Herr Präsident! Meine Damen und Herren! All diese Gesetze tragen einen lügnerischen Titel. Es wird vom Sparen geredet, tatsächlich wird an wirtschaftlicher Kraft, an sozialer Verantwortung gespart. Es wird nicht bei den Unternehmen gespart. Sie sparen an der sozialen Demokratie, und das ist an der falschen Stelle gespart.
Wir reden auch nicht über einzelne Gesetze, sondern über Elemente, über Schritte auf einem langen Weg, von dem Sie sagen, Sie wollten heute Entscheidungen treffen. Ich appelliere an Sie, diese Entscheidungen nicht zu treffen. Ich appelliere an Sie, an Ihr soziales Empfinden, an Ihr Gespür für Gerechtigkeit, an ein Minimum von Anstand.
Die Lohnfortzahlung, die der Gesetzgeber geregelt hat, trifft Menschen, die wir unter keinen Umständen treffen dürfen. Sie trifft langfristig Kranke, sie trifft Behinderte, sie trifft Schwangere. Ich habe hier das Bild eines Mannes, der im Rollstuhl sitzt, 31 Jahre alt ist, der sich mühsam eine Halbtagsstelle besorgt hat, in einem Behindertenprojekt arbeitet, 1 600 DM netto verdient und, weil er im Rollstuhl sitzt und weil er seinen Körper nur eingeschränkt kontrollieren kann, häufig unter Erkältungen, unter Schwierigkeiten mit den Atemwegen und anderem
Rudolf Scharping
leidet. Dieser Mann arbeitet. Er kämpft darum, mit seinen eingeschränkten Möglichkeiten die Anerkennung nicht als Almosen zu bekommen, sondern aus eigener Arbeit. Und jetzt kommt eine Christlich-Demokratische Union und wirft ihn mit diesem Gesetz in die Sozialhilfe zurück, in jenes Netz, von dem Sie behaupten, in ihm würden nur die Faulen und die Drückeberger liegen. Das ist Ihre Politik.
Ich habe hier den Brief einer schwangeren Mutter, die nichts anderes reklamiert als das, was Sie immer gesagt haben: kinderfreundliches Land, Schutz für das Leben, von dem sogar die CSU versprochen hat, es wird geregelt. Ich sage Ihnen: Wie Sie über Menschen, über soziale Verhältnisse reden, verrät nur eines: Sie wissen nicht mehr, wie es den normalen Menschen in diesem Lande geht. Sie ignorieren es und gehen darüber hinweg.
War es nicht Herr Schäuble, der uns allen geschrieben hat, daß es bitter und ganz und gar unverantwortlich ist für das ehrenamtliche, das gemeinsame Engagement - auf das wir alle angewiesen sind -, wenn man nach einem Einsatz bei den Feuerwehren, der daraus entstehenden Grippe, den Krankheiten, am Ende mit 80 Prozent nach Hause geht und, wird es etwas schwerwiegender, möglicherweise mit einem geschmälerten Krankengeld? Freilich, jener Herr Schäuble, der das geschrieben hat, ist der Vorsitzende des Verbandes der Feuerwehren in Deutschland, nicht der Vorsitzende der CDU/CSUFraktion.
Sie wollen den Kündigungsschutz lockern und behaupten, das diene der Beschäftigung. Sie haben dem deutschen Volk gesagt: Beschäftigungsverhältnisse lockern, befristete Arbeitsmöglichkeiten einführen, private Arbeitsvermittlung einführen. Jetzt sagen Sie: Kündigungsschutz lockern. Immer haben Sie behauptet, es diene der Beschäftigung. Nichts hat es geholfen, genauso wenig wie das helfen wird, die wirklichen Probleme des Landes zu lösen.
Sie behaupten, es gebe keine Alternative, jedenfalls sei keine vorgeschlagen worden. Das sagen Sie auch angesichts der Tatsache, daß die Altersgrenze der Frauen in der Rentenversicherung heraufgesetzt werden soll. Ich appelliere erneut an Sie: Sorgen Sie dafür, daß Frauen, die ohne Sozialversicherung arbeiten, endlich die angemessene Sicherheit erhalten, daß die Beiträge für die Rentenversicherung bezahlt werden! Sorgen Sie dafür, daß nicht die Beschäftigungschancen der Jüngeren verschlechtert werden, nur weil Sie glauben, man müsse die sozialen Rechte von Menschen immer weiter schmälern! Das wird Deutschland nicht helfen.
Dann sagen Sie, es gebe ein Angebot zur Kooperation. Darauf kann man nur noch gallig reagieren. Sie haben das Angebot zur Kooperation im Januar ausgeschlagen, Sie haben es im Februar ausgeschlagen, Sie haben es im März ausgeschlagen. Sie haben alle diese Gesetze so zusammengezimmert, daß eine Mitsprache der Sozialdemokratie soweit wie irgend möglich ausgeschlossen wird. Sie wollten nie Kooperation. Deswegen ist es reine Heuchelei, wenn Sie jetzt Kooperation einklagen. Sie wollten sie nie.
Was viel schlimmer ist: In der Zeit, in der Sie Kooperation verweigern und sie hier heuchlerisch neu anbieten, kündigen Sie an, Sie wollten den Weg fortsetzen, Sie wollten ihn verschärfen. Sie kündigen an, daß bei den Beziehern normaler Einkommen Entlastungen nicht möglich seien, wohl aber bei den Millionären. Sie kündigen an, die Familien würden weiter belastet, und die Vermögensbesitzer bekommen von Ihnen Champagner ausgeschenkt. Sie kündigen an, Sie wollten die Rentner stärker zur Kasse bitten. Sie kündigen an, Sie wollten neu und immer tiefer in das Netz zum Schutz gegen die Arbeitslosigkeit einschneiden.
Dies sind alles Diskussionen, die Sie führen. Die Opposition hat Ihnen mehrfach gesagt: Laßt uns gemeinsam den sozialen Frieden bewahren, laßt uns gemeinsam die Arbeitslosigkeit bekämpfen!
Es wird aber nur die Kooperation, zu der Sie von der Verfassung her gezwungen sind, nicht aber die, die aus politischer Einsicht notwendig wäre, stattfinden.
Ich weiß genau, der Appell ist vergeblich. Die Frauen unter Ihnen, die intern protestiert haben, werden nicht die Konsequenzen ziehen, die Ostdeutschen werden nicht die Konsequenzen ziehen, die CDA wird nicht die Konsequenzen ziehen. Aber wir hoffen und wir werden darum kämpfen, daß die Menschen in Deutschland die Konsequenz ziehen, daß endlich Schluß ist mit einer Politik, die den sozialen Zusammenhalt ruiniert.