Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bemühe mich, nach der Rede des Herrn Außenministers zu erkennen, was Inhalt, Ziel, Konzeption und Schwerpunkt der deutschen Außenpolitik ist. Wenn Ihre Außenpolitik so ist wie Ihre Rede, dann kann ich die Frage beantworten: ohne roten Faden,
ohne erkennbaren Schwerpunkt, ohne einen zusammenfassenden Gedanken und vor allen Dingen ohne
Günter Verheugen
einen Hinweis darauf, wie eigentlich der deutsche Beitrag zur Lösung der verschiedenen Probleme,
die Sie angesprochen haben - manche nur ein bißchen angetippt, manche nur angedeutet, manche ein bißchen ausgeführt - aussieht.
Ein gemeinsamer Freund von uns, einer der erf ah-rensten Beobachter der deutschen Außenpolitik, der Chefredakteur der „Neuen Ruhr-Zeitung", Richard Kiessler, hat vor ein paar Tagen im Deutschlandfunk einen Kommentar zum Zustand der deutschen Außenpolitik unter der Überschrift „Unbesonnen, sprunghaft und verkrampft - die Desorientierung der deutschen Außenpolitik" gesprochen. Es lohnt sich, diesen Kommentar zu lesen.
Ich frage mich: Wie kann ein solch erstaunlicher Unterschied in der Wahrnehmung zwischen dem, was Sie und der Bundeskanzler hier vorgetragen haben, und dem, was objektive Beobachter von außen sehen, zustande kommen?
Die deutsche Außenpolitik ist nicht in einem so schönen Zustand, wie Sie es hier dargestellt haben. Die Wirklichkeit ist, daß Sie gegenüber großen und schwierigen Problemen, mit denen unsere Außenpolitik konfrontiert ist, schlicht und einfach versagen, weil Sie keine Antwort kennen.
Der Prozeß der Rollenfindung der deutschen Außenpolitik seit 1990 - das muß man heute feststellen - ist keineswegs abgeschlossen. Ich will gerne einräumen, daß wir alle zusammen dazu beigetragen haben, daß das so ist, weil wir Jahre mit einer Debatte über einen einzigen Teilaspekt verbraucht haben, weil wir uns immer wieder in einer einzigen Frage verhakt haben, nämlich der, inwieweit ein Streitkräfteeinsatz als ein Mittel der Außenpolitik legitim und manchmal sogar richtig sein kann.
- Ach, lieber Herr Irmer, ich will das alles nicht noch einmal aufgreifen. Die Chancen, die es gegeben hätte, sich zu einigen - ich erinnere Sie an die Verfassungskommission und an wem und woran es gescheitert ist -, haben wir nicht genutzt. Es hilft nichts mehr. Wir haben Jahre versäumt. Das Ergebnis ist, daß wir heute in wichtigsten Fragen Handlungs- und Klärungsbedarf haben.
Ich will ein paar nennen. Der Bundeskanzler und der Außenminister haben die NATO-Osterweiterung angesprochen. Der Bundeskanzler hat zwei Prinzipien genannt: kein Veto von irgendwem, aber auch keine neuen Gräben in Europa. Man würde aber gerne wissen, wie das geschehen soll.
Lassen Sie mich zunächst einmal sagen: Aus deutscher Sicht ist die NATO-Osterweiterung natürlich eine historische Entwicklung, die man sich einmal bewußt machen muß, wenn man sich überlegt, ein wie kunstvolles Gebäude von Verträgen, Rückversicherungsverträgen, Bismarck aufbauen mußte, um
einen Zustand zu erreichen, in dem Deutschland rundum sicher war oder, wie wir heute wissen, sicher schien.
Wir werden jetzt einen Zustand erreichen, in dem Deutschland rundherum von Bündnispartnern und Freunden umgeben ist. Aus der deutschen Sicht kann das nur als ein großer politischer Gewinn betrachtet werden.
Es geht aber nicht nur um die deutsche Sicht. Was für mich und meine Fraktion in dieser Frage vor allen Dingen maßgeblich ist, ist die Beurteilung der Situation Polens. Wenn Polen seine Sicherheit - sagen wir es doch offen, vor wem: vor Rußland, aber auch vor Deutschland - in einem Bündnis mit Deutschland sucht, in einem Bündnis, dem Deutschland und Polen gemeinsam angehören werden, dann ist es für die deutsche Politik nicht möglich, dem zu widersprechen.
Vor allen Dingen ist es nicht möglich, mit Rußland
- etwa über Polen hinweg - Vereinbarungen zu treffen, die die polnische Sicherheit berühren würden. Ich denke, darin stimmen wir überein.
- Ich sage ja, darin stimmen wir überein.
Aber es bleiben ein paar Fragen offen. Wenn wir darin übereinstimmen, daß die NATO Osterweiterung
in bezug auf Polen für uns aus historischen Gründen überhaupt nicht bestreitbar ist, dann stellt sich die Frage nach den anderen osteuropäischen Ländern. Ich hätte von Ihnen darüber gerne etwas mehr gehört.
Ich komme gerade von einer internationalen Konferenz in New York zurück, auf der ich mit Vertretern aller osteuropäischen Staaten und Mitgliedern von Regierungen - auch Regierungschefs waren darunter - und Oppositionsparteien sprechen konnte. Es ist eine große Unsicherheit durch diese Rederei, die wir auch heute wieder gehört haben, entstanden: Wir wissen nicht, ob wir mit einer Gruppe anfangen werden, wie groß diese Gruppe sein wird. Wir wissen nicht, wann noch eine andere Gruppe dazukommen wird.
Die osteuropäischen Staaten wollen aber wissen, welcher Maßstab für den Beitritt gilt. Gilt der Maßstab, daß ein souveränes Land in Europa das Recht hat, seine Mitgliedschaft in einem Bündnis frei zu wählen? Dann müssen Sie jedes Land aufnehmen, das unseren demokratischen und rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht und beitreten will. Oder gilt der Maßstab, daß der Beitritt zu unserem Bündnis in erster Linie unseren Sicherheitsinteressen zu dienen hat? Diese Fragen sind nie beantwortet worden. Ich möchte endlich einmal von Ihnen hören, was für
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die Bundesregierung der Maßstab bei der Erweiterung der NATO ist. Das ist nun wahrlich eine Frage von historischer Bedeutung, die man nicht nebenbei behandeln kann.
- Keine Zwischenfragen, Herr Irmer, gerade von Ihnen zu diesem Thema nicht!
- Herr Irmer, ich spreche Ihnen die Ernsthaftigkeit aus vielerlei Erfahrungen in vielen Debatten der letzten Jahre ab.
- Ja, das ist so.
Die Kriterien, wer beitreten kann und wann, sind nicht bestimmt. Vor allen Dingen ist die Frage völlig unbeantwortet, was aus denjenigen werden soll, die beim erstenmal nicht dabei sind und denen man ja nicht sagen kann: Ihr seid beim zweiten- oder drittenmal dabei.
Der Bundeskanzler sagt in Kiew: Wir werden nicht zulassen, daß die Ukraine in einer sicherheitspolitischen Grauzone verschwindet. Wunderbar! Aber was heißt das? Heißt das, daß die Ukraine jetzt auch ein Beitrittskandidat für die NATO ist? Oder heißt das, daß auch mit der Ukraine ein besonderes sicherheitspolitisches Arrangement getroffen werden muß? Das sind berechtigte Fragen, die dem Parlament, das die Verträge schließlich ratifizieren soll, beantwortet werden müssen.
Ich rate sehr dazu, diesen Prozeß - auch durch regionale Kooperationen in Osteuropa zwischen den Partnern, die beitreten wollen, und zwischen diesen Partnern und Rußland - voranzutreiben. Auch hier weise ich wieder auf Polen hin. Die jetzige polnische Regierung unter Präsident Kwasniewski entwickelt eine bemerkenswerte Ostpolitik, die, wie ich glaube, unsere Unterstützung verdient.
Lieber Herr Kinkel, wie steht es um die strategische Partnerschaft mit Moskau, die besonderen Beziehungen und die Erfüllung der russischen Sicherheitsbedürfnisse? Sie haben lange mit Herrn Primakow gesprochen; das haben Sie mehrfach erwähnt. Können Sie uns nicht ein wenig sagen, was dabei herausgekommen ist? Werden wir am Anfang des nächsten Jahres in einer Situation stehen, in der die ersten konkreten Entscheidungen über die NATO-Osterweiterung fallen? Die Frage, wie die strategische Partnerschaft zwischen NATO und Rußland organisiert wird, ist immer noch nicht beantwortet. Das Parlament hat ein Recht darauf, das zu erfahren.
Das Parlament hat in diesem Zusammenhang übrigens auch ein Recht darauf, zu hören, wie Sie sich die Weiterentwicklung des gesamteuropäischen Sicherheitsansatzes vorstellen. Sie haben über die Weiterentwicklung der OSZE hier leider nicht gesprochen, was für mich wiederum nur ein Beweis dafür ist, welch niedrigen Stellenwert die OSZE in Ihren außenpolitischen Bemühungen inzwischen einnimmt.
Das ist aber ganz falsch. Die OSZE ist eine unterschätzte Institution.
Die OSZE leistet hervorragende Arbeit in den baltischen Staaten, im Kaukasus und in Makedonien. Der Ausbau ihrer institutionellen und materiellen Möglichkeiten müßte ein Hauptziel unserer Außenpolitik sein, wenn wir verhindern wollen, daß Europa sicherheitspolitisch auseinanderfällt.
- Das hat er leider nicht getan.
Ich sage Ihnen noch einmal: Bei den Reformstaaten in Ost- und Mitteleuropa herrscht inzwischen große Unruhe. Sie alle können sich darauf berufen, daß irgendwann einmal ein deutsches Regierungsmitglied durch ihr Land gereist ist und Zusagen gemacht hat, Zusagen sogar hinsichtlich von Zeitpunkten, von denen jetzt plötzlich aber nicht mehr die Rede ist.
Sie haben zum Beispiel im Baltikum große Erwartungen geweckt. Inzwischen haben die baltischen Staaten lernen müssen, daß von den Zusagen, die Sie ihnen gemacht haben, in der Realität nicht sehr viel zu halten ist. Bis heute haben Sie nichts gesagt, was die baltischen Staaten in den - von Ihnen akzeptierten - subjektiven und objektiven Sicherheitsbedürfnissen befriedigen könnte.
Ich finde auch, daß das, was Sie, Herr Kinkel, zum Thema Europäische Union gesagt haben, nicht ausreicht. Sie sind sehr im Technischen steckengeblieben. Ich stimme Ihnen zu: Wir müssen akzeptieren, daß wir in Europa einen Zustand haben werden, bei dem nicht alle gleichzeitig in gleichen Schritten vorangehen können. Soweit sind wir einig. Wir sind aber gar nicht einig in dem Punkt, ob es nicht heute schon möglich ist, klipp und klar zu sagen, was wir wirklich wollen. Ich sage Ihnen, was wir wollen: Wir wollen, daß die Perspektive der gesamteuropäischen Integration in unserer Außenpolitik praktisch jeden Tag sichtbar wird. Wenn es eine große strategische Aufgabe für unsere Zeit und für unseren Kontinent gibt, dann ist es die, jetzt die gesamteuropäische Integration voranzutreiben.
Das heißt, daß alle europäischen Staaten, die sich darum bemühen, zur Europäischen Union zu gehören, gleichzeitig die Chance bekommen müssen. Man kann auf diesem Wege nicht einfach welche zurücklassen.
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Vielleicht kann man das am besten mit einem Bild verdeutlichen: Die Züge werden nicht im gleichen Tempo fahren; aber sie müssen alle irgendwann am selben Bahnhof ankommen. Ich denke, wir können auch akzeptieren, daß in Europa ein Zustand herrschen wird, in dem wir Zonen unterschiedlicher Integrationsdichte haben, weil es Übergangsfristen geben wird, die von Fall zu Fall unterschiedlich sein werden, sowohl in der Substanz als auch was die Länge angeht. Wir haben doch mit der Süderweiterung entsprechende Erfahrungen gemacht.
Jetzt kommt es darauf an, immer wieder deutlich zu machen, daß wir Deutsche den politischen Willen haben, das, was wir bereits während der großen Zeitenwende 1989/90, bei der deutschen Wiedervereinigung, begonnen haben, jetzt in ein großes Konzept von europäischer Einheit weiterzutragen.
Was wir dazu hören, ist alles viel zu technisch. Ich kann nicht erkennen, daß die Europäische Union im Augenblick wirklich ernsthaft dabei ist, sich erweiterungsfähig zu machen. Wenn Sie die Länder anschauen, die Mitglied werden wollen, müssen Sie zugeben, daß diese sich große Mühe geben. Es gibt Unterschiede, aber sie geben sich große Mühe. Aber die großen Fragen, die die Europäische Union überhaupt erst erweiterungsfähig machen, nämlich die Reform ihrer Finanzierungssysteme, die Reform ihrer Fonds, insbesondere die Reform ihrer Agrarpolitik, stehen im Augenblick noch nicht einmal auf der Tagesordnung.
Solange das nicht erledigt ist - das wissen Sie genausogut wie ich -, ist alles, was wir diesen Ländern über die Aufnahme in die Europäische Union sagen, ein leeres Versprechen.
Herr Außenminister, die Unklarheiten setzen sich auf anderen Feldern fort. Sie haben zwar erwähnt, daß Sie sich mit dem amerikanischen Außenminister getroffen haben, aber Sie haben nicht erwähnt, daß die transatlantischen Beziehungen seit einer geraumen Zeit Anlaß zur Sorge geben. Reden von Ihnen, was alles sein müßte, haben wir gehört. Erkennbare Schritte oder Bemühungen, eine neue transatlantische Agenda zu schaffen, die Zusammenarbeit zwischen Europa und Nordamerika über die traditionellen Felder hinaus zu erweitern, kann ich aber nicht erkennen. Statt dessen haben wir eine Reihe von Konflikten mit den USA, wie es sie lange Zeit nicht gegeben hat. Sie sind zum Teil darauf eingegangen. Sie haben Kuba, Iran und Libyen erwähnt. Die Frage stellt sich: Mußten diese Konflikte sein?
Ich will das einmal am Beispiel des Iran zu verdeutlichen versuchen. Sie haben sich heute, wenn auch mit sehr vorsichtigen Worten, erneut für die Fortsetzung des kritischen Dialogs mit dem Iran ausgesprochen. Ich muß Ihnen aber eine Frage stellen: Ist der Iran für die Bundesregierung ein Land, das für die Ausbildung, Ausrüstung und die Entsendung von Terrorkommandos verantwortlich ist, die auf fremdem Boden iranische und andere Staatsangehörige umbringen, oder nicht? Wenn der Iran das nicht ist, wenn das nicht die Meinung der Bundesregierung ist, dann muß das den Amerikanern gegenüber klar und deutlich gesagt werden. Wenn es aber
Ihre Meinung ist, dann gibt es eine Grenze für die Dialogfähigkeit. Wir sind immer dafür, daß mit anderen Regierungen gesprochen wird. Mit wem soll man sonst reden als mit Regierungen, wenn man etwas will? Aber wenn eine Regierung tatsächlich dafür verantwortlich ist, daß Killerkommandos ausgeschickt werden, wenn die iranische Regierung vielleicht sogar dafür verantwortlich sein sollte, daß der Friedensprozeß im Nahen Osten in diesen gefährlichen und kritischen Zustand geraten ist, dann ist eine Grenze erreicht und Dialog nicht mehr möglich, sondern dann ist gemeinsames, internationales Vorgehen gefragt.
Im Zusammenhang mit Libyen, das Sie auch erwähnt haben, drängt sich eine andere Frage auf. Hier drängt sich die Frage nach der Proliferationsproblematik auf. Wir denken, daß die Frage der Proliferation von Massenvernichtungswaffen und Technologien zu ihrer Herstellung und zur Herstellung von Trägersystemen heute das zentrale sicherheitspolitische Problem ist. Ich muß Ihnen leider sagen, daß die Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der Bekämpfung von Proliferation immer noch ein außerordentlich niedriges Niveau hat.
Unsere Gesetzgebung reicht immer noch nicht aus. Ich vermisse auch eine aktive Rolle der Bundesregierung bei dem Versuch, endlich ein weltweites System zu schaffen, das es uns erlaubt, Proliferationsvorgänge deutlich zu erfassen, und zwar alle Proliferationsvorgänge und nicht nur die, bei denen es darum geht, Bombenstoff irgendwohin zu bringen. Das Entscheidende ist ja, herauszukriegen, wo ein Land ist, das sich auf verschiedenen Kanälen und in verschiedenen Ländern bemüht, Technologien zusammenzukaufen. Das geht nur, wenn Sie in der Dual-use-Problematik den starren deutschen Standpunkt aufgeben, daß Dual-use-Güter in die Rüstungsexportkontrolle nicht aufzunehmen sind.
In dem Zusammenhang sei nur in Klammern bemerkt: Die Dual-use-Problematik stellt sich im Augenblick auch gegenüber der Türkei. Wenn wir schon nicht verhindern können, daß ein deutsches Unternehmen der türkischen Armee Fahrzeuge wie den berühmten Unimog liefert, den wir ja noch gut bei seinen Einsätzen in den südafrikanischen Townships vor Augen haben, dann ist allerdings das wenigste, was wir von der Bundesregierung erwarten dürfen, daß sie nicht auch noch Hermes-Bürgschaften für dieses unmoralische Geschäft übernimmt.
Im Zusammenhang mit den genannten und anderen Ländern stellt sich die Frage nach dem Teststopp. Die UNO-Generalversammlung hat die entsprechenden Beschlüsse gefaßt, aber das bedeutet nicht, daß der Vertrag zustande kommt. Es muß hier
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festgehalten werden, daß ein wesentliches Element der internationalen Politik und damit auch ein wesentliches Element Ihrer Politik, Herr Kinkel, für das Sie seit Jahren sehr stark eintreten - ich war Ihnen immer dankbar dafür -, gescheitert ist. Der Atomteststoppvertrag kommt nicht zustande, jedenfalls im Augenblick nicht. Ich wäre Ihnen dankbar gewesen, wenn Sie etwas dazu gesagt hätten, welche Rolle Deutschland zum Beispiel gegenüber Indien spielen kann, um den Vertrag doch noch zustande zu bringen. Denn in dem Punkt, daß der Teststopp die entscheidende Voraussetzung dafür ist, daß wir auch mit der atomaren Abrüstung endlich weiterkommen, stimmen wir überein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Tschechien ist hier bereits mehrfach angesprochen worden; ich will es bei einer sehr kurzen Bemerkung bewenden lassen.
Der Bundeskanzler hat sich heute dafür verbürgt, daß die gemeinsame Erklärung zustande kommt. Das nehme ich sehr ernst. Es fragt sich allerdings, warum das in den letzten Monaten so unelegant, so verletzend ablaufen mußte, warum es nötig war, gegenüber unseren tschechischen Nachbarn Forderungen zu erheben - vor allen Dingen in einem Ton, in dem man mit Nachbarn nicht umgehen sollte. Sie, Herr Kinkel, waren mit den Verhandlungen bereits vor einem Jahr praktisch fertig.
Ich habe in der letzten Zeit sehr viele Briefe von Sudetendeutschen bekommen, zum Teil wirklich erschütternde Briefe. Es kann niemand bezweifeln: Das, was den Sudetendeutschen 1945 angetan worden ist, war schrecklich. Es war grauenhaftes Unrecht. Niemand aber kann dies heute aus der Welt schaffen. Wir können nicht nachträglich Gerechtigkeit wiederherstellen. Das einzige, was wir tun können, ist, eine gemeinsame Antwort auf die Frage zu finden: Wie beurteilen wir heute, was damals auf beiden Seiten geschehen ist?
Wie wollen wir damit umgehen? Welche Konsequenz wollen wir daraus für unsere gemeinsame Zukunft in Europa ziehen? Nur das können wir tun. Mehr soll diese Erklärung nicht leisten.
Da es selten gesagt worden ist, möchte ich hier darauf hinweisen: Unserem Verständnis nach soll es eine gemeinsame Erklärung beider Parlamente sein. Es reicht mir nicht aus, wenn wir hier, wie es der Bundeskanzler vorgeschlagen hat, was ich sehr begrüße, eine Rede - wünschenswerterweise von Präsident Havel - vielleicht wird auch der Bundespräsident noch im Parlament in Prag sprechen - hören werden. Das müßte schon mit einer feierlichen Annahme dieser Erklärung durch die beiden Parlamente verbunden sein. Dazu müssen wir uns als Vertreter der beiden Völker bekennen,
genauso wie wir uns zu dem bekannt haben, was heute ebenfalls schon eine Rolle gespielt hat, nämlich zur Unabänderlichkeit der polnischen Westgrenze.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke, daß die Friedenspolitik, die unser gemeinsames Ziel und Anliegen ist, noch eine ganze Reihe von Herausforderungen zu bestehen hat.
Ich will nur eine einzige nennen, von der ich glaube, daß jetzt eine Konfliktprävention notwendig ist und Deutschland dabei eine Rolle spielen könnte. Mit großer Besorgnis sehen wir die Entwicklung auf Zypern. Daß sich dort türkische Sicherheitskräfte schwere Menschenrechtsverletzungen gegenüber griechischen Zyprioten zuschulden kommen lassen und die türkische Armee dabei zuschaut, kann nicht hingenommen werden. Wir müssen unseren türkischen Freunden sagen, daß denjenigen von uns, die eine enge Anbindung der Türkei an die Europäische Union erreichen wollen - und das wollen wir dieses Vorhaben durch die Erhöhung der Spannungen auf Zypern erschwert wird.
Eine Initiative, ein Versuch, Spannungen abzubauen, wäre sicherlich sinnvoll. Ich glaube, daß die Bundesregierung hier etwas tun könnte.
Lassen Sie mich damit zu einem noch wichtigeren Problem kommen, das uns beschäftigt, nämlich zu der Situation in Bosnien und den Entscheidungen, die bald zu treffen sein werden.
Ich stimme der Analyse, die Sie vorgenommen haben, Herr Kinkel, zu: Der militärische Prozeß ist gut verlaufen und verläuft auch weiterhin gut. Der politische Prozeß ist demgegenüber weit zurückgeblieben. Das aber liegt nicht nur an den Konfliktparteien, es liegt auch an einigen Schwachstellen - das dürfen wir ruhig zugeben - im Vertrag von Dayton selbst.
Daß die Wahl Sonntag stattfinden muß, ist in Wahrheit ein Problem. Wir sind mit der Gefahr konfrontiert, daß das Ergebnis dieser Wahl eine scheindemokratische Legitimierung für die stattgefundenen ethnischen Säuberungen sein wird. Wir werden große Mühe haben, damit umzugehen.
Ich halte es für sehr bedauerlich, daß es nicht gelungen ist, die Mindestvoraussetzungen für freie und faire Wahlen zu schaffen. Die OSZE spricht nicht einmal mehr von demokratischen Wahlen; „a kind of democratic elections", eine Art demokratischer Wahlen, nennt sie der OSZE-Botschafter in Sarajevo. Warum zum Beispiel ist entgegen dem mehrfach einstimmig geäußerten Wunsch des Deutschen Bundestages, des Europäischen Parlamentes und anderer europäischer Parlamente nicht entschieden etwas dafür unternommen worden, in Bosnien-Herzegowina eine Mediensituation zu schaffen, die es den Menschen überhaupt erst ermöglichen würde, sich auf der Grundlage objektiver und freier Informationen ein Urteil zu bilden und zu wählen?
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Monatelang ist nichts geschehen. Dann gab es Kompetenzgerangel zwischen dem Hohen Repräsentanten und der OSZE. Das Ergebnis ist: Wir haben nichts.
Ich hätte mir gewünscht, daß sich die Bundesregierung in dieser Situation einmal überlegt, ob nicht ein großes Mißverhältnis zwischen dem besteht, was wir für die militärische Sicherung des Friedensprozesses aufwenden, und dem, was wir für den politischen Friedensprozeß aufwenden, und ob die wenigen Millionen, die dafür notwendig wären, nicht vielleicht von uns hätten aufgebracht werden können. Instrumente dazu haben wir ja.
Was wir überhaupt nicht verstehen können - Herr Kinkel, das ist kein Vorwurf an Sie oder an die deutsche Außenpolitik, sondern eine Frage an die internationale Gemeinschaft -: Wie ist es möglich, daß in einem Land, in dem 56 000 Soldaten der internationalen Gemeinschaft stehen, die Kriegsverbrecher Karadžić und Mladić immer noch frei herumlaufen und noch nicht einmal in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind,
obwohl überall Plakate von Herrn Karadžić zu sehen sind? Übrigens, auch in anderen Teilen des Landes sind Plakate zu sehen, auf denen in Deutschland gesuchte Schwerverbrecher abgebildet sind. Ich frage mich, wie das möglich ist. Die Menschen können ja gar nicht das Vertrauen entwickeln, daß stabile demokratische Verhältnisse eintreten werden, wenn diejenigen, denen Blut an den Händen klebt, ihr Werk fortsetzen können.
Wir haben keine andere Wahl. Ich beobachte allerdings mit Besorgnis, wie sich die internationale öffentliche Meinung zu wandeln beginnt. Ihnen wird der Artikel von Henry Kissinger Anfang dieser Woche nicht entgangen sein, in dem er für die Akzeptierung der entstandenen Tatsachen plädiert, nämlich für die Akzeptierung der ethnischen Trennung und die Schaffung eines muslimischen Staates. Wir können schon jetzt erkennen, wohin die Diskussion nach der Wahl gehen wird.
Das bedeutet für die militärische Seite, daß der militärische Auftrag eher noch wichtiger werden wird. Denn die Lage ist keineswegs so, daß wir sagen könnten: Die Kriegsgefahr ist vorbei. Das ist ausgeschlossen.
Ich möchte darauf hinweisen, daß ich bei mehreren Gelegenheiten tief beeindruckt war von der Ernsthaftigkeit, der Sensibilität und der Einsatzbereitschaft, mit der unsere Soldatinnen und Soldaten ihren Auftrag, den der Deutsche Bundestag ihnen erteilt hat, dort erfüllen. - Der Verteidigungsminister kann das gerne als ein Kompliment entgegennehmen. - Das spricht dafür, daß in dieser Bundeswehr ein guter Geist herrscht. Dafür sind wir sehr dankbar. Das ist gut so.
Die Frage, wie es jetzt weitergehen soll, sollten wir behutsam behandeln und mit dem Ziel, auch jetzt wieder - wie beim letztenmal - einen möglichst breiten Konsens zu erzielen. Viele Soldaten, mit denen ich gesprochen habe, haben gesagt, daß es wichtig für sie ist, zu wissen, daß nicht nur die politische Mehrheit, sondern die überwiegende Mehrheit des Parlamentes hinter ihnen steht. Ich sehe das auch so. Ich will gerne dazu beitragen, daß das möglich wird.
Deshalb bitte ich darum, in der nun notwendigen Diskussion Reizworte zu vermeiden und vor allen Dingen nicht den Eindruck zu erwecken, als sei der Beitrag, den unsere Soldatinnen und Soldaten dort leisten, weniger wert als das, was andere tun. Ich habe mich sehr darüber geärgert, in einigen Zeitungen zu lesen: Die anderen tun die gefährliche Arbeit, und die Deutschen nicht. Der französische Stabschef von IFOR hat mir auf meine Frage „Wie ist das denn eigentlich wirklich?" gesagt, daß das, was die deutschen Pioniere in Bosnien selber tun - weil sie nicht in Bosnien, sondern in Kroatien stationiert sind, biwakieren sie dort und müssen hin- und herfahren -, viel gefährlicher ist als das, was die anderen tun, die mit Panzern Patrouille fahren. Wir sollten also keinen Minderwertigkeitskomplex haben. Es wäre sowieso ganz unsinnig, festzustellen, daß das, was wir machen, nicht so gefährlich ist wie das, was die anderen machen.
Ich hoffe nicht, daß es irgend jemand in Deutschland gibt, der meint, es müsse erst Blut geflossen sein, ehe wir wieder wirklich gleichberechtigt an Friedensoperationen der internationalen Gemeinschaft mitwirken. Unsere Mitwirkung ist gleichberechtigt.
Sie ist wichtig, sie ist unverzichtbar. Und ich rate sehr dazu, sich bei den Überlegungen, wie es weitergehen soll, darauf zu konzentrieren, was wir am besten können. Das Ergebnis des Prozesses muß sein, daß man sieht: Wer steht weiter zur Verfügung? Vor allem: Stehen die Amerikaner weiter zur Verfügung? In welchem Umfang? Wie müssen die Aufgaben neu verteilt werden? Die stellen sich nämlich neu. Aber heute schon zu diskutieren, Deutschland muß bei IFOR II einen ganz bestimmten, militärisch anders strukturierten Beitrag erbringen, halte ich für falsch.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch eine Bemerkung machen, ebenfalls an die Adresse des Verteidigungsministers gerichtet. Herr Rühe, die Bundeswehr ist enttäuscht. Sie ist auch von Ihnen enttäuscht.
Sie verdienen das gar nicht; denn ich muß zugeben, Sie haben sich darum bemüht, daß die Versprechen eingehalten werden. Aber ich kann Ihnen das hier vorlegen, ich habe alle Zitate hier: von Ihnen, vom Bundeskanzler, von den verteidigungspolitischen Sprechern der Koalition, alles das, was Sie in den Jahren 1994 und 1995 gesagt haben: Bei diesen Haushaltseinschränkungen bleibt es jetzt, dieser Haushalt wird jetzt verstetigt, die Bundeswehr hat eine sichere Perspektive.
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Wir haben durchaus andere Vorstellungen davon, wie die Struktur der Bundeswehr sein sollte. Ich rede jetzt über Ihre Verteidigungspolitik, die Verteidigungspolitik dieser Regierung. Mit dem, was Sie jetzt machen, überfordern Sie die Bundeswehr. Das geht nicht! Sie können nicht einen Friedensumfang von 340 000 Mann haben und einen Verteidigungsumfang von 680 000 Mann aufrechterhalten, gleichzeitig Beschaffungsvorhaben in enormen Größenordnungen in Gang setzen und dann auch noch der Bundeswehr Aufgaben geben, auf die sie bisher überhaupt nicht vorbereitet gewesen ist. Sie werden sich entscheiden müssen, was Sie machen: Entweder werden Sie nachdenken müssen über den Streitkräfteumfang, und dann sind wir bei dem Thema, das während des Sommers gelegentlich hochkam, nämlich bei der Frage: Ist Wehrpflicht dann überhaupt noch möglich? Ich rede jetzt gar nicht davon, ob sie wünschenswert ist, sondern ob sie dann noch möglich ist. Oder Sie werden nicht in der Lage sein, die Beschaffungsvorhaben durchzuführen. Oder aber Sie werden eine Bundeswehr haben, die nicht in der Lage ist, die Aufgaben zu erfüllen, die Sie ihr zugeteilt haben. Eines von den dreien wird passieren. Wir bieten Ihnen eine sachliche, zielgerichtete Diskussion über diese Fragen an.
Aber ich sage Ihnen, es hat keinen Sinn, so zu tun, als sei die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik in den Händen dieser Regierung eine Art Heiligtum, bei dem nichts passieren kann. Und wenn die Sozialdemokraten sagen, man könnte es vielleicht an der einen oder anderen Stelle anders machen, dann wird gleich die bündnispolitische Zuverlässigkeit in Frage gestellt; das haben wir ja alles erlebt. Ich wage gar nicht auszudenken, was Sie uns im vergangenen Jahr erzählt hätten, wenn wir es gewagt hätten, einen Kürzungsvorschlag zum Verteidigungshaushalt in der Größenordnung zu machen, mit der Sie jetzt eingegriffen haben. Wie wären Sie da über uns hergefallen im vergangenen Jahr!
Wie hätten Sie die Bundeswehr gegen die Sozialdemokratie aufgehetzt!
Das haben wir ja alles erlebt. Wir verlangen von Ihnen, daß Sie wenigstens ehrlich sind.
Und merken Sie sich eines: Das ist nicht Ihre Bundeswehr, das ist nicht die Bundeswehr dieser Regierung, sondern das ist unser aller Bundeswehr. Wir haben dieselbe Verantwortung für diese Einrichtung wie Sie auch.
Nur im Unterschied zu Ihnen sagen wir den Soldatinnen und den Soldaten die Wahrheit über das, was geht und was nicht geht.
- Ja, Sie sind aufgelaufen mit einer Politik, die Sie großmäulig vertreten haben und von der Sie jetzt nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll. Geben Sie es doch endlich zu!
Ich sage noch einmal: Herr Rühe, wir sind bereit, mit Ihnen über diese Probleme zu reden, auch im Hinblick auf die sehr schwierigen europapolitischen und industriepolitischen Folgen, die die Beschaffungsprogramme aufwerfen. Das ist ein weit über die Sicherheitspolitik und über die Verteidigungspolitik hinausreichendes erstrangiges Thema, das der Aufmerksamkeit des Parlaments bedarf.
Ich danke Ihnen.