirklichkeit in NordrheinWestfalen weist allerdings etwas anderes aus. Die Zukunftssicherung in Nordrhein-Westfalen wird durch diese Koalition beschnitten und nicht verbessert. Außerdem muß man von Ihnen verlangen, daß Sie aus Ehrlichkeit dem Wähler gegenüber eine klare Aussage zu Ihrem Verhältnis zur PDS, der Partei der nationalen Spaltung, machen.
Sie müssen sagen, ob Sie sich von einer Partei abhängig machen wollen, die die Gräben in Deutschland vertieft und nicht zuzudecken versucht.
- Das Beispiel, das Sie in Sachsen-Anhalt geboten haben, ist ja nun wirklich nicht ermutigend. Ich kann Sie nur auffordern: Sagen Sie ein klares Nein zu einer Zusammenarbeit mit dieser Partei! Der Kollege Gysi wird ja jetzt gleich Gelegenheit haben, darauf einzugehen.
Vielen Dank.