Rede von
Leyla
Onur
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 7. September 1995 hat der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Herr Dr. Norbert Blüm, vor diesem Hause erklärt:
Ich habe weder heute noch in Zukunft Lust und Spaß an einer großen sozialpolitischen Hackerei. Wir sollten nämlich bei all unseren Diskussionen nicht vergessen, daß von unseren sozialpolitischen Entscheidungen Millionen von Menschen betroffen sind.
Ich habe vor einem Jahr und fünf Tagen geglaubt, daß der Bundesminister für Arbeit und Soziales ehrlich meint, was er sagt, obwohl er schon seit Jahren für Sozialabbau und dramatisch steigende Arbeitslosigkeit mitverantwortlich war.
Spätestens seit dem 24. März weiß ich, daß das Wort eines Bundesministers nichts gilt.
Denn diese Bundesregierung und Herr Blüm als zuständiger Minister sind die Erfinder der größten sozialpolitischen Hackerei, die es je in der Bundesrepublik gegeben hat.
Ich bin mir nicht mehr sicher, meine Damen und Herren, ob Sie, Herr Bundesminister, vielleicht auch Sie, Herr Laumann, und Sie, die Kolleginnen und Kollegen von der sogenannten Kanzlermehrheit,
nicht doch Lust und Spaß dabei empfinden, wenn Sie morgen einem Teil Ihres Horrorpaketes zustimmen werden.
Nur wer Lust und Spaß an sozialpolitischen Grausamkeiten empfindet, kann zustimmen, daß ab Dezember 2004 alle Frauen bis zum 65. Lebensjahr arbeiten müssen. Heute 52jährige Frauen stehen, falls sie nicht schon arbeitslos sind, vor der bitteren Entscheidung, bis zum 65. Lebensjahr weiter zu arbeiten, während ihre Enkelkinder auf der Straße stehen, oder 18 Prozent Rentenabzug für die gesamte Rentenlaufzeit in Kauf zu nehmen. Die Mehrzahl der Frauen wird sich nicht für ihre Enkelkinder entscheiden können, auch wenn sie es wollten, weil ihre Rente, um 18 Prozent gekürzt, nicht mehr ausreicht. Die Frauen müßten, um leben zu können, zum Sozialamt gehen.
Schon heute leben unzählige Frauen, die ihr Leben lang schwer geschuftet haben, von Minirenten. Sie schämen und scheuen sich, Sozialhilfe zu beantragen, weil sie ihren Kindern nicht zur Last fallen wollen.
Ich frage Sie, Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der F.D.P.: Wollen Sie mit Ihrer Entscheidung noch mehr Frauen in Gewissenskonflikte und Armut treiben? Noch haben Sie die Möglichkeit, einen anderen Weg zu gehen, indem Sie zum Beispiel unserem Gesetzentwurf zur Beseitigung des Mißbrauchs der Geringfügigkeitsgrenze in der Sozialversicherung zustimmen.
Unser Vorschlag bringt Geld in die Sozialversicherungskassen und trägt dazu bei, die Altersarmut von Frauen zu mildern.
- Aber natürlich, Frau Babel.
Sagen Sie nein zur Anhebung der Altersgrenze und sagen Sie ja zu unserem Gesetz! Dann tun Sie etwas Gutes.
Meine Damen und Herren, gestern hat der Bundeskanzler die Verschlechterung des Kündigungsschutzes verteidigt. Er hat natürlich nicht gesagt, daß die Verschlechterung des Kündigungsschutzes dazu
Leyla Onur
führen wird, daß Millionen von Menschen problemlos betriebsbedingt gekündigt werden können.
Sekretärinnen, Verkäuferinnen, Arzthelferinnen etc. werden zum Heuern und Feuern freigegeben.
Diese Fakten hat uns der Bundeskanzler gestern verschwiegen. Er hat diesem Hause vorgegaukelt, daß durch die Erleichterung, wie er sagt, des Kündigungsschutzes sofort 80 000 zusätzliche Arbeitsplätze im Handwerk geschaffen würden.
Diese Zahl sollen ihm Handwerksmeister zugesagt haben.
Ich frage mich: Ist der Bundeskanzler so realitätsfern,
oder tut er nur so? Weiß der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland wirklich nicht, daß die kleinen und mittleren Betriebe zu einem Großteil von öffentlichen Aufträgen leben?
Zwei Drittel der öffentlichen Investitionen werden von den Kommunen getätigt.
Diese Investitionen sind ein wichtiger Beitrag zum Erhalt und zur Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Die Kommunen können aber nicht mehr investieren, weil sie durch diese Bundesregierung und Ihre Mitentscheidung in diesem Hause systematisch in den Ruin getrieben werden.
Meine Damen und Herren, gleichzeitig stehen die Kommunen vor der größten Aufgabe der Nachkriegszeit. Sie müssen die schlechte Wirtschaftslage verkraften, für einen Teil der deutschen Einheit bezahlen und die wirtschaftlich und sozial unsinnigen, aber dafür kostentreibenden Gesetze dieser Bundesregierung ausführen. Städte, Gemeinden und Landkreise stehen deshalb vor dem Finanzkollaps.
Damit Sie begreifen, um was es geht, will ich Ihnen kurz die finanzielle Situation meiner Heimatstadt Braunschweig schildern. 1996 haben wir rund 968 Millionen DM Einnahmen und 1,07 Milliarden DM Ausgaben, das heißt eine Finanzlücke von 100 Millionen DM. Da haben aber nicht Stadtväter und Stadtmütter unwirtschaftlich gehandelt. Sie haben nicht die guten Gaben per Füllhorn ausgeschüttet. Nein, 188 Millionen DM wurden seit 1991 für die deutsche Einheit ausgegeben. Gern haben wir diese Leistung erbracht. 30 Millionen DM weniger Steuern wurden wegen der schlechten Wirtschaftslage eingenommen. Die Sozialhilfekosten sind dramatisch auf über 100 Millionen DM angestiegen. Zum Vergleich: 1980 waren es 28 Millionen DM.
In Braunschweig sind infolge Ihrer Politik inzwischen 13,6 Prozent der Menschen arbeitslos. Immer mehr Arbeitslose und ihre Familien werden zu Sozialhilfeempfängern. Im Haushalt 1996 betragen die Sozialhilfeausgaben wegen Arbeitslosigkeit - ich wiederhole: wegen Arbeitslosigkeit - über 40 Millionen DM, Tendenz: steigend. Allein durch Ihr Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz - da geht es um 3 Prozent weniger Arbeitslosenhilfe pro Jahr für die Arbeitslosenhilfeempfänger - muß allein Braunschweig 1996 810 000 DM mehr aufbringen. 1997 sind es 3 Millionen DM, und 1998 werden es 6,2 Millionen DM sein, die wir mehr an Sozialhilfeleistungen erbringen müssen.
Aber das ist nach Ihren Vorstellungen längst nicht genug. Sie wollen auch noch die originäre Arbeitslosenhilfe abschaffen und Tausende von jüngeren Menschen direkt zum Sozialamt schicken.
Das ist nicht nur ökonomisch unsinnig, sondern auch zutiefst unanständig.
Meine Damen und Herren, wenn Sie so weitermachen, treiben Sie noch mehr kleine und mittlere Betriebe in den Konkurs, und noch mehr Menschen werden arbeitslos.
Begreifen Sie doch endlich: Wer die kommunale Selbstverwaltung ruiniert, wer die Kommunen an den Bettelstab bringt,
der gefährdet tatsächlich den Standort Deutschland.
Deshalb sage ich Ihnen: Schluß mit der sozialpolitischen Hackerei! Schluß mit der Aufgabenverteilung auf die kommunale Ebene ohne finanziellen Ersatz!
Wir sollten gemeinsam dafür sorgen, daß die Sozialhilfe von systemfremden Umlagen entlastet wird, daß Arbeit statt Arbeitslosigkeit gefördert wird, daß auch die Möglichkeiten für eine kommunale Arbeitsmarktpolitik erweitert werden,
daß es keine Streichungen und Kürzungen bei Gemeindesteuern ohne volle, auf Dauer gesicherte Kompensation gibt -