Rede von
Dr.
Ludwig
Elm
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(PDS)
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine solide Berufsausbildung ist das größte Kapital unserer Jugend. In der Politik der Bundesregierung und in der aktuellen Lehrstellensituation ist diese gelegentlich vom Bundeskanzler geäußerte und durchaus zustimmungsfähige Einsicht kaum wiederzuerkennen.
Wer die Meldungen in den vergangenen Monaten aufmerksam verfolgt hat, konnte feststellen, daß sich die Lage der Jugendlichen auf Lehrstellensuche im Vergleich zum Vorjahr noch dramatischer gestaltet hat. Aus diesem Grund wurde sie in den vergangenen beiden Tagen bereits wiederholt angesprochen.
Nach der Schnellauswertung der Bundesanstalt für Arbeit vom 1. September ist noch von 117 000 Jugendlichen ohne Lehrstelle die Rede. Der Zukunftsminister rechnete dieses Defizit in der Kanzlerrunde auf 20 000 herunter. Der Finanzminister sagte vor zwei Tagen, das Problem sei gelöst. Das sei ein „Gütesiegel" für den Standort Deutschland. Tatsächlich reduzierte sich die Zahl der den Arbeitsämtern gemeldeten Lehrstellen gegenüber dem Vorjahr um 4,7 Prozent.
Die dramatische Situation auf dem Lehrstellenmarkt hat sich nicht über Nacht, sondern seit Jahren ergeben. Sie kann durch noch so eifrigen Aktionismus von Arbeitsämtern, durch Anstrengungen des Handwerks, durch engagierte Drohgebärden des Kanzlers, durch Appelle an die Wirtschaft und kurzatmige Notprogramme nicht kompensiert werden.
Hier sind Neuansätze in der Politik notwendig, wie beispielsweise die vom DGB vorgeschlagene Umlagefinanzierung oder das von uns seit Jahren geforderte mittelfristige Gemeinschaftsprogramm zur Schaffung von 100 000 zusätzlichen Ausbildungsplätzen in Ostdeutschland.
Es gehen uns viele Schreiben von Jugendlichen zu, die auf der Suche nach einer Lehrstelle eine Enttäuschung erleben. Ich nehme einen Brief von einem, der glaubte, Erfolg zu haben. Er erhielt eine neue Absage im Zusammenhang mit aktuellen Haushaltsstreichungen. Wörtlich schreibt dieser junge Mann:
Wie glaubwürdig ist die Politik dieses Landes, wenn man uns jungen Menschen sagt, daß in den neuen Bundesländern bis Ende September allen ein Ausbildungsplatz zur Verfügung stehen wird? Sollen wir denn wirklich mit unseren 20 Jahren für den Rest unseres Lebens in die Sozialhilfe gedrückt werden? Welche Zukunft gibt es in diesem Land überhaupt? Sind wir der Abfall der Einigungsgeschichte? Was sollen wir eigentlich noch hier?
Das sind Fragen an uns und unsere Beschlüsse, an die Regierung, den Kanzler und den Zukunftsminister.
Die Studierenden haben Anlaß, ähnliche Fragen zu stellen. Zu den haarsträubendsten Begebenheiten der letzten Wochen und Monate gehört die rückwirkende Anrechnung von Auslandsstudienaufenthalten auf die Förderhöchstdauer des BAföG. Es gibt inzwischen eine Reihe von Studentinnen und Studenten, die zur Kenntnis nehmen mußten, daß die Förderhöchstdauer abgelaufen ist und daß sie auf Grund ihres Auslandsstudienaufenthaltes keinen Anspruch auf eine weitere Förderung haben, daß sie nunmehr bestenfalls über ein verzinsliches Bankdarlehen ihre weiteren Semester zu finanzieren haben. Die notwendigen Voraussetzungen selbst dafür sind noch nicht einmal geschaffen. Für manchen Studenten, für manche Studentin ist das eine katastrophale Situation inmitten eines intensiven Arbeits- und Studienprozesses, vielfach in einer fortgeschrittenen Phase.
Nicht minder kontraproduktiv ist die Beseitigung der Rentenversicherungsfreiheit von Studierenden, die auf einen Zusatzverdienst angewiesen sind. Das trifft ausländische Studierende besonders hart. Ich verweise darauf, daß der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz uns in einem Schreiben sehr nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht hat, daß diese Regelung ganz entschieden allen Versicherungen der Politiker widerspricht, wonach endlich die Bedingungen, die Atmosphäre, die Regelungen für Auslandsstudenten in Deutschland verbessert werden sollten. Er hat geschrieben, daß das ein Hohn sei, der dazu beitragen werde, die Abnahme der Attraktivität für Ausländerinnen und Ausländer fortzusetzen.
Das sind einige Beispiele, bei denen den schönen Worten von der zukunftsbestimmenden und dementsprechend zu fördernden Wissensgesellschaft, von Internationalisierung und Globalisierung, von strategischer Orientierung, von großen Reformprojekten und Innovationen schlicht unsoziale und altem Denken verhaftete bildungspolitische Taten der Regierung und der Koalition auf dem Fuße folgen.
Verallgemeinernd läßt sich als ein Charakteristikum der Bildungs-, Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiepolitik der Bundesregierung und auch dieses Haushaltsentwurfes der Widerspruch zwischen Worten und Taten, zwischen Absichtserklärungen und praktischer Umsetzung feststellen.
Alle im Bundestag vertretenen Parteien halten die Zeit für grundlegende Reformen in Bildung, Wissenschaft und Forschung für gekommen. Der Regierung bzw. der Koalition bleibt es jedoch vorbehalten, Kürzungen im Haushalt, besonders bei der Projektförderung und hier besonders drastisch in der Umweltforschung, oder das grundgesetzwidrige Abdriften vom
Dr. Ludwig Elm
Sozialstaatsprinzip bei der Studienfinanzierung als weitsichtige Reformprojekte verkaufen zu wollen.
Auch für die Forschungspolitik der Kaolition ist der Widerspruch zwischen qualitativen Zielstellungen und Absichtserklärungen der Bundesregierung, wie sie etwa in den „Leitlinien zur strategischen Orientierung der deutschen Forschungslandschaft" vom Juli dieses Jahres enthalten sind, und der nochmaligen deutlichen Kürzung des Haushalts dieses Ministeriums um nunmehr 4,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr charakteristisch. Besonders alarmierend erscheint uns auch, daß die für den notwendigen ökologischen Umbau wichtigen Förderbereiche wie Ökologie und Umwelttechnologie, erneuerbare Energien oder das Programm „Beschäftigung durch Innovation" überproportional gekürzt werden, während gleichzeitig an teuren und gefährlichen Projekten wie am Atomreaktor FRM II, am Transrapid und überhaupt an fragwürdigen Prestigegroßprojekten festgehalten wird.
Die allgemeine mittelstandsbezogene Innovationsförderung stagniert. Und obwohl inzwischen von der Industrieforschung Ost im Vergleich zu 1990 nur weniger als ein Sechstel übriggeblieben ist, laufen wichtige Förderprogramme des Ministeriums aus oder werden um 50 und mehr Prozent zusammengestrichen, darunter die indirekte Förderung des FuE-Personals in der Wirtschaft und in der Auftragsforschung, beim Auf- und Ausbau von Technologie- und Gründerzentren in den neuen Bundesländern.