Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß nicht Zukunftsforscherin sein, um absehen zu können, daß der Sparschuß der Koalition nach hinten losgehen wird. Folgsam beteiligen Sie sich, Frau Ministerin Nolte, am Spargebaren der Bundesregierung. Sicher gab es dafür herrschaftliches Lob vom Kanzler oder auch vom Finanzminister. Nicht nur, daß Sie sich im Einzelplan 17 auf den durchschnittlichen Ausgabenrückgang von 2,5 Prozent einstellen, wie es der Bundeshaushalt vorsieht. Nein, Sie kürzen gleich um 6,4 Prozent, im Jugendplan sogar gleich um 11,7 Prozent. Ich hatte geglaubt, Planerfüllung sei kein Maßstab für Erfolg mehr.
Wir sprechen also im Familienetat von 70 Millionen DM, die weniger zur Verfügung stehen sollen. Betroffen sind vor allem jene Bereiche, wo schon jetzt Bedarf und Mittelausstattung weit auseinanderklaffen: gravierende Kürzungen im Kinder- und Jugendplan, in der Frauenförderung, bei Maßnahmen zur
Rosel Neuhäuser
Förderung der Selbsthilfe, bei Zuschüssen für Einrichtungen für Behinderte, bei Maßnahmen der Familienpolitik.
Frau Ministerin, können Sie sich noch an Ihr Statement zur Kinderfreundlichkeit erinnern? Sie haben es im wesentlichen ja wiederholt. Ich zitiere:
Kinderfreundlichkeit hat nichts mit Lobbyismus zu tun, sondern ist vor allem ein Synonym für die Menschlichkeit einer Gesellschaft. Die Zukunft der Kinder muß Maßstab unserer Politik sein.
Ich frage mich nur, an welchen Stellen diese Ihre Überzeugungen politisch zum Tragen kommen sollen. Im Haushalt Ihres Ministeriums, der Ihren Handlungsspielraum definiert, offensichtlich nicht.
Mit der durch Ludwig Erhard, der in den letzten Tagen sehr oft strapaziert wurde, damals begründeten Wirtschaftspolitik lebten viele Menschen in der Bundesrepublik in dem Bewußtsein, daß es stetig vorangeht und daß es ihnen immer besser gehen wird. Nun müssen sie täglich die Erfahrung machen, daß das so nicht funktioniert, daß die Gesellschaft insgesamt zwar immer reicher wird, aber immer weniger Menschen dafür gebraucht werden und auch immer weniger Menschen an diesem Reichtum teilhaben.
Sind die Folgen für Erwachsene schon schlimm genug, so sind sie für Kinder und Jugendliche noch eklatanter. Das zeigen die Zahlen, die heute in der Presse nachzulesen sind und die auf einer Tagung des Kinderschutzzentrums in Köln genannt wurden: 2,2 Millionen Kinder gelten als arm.
An der Schwelle des neuen Ausbildungsjahrs fehlen Tausende von Lehrstellen. Sie, meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, haben nach wie vor kein schlüssiges Konzept. Sie begnügen sich mit allgemeinen Appellen an die Wirtschaft und mit diversen Feuerwehrprogrammen und mißbrauchen diese Misere, um Ihre Forderungen nach kürzeren Ausbildungszeiten und geringeren Lehrlingsentgelten zu begründen. Das ist Ihre Jugendpolitik,
Ihre Versprechungen und viele leere Worte erschüttern zunehmend das Vertrauen vieler Menschen, besonders junger Menschen, in das politische System. Immer häufiger werden Politik und Demokratie in Zweifel gestellt, wird ihre Glaubwürdigkeit mit allem Nachdruck hinterfragt. Gerade am Beispiel der Kinder- und Jugendpolitik wird deutlich, mit welcher Ernsthaftigkeit Sie sich Ihren gesetzlich verankerten Verpflichtungen stellen. So verweigern Sie verfassungswidrig und entgegen beschlossenen Gesetzen eine Erhöhung des Kindergeldes und des steuerfreien Existenzminimums. Was hat das noch mit Kinder- und Familienfreundlichkeit zu tun?
Jahr für Jahr ziehen Sie sich zunehmend aus Ihrer Verantwortung zurück und übertragen immer mehr Aufgaben auf Länder und Kommunen. Sie wissen ganz genau, daß die meisten Kommunen längst am Ende der Fahnenstange angekommen sind, daß zum Beispiel Kontinuität und Sicherheit für längerfristige Projekte der Kinder- und Jugendarbeit längst eine Illusion sind. Trotzdem wird dem Rotstift von Herrn
Waigel absolute Aktionsfreiheit gewährt. Oder sollte man dazu vielleicht „Narrenfreiheit" sagen?
Sorgen Sie endlich dafür, daß der Kinder- und Jugendbereich für Einsparungen und Kürzungen eine Tabuzone ist! Neue Wege in der Förderung und Finanzierung von Kinder- und Jugendarbeit können letztlich nur im Spannungsfeld von Konstruktivität, Forderung und Protest entwickelt und verwirklicht werden. Wir brauchen zum Beispiel die Aufstockung der Jugendförderungstöpfe mit Langzeitcharakter, Probier- und Experimentiertöpfe für Jugendliche, gerechte Verteilungsmodalitäten für die Finanzierung freier und öffentlicher Träger, mehr Beweglichkeit in den Finanz- und Verwaltungsstrukturen.
Lassen Sie mich kurz noch ein Wort zu den geplanten Kürzungen bei den AB-Maßnahmen in den neuen Bundesländern sagen. In Ostdeutschland erfolgte bisher eine verdeckte Ausfallfinanzierung für die soziale, kulturelle und sportliche Infrastruktur über ABM. Über 30 000 ABM-Kräfte und über 20 000 Beschäftigte in Maßnahmen nach § 249h sind derzeit in sozialen Diensten und in der Jugendhilfe in den neuen Ländern tätig. Die Situation, die beim Wegbrechen dieser Maßnahmen entsteht, ist mit dem Begriff Katastrophe noch sehr freundlich umschrieben.
Wir fordern deshalb die Einrichtung eines Bundesfonds „Bezuschussung soziokultureller Regelaufgaben in ostdeutschen Kommunen" , wie sie vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband vorgeschlagen wurde. Das heißt: Regelfinanzierung statt ABM.
Ich wiederhole, was wir im vergangenen Jahr schon einmal nachdrücklich als Forderung gestellt haben: Wir fordern die Aufhebung der Jährlichkeit bei der Finanzierung im Kinder- und Jugendbereich, die Einführung eigener, unbefristeter Haushaltstitel als Verbundfinanzierung und den Übergang von Formen der Arbeitsförderung zu einer Regelfinanzierung und kontinuierlichen Fachkraftförderung.
Danke.