Rede von
Marina
Steindor
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf Ihre Anspielung bezüglich der rot-grünen Landeshaushalte werde ich hier nicht eingehen;
Sie wissen genau, warum die Länder unter Finanznot leiden. Ich möchte aber als hessische Bundestagsabgeordnete der Grünen an dieser Stelle erklären, daß mich das Abstimmungsverhalten unseres Ministerpräsidenten Eichel in Sachen Festbeträge doch sehr beschämt.
In diesen Tagen, in der Haushaltsdebatte, ist für mich keine Zeit zum Rosinenpicken in einem der Mikrohaushalte dieses Bundeshaushalts. Es ist ein Verwaltungs- und kein Gestaltungshaushalt.
Morgen wollen Sie die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und das Beitragsentlastungsgesetz beschließen. Vor unserer Tür protestieren die Bürger. Man kann als Opposition gar nicht oft genug die Gelegenheit nutzen, um den Standortgesundbetern dieser Regierung die Meinung zu sagen. Das Münchener Ifo-Institut hat ganz klar festgestellt, daß die permanenten Behauptungen von angeblich zu hohen Löhnen und Steuern am Standort Deutschland interessenpolitisch motiviert sind.
Ihre Gesundheitsreform ist heute nachmittag im Bundesrat erneut gescheitert. Aber die Regierungskoalition schreibt schon jetzt weitere Folgen ihres Krankenkassenschrumpfungskrimis.
In den letzten Wochen hat der Gesundheitsminister wieder die übliche Medieninszenierung geboten - diesmal mit Beschimpfungen der Krankenkassen, die angeblich Milliarden verschwenden; zuvor waren es die Krankenhäuser.
Herr Minister, noch im Frühjahr dieses Jahres haben Sie zugegeben, daß überwiegend Politik und Staat an den Finanzierungsproblemen der GKV beteiligt sind und sie selbst verursacht haben, beispielsweise durch die Rentenreform. Daran ist auch die SPD nicht ganz unbeteiligt.
Dieser sozialpolitische Verschiebebahnhof wirkt natürlich weiter, jedes Jahr aufs neue. Mit dem ersten Teil Ihres Krankenkassenschrumpfungsgesetzes, mit dem wir uns morgen befassen, bewirken Sie erneut Mindereinnahmen. Herr Rebscher vom VdAK hat Ihnen das in einer Anhörung des Deutschen Bundestages bis auf den Pfennig genau vorgerechnet.
Auch die Lohnkürzung im Krankheitsfall wird voll auf die Krankenkasseneinnahmen durchschlagen.
Davon können Sie sich nicht exkulpieren. Aber Sie drohen weiter mit Finanzbeschränkungen.
Alle Kassen bestätigen, daß die Festschreibung der Beitragssätze über kurz oder lang in eine ZweiKlassen-Medizin führt. Die Beschränkung der Einnahmen müßte durch Kürzungen auch medizinisch notwendiger Leistungen erkauft werden. Diese ausgegrenzten Leistungen würden aber nicht entfallen, sondern von den Versicherten privat finanziert werden müssen. Das nennen Sie Eigenverantwortung. Eine umfassende medizinische Versorgung stünde bald nur noch den Besserverdienenden zur Verfügung.
Ihre Pläne sind ein Angriff auf die Kernkompetenz der Selbstverwaltung. Herr Minister, Sie verhalten sich nicht mehr wie der Hüter und Bewahrer unseres Solidarsystems. Sie lassen es zu, wenn es im Blindflug gegen die Wand fährt.
In bezug auf Flops der Firma Siemens befinden wir uns hier in diesem Hohen Hause geradezu an einem historischen Ort. Ich erinnere an die Erlebnisse mit der Mikrophonanlage. Dieses Mal mußte Siemens eingestehen, daß man in den beiden größten Rechenzentren der Apotheken die Software nicht in den Griff bekommt. Wie sollen denn die Kassen Überschreitungen des Arzneimittelbudgets feststellen und vor allem Regreß einfordern, wenn sie nicht frühzeitig Informationen über das Verordnungsvolumen der einzelnen Ärzte erhalten?
Es geht jährlich um über 1 Milliarde DM. Anstatt den Kassen bei der Bezahlung einen präventiven Abzug zu gewähren, schont der Minister durch Intervention die Apotheken, Siemens und die Pharmabranche. Sie nehmen es als Gesundheitsminister hin, daß eine der wichtigsten Kostenbremsen der Krankenkassen nicht funktioniert, und geben damit den Apotheken und den Kassenärzten faktisch einen millionenschweren Kredit auf Kosten der Beitragszahler. Ob die Regreßforderungen jemals erfüllt werden, steht offen. Die Kassen wissen nicht, ob das klagemäßig durchzuhalten ist.
Aus Datenschutzgründen muß die gesamte Datenübertragung zwischen KBV und Kassen neu gegliedert und organisiert werden. Das ist gut so, aber das braucht Zeit. In der Summe bedeutet dies, daß die Transparenz- und Wirtschaftlichkeitsprüfungen der Krankenkassen in einem gigantischen Daten-GAU steckenbleiben.
Nie, Herr Minister, hört man auch nur einen Halbsatz der Selbstkritik von Ihnen. Haben Sie sich schon einmal überlegt, daß die 11,6prozentige Zunahme der Aufwendungen für Zahnersatz in den alten Bundesländern eine Schreckreaktion der Bürger, die das nicht richtig verstanden haben, auf Ihr Beitragsentlastungsgesetz sein könnte? Sie treiben die Kassen erst in den Wettbewerb, und dann wundern Sie sich, daß die Kassen Werbemaßnahmen finanzieren und ihren Versicherten nichts mehr abschlagen.
Marin Steindor
Satzungsleistungen jetzt im Wettbewerb kürzen? Als Steuerungsinstrument wirkt Wettbewerb sozial selektiv und polarisierend und ist damit gegen Solidarität gerichtet. Schon jetzt ist von Pleiten und Konzentrationsprozessen bei Krankenkassen die Rede. Der angeblich solidarische Wettbewerb der Krankenkassen bröckelt, der Risikostrukturausgleich wird zunehmend angefeindet. Da stützt die AOK per Umlage zwei schließungsgefährdete Landesverbände.
Sie wollen mit Ihrer Politik die Kassen morgen und in der Zukunft zur Leistungsausgrenzung zwingen, ihnen damit den Schwarzen Peter zuschieben und sich aus der Verantwortung stehlen. Bei Ihren Vorschlägen schwanken Sie zwischen Staatsdirigismus und angeblich intelligenteren Lösungen, der Möglichkeit zum sofortigen Austritt nach Beitragssatzerhöhung oder der Anbindung von Beitragserhöhungen an Zuzahlungen. Die F.D.P. will das Sachleistungsprinzip abschaffen und Elemente der privaten Krankenversicherung einführen. Das ist ein Horrorkabinett und kein Reformkonzept.
Unsere europäischen Nachbarn, die private Krankenversicherungen haben, haben Finanzprobleme. Dort werden Elemente der solidarischen Krankenversicherung eingeführt. Die Niederlande haben mittlerweile gegen die Risikoselektion eine Versicherungspflicht und den Kontrahierungszwang eingeführt, und die Schweiz hat Kopfpauschalen neben den individualrisikoorientierten Beiträgen eingeführt. So falsch kann unser System nicht sein.
Sie aber erodieren und denunzieren das Gesundheitssystem als rein konsumtiven Sektor. Sie würdigen die Zahl der Arbeitsplätze und die Wirtschaftskraft nicht ausreichend. Es geht hier um rund ein Viertel unseres Bruttosozialproduktes. Sie demontieren mit Ihrer Politik Arbeitsplätze und erodieren einen bewährten Gesellschaftsvertrag. Sie wollen eine sozialethische Wende und ein neues Krankenversicherungssystem jenseits von Bedarf und Solidarität - ein Weg in die Unterversorgung breiter Bevölkerungskreise.
Meine Damen und Herren, die Wochenzeitschrift „Die Woche" enthält in ihrer heutigen Ausgabe viele Artikel zur Gesundheitspolitik, in denen sich unter anderem ein Zitat aus Unionskreisen im Zusammenhang mit der Standortdebatte findet: „Seehofer soll das Sparschwein machen. " Manche Sparschweine haben ein Türchen mit Schlüssel und bleiben bei Leerung intakt. Bei Ihrer Politik habe ich aber den Eindruck, daß Sie das Krankenkassensparschwein mit dem Standorthammer endgültig zerschlagen wollen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Regierungskoalition und die sie tragenden Fraktionen im Deutschen Bundestag sich politisch in ihrem Verhalten doch recht nah den wilden Verwandten dieses Porzellantierchens annähern, die die zarten Reformpflänzchen und -modelle im Gesundheitssystemgarten recht roh zertrampeln.
Die Ausweitung des Versichertenkreises und ein fürsorgliches Reform-Gewächshaus in Form eines
Globalbudgets wären statt dessen das bessere Rezept, um die finanziellen Reserven zu erschließen.