Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Frau Nolte, hätten Sie eigentlich dieses Ergebnis erwartet? Rund zwei Drittel der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger sind unzufrieden mit dem Stand der Gleichberechtigung. Was machen Sie nun, Frau Nolte, die Sie dieses Ergebnis zur Kenntnis genommen und die Sie diese Studie selbst vor einigen Tagen veröffentlicht haben? Sie wollen tatsächlich für Maßnahmen der Gleichberechtigung und für die Frauen im Haushalt 1997 ganze zwei Promille Ihres gesamten Haushalts einsetzen. In Ihrem „Haus der Generationen" ist offensichtlich für die Frauen kein Platz.
Auch die Familienpolitik, die in Ihrem Hause stattfindet, richtet sich insbesondere gegen die Frauen. Frau Hanewinckel hat gerade schon darauf hingewiesen: Seit zehn Jahren haben Sie die Einkommensgrenzen für das Erziehungsgeld nicht angepaßt. Das führt dazu, daß Mütter immer weniger Erziehungsgeld bekommen. So sparen Sie in jedem Jahr mehrere hundert Millionen DM; in diesem Jahr sind es 400 Millionen DM.
Herr Jacoby, ich habe den Eindruck, Sie haben dieses System nicht verstanden. Diese 400 Millionen DM werden weniger ausgegeben; Sie sparen sie zu Lasten der Frauen ein.
Bei den Männern sind Sie allerdings weniger knauserig, im Gegenteil: Da wird sogar subventioniert. 830 Millionen DM strecken Sie im nächsten Jahr für Väter vor, die den Kindesunterhalt nicht zahlen wollen oder ihn nicht zahlen können. Das sind 50 Millionen DM mehr als im Vorjahr. Und bemerkenswert großzügig zeigen Sie sich trotz leerer Kassen, wenn es um die Rückzahlung dieser Forderungen geht. Nahezu ein Drittel der zahlungsfähigen Väter kann sich erfolgreich vor dem Zahlen drücken. Das macht weit über 200 Millionen DM aus, die Sie den Vätern einfach erlassen. Ich finde, das ist ein gigantisches Männersubventionsprogramm, dem wir ganz schnell ein Ende setzen sollten.
Es ist doch nicht zu fassen, daß jedes Parkvergehen verfolgt wird, während sich Väter durch einen einfachen Umzug ihrer Unterhaltspflichten entledigen können.
Es ist ein Trauerspiel, was „Vater" Staat für die Kinder übrig hat. Ihr Vorhaben, die beschlossene
Irmingard Schewe-Gerigk
Kindergelderhöhung 1997 nicht durchzuführen, ist ein offener Verfassungsbruch.
Was ist von einer Regierung zu halten, die Familienpolitik als Schönwetterpolitik betreibt und den Familien und Kindern noch nicht einmal das Existenzminimum sichert?
Was ist von einer Regierung zu halten, die in Kauf nimmt, daß für viele Familien - wie die Wohlfahrtsverbände es unlängst belegt haben - bereits mit dem zweiten Kind der soziale Abstieg beginnt?
Was ist von einer Regierung zu halten, die ihre Politik auf Kosten der nächsten Generation macht? Im Jahre 1996 kommt jedes Neugeborene mit einem öffentlichen Schuldenberg von bereits 25 000 DM auf die Welt.
Der Kanzler bezeichnet die Familienpolitik gern als eine der wichtigsten Aufgaben. Daß er und sein Kabinett dieser Aufgabe nicht gerecht werden, kritisiert nicht nur die Opposition, zu deren Aufgaben das gehört, sondern auch alle Familienverbände. Das gipfelt darin, daß einige CDU-Parlamentarier sogar erwägen, eine eigene Familienpolizei
- Entschuldigung, eine eigene „Familienpartei" zu gründen, weil sie unzufrieden sind mit dem, was Sie machen.
Zurück zu den Frauen. Frau Nolte, die Frauen der Republik sind maßlos enttäuscht von Ihnen. Sie verschweigen beharrlich, wie sehr das Sparpaket vor allen Dingen Frauen belastet. In Ihrer Rede haben Sie gerade noch mal darauf hingewiesen: Sie verteidigen dieses Sparpaket.
Wissen Sie nicht, daß Frauen meist in kleineren und mittleren Unternehmen arbeiten, daß die Lockerung des Kündigungsschutzes für 4,8 Millionen Frauen bedeutet, daß sie ohne Kündigungsschutz dastehen, daß sie jederzeit gefeuert werden können?
Wissen Sie nicht, daß bei der Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall die Krankheit für Frauen zu einem Luxusgut wird, das sie sich nicht mehr leisten können? Denn fast die Hälfte der erwerbstätigen Frauen hatte 1994 ein Nettoeinkommen, das unterhalb des Existenzminimums lag. Wenn Sie das noch um 20 Prozent kürzen wollen, ist das eine soziale Ungeheuerlichkeit.
Minister Blüm schlägt vor, man könne sich dafür doch die Urlaubstage anrechnen lassen. Frau Nolte, warum sagen Sie Ihrem Kollegen eigentlich nicht, wie viele Frauen ihren Urlaub opfern, um die Ferienzeit der Kindergärten zu überbrücken? Sind Ihnen die Probleme, insbesondere der Alleinerziehenden, wirklich nicht bekannt?
Wissen Sie auch nicht, daß Frauen besonders von der Kürzung des Krankengeldes auf jetzt 70 Prozent betroffen sind, weil es nicht nur um Ihre eigene Krankheit geht, sondern auch um die der Kinder? Die Frauen sind es, die zu Hause bleiben, wenn die Kinder krank sind.
Welchen Sinn es für Frauen macht, das Renteneintrittsalter vorzeitig auf 65 Jahre anzuheben, bleibt Ihr Geheimnis. Die Arbeitsmarktsituation rechtfertigt es keineswegs, daß ältere Frauen fünf Jahre länger arbeiten und junge Menschen überhaupt nicht in den Erwerbsprozeß hineinkommen.
Die Anhebung des Renteneintrittsalters um fünf Jahre bedeutet für die Frauen eine faktische Rentenkürzung um 18 Prozent. Bei einer Durchschnittsrente von weniger als 800 DM - und das nach 45 Jahren Erwerbstätigkeit -
reduziert sich die Rente damit auf 656 DM. Das ist wohlgemerkt eine Durchschnittsrente. Das ist zuwenig zum Leben und zuviel zum Sterben.
Eine besonders schmerzliche Erfahrung, Frau Nolte, machen derzeit die Frauen im Osten, mit deren Problemen die Bundesregierung offensichtlich nichts zu tun haben will. Die Kürzung der ABM-Stellen, die zu 65 Prozent von Frauen besetzt sind, stellt die materielle Existenz vieler Frauen in Frage.
An wen sollen sich diese Frauen wenden, wenn noch nicht mal an eine Frauenministerin, die aus dem Osten kommt und ihre Probleme kennt? Nicht nur, daß die ohnehin schon hohe Arbeitslosigkeit zusätzlich verstärkt wird - auch werden Einrichtungen wie Frauenhäuser, Altenclubs, Jugendzentren ohne diese Stellen künftig nicht mehr existieren können. Sie werden von Schließung bedroht sein.
Frau Nolte, ich frage Sie allen Ernstes: Wo waren Sie, als diese Maßnahmen im Kabinett beschlossen wurden? Warum haben Sie sich versteckt? Ich will es einfach nicht glauben, daß Sie sich als Ministerin darauf reduzieren lassen, wissenschaftliche Studien zu vergeben, deren Ergebnisse Sie dann doch nicht umsetzen. Ich nenne da beispielhaft den Familienbericht oder auch den Jugendbericht, die Untersuchung zur Gewalt gegen ältere Menschen oder die Studie zur sozialen und rechtlichen Diskriminierung von Prostituierten.
All diesen Studien ist eines gemein: Sie beschreiben treffend die Situation, zeigen Wege zur Lösung des Problems auf und verschwinden dann als Hochglanzbroschüre in den Schubladen der Ministerien. Frau Nolte, diese Politik haben die Frauen nicht verdient. Nehmen Sie Ihre Verantwortung, die Sie über-
Irmingard Schewe-Gerigk
nommen haben, endlich ernst! Handeln Sie, und kämpfen Sie gegen frauenfeindliche Beschlüsse!