Vor Ihrem Hubschrauber stand der schwerkranke Boris Jelzin. Sie sprachen anschließend 35 Minuten mit ihm unter vier Augen und waren fünf Stunden mit ihm zusammen. Sie verzehrten einen Teil der Jagdbeute, die erlegt zu haben dem Kranken immer noch wichtig war.
- Vielen Dank. So berichtet es die Presse, die immer solche Gags braucht.
Auf uns entstand der Eindruck von Altherrendiplomatie. Das soll, Herr Kanzler, wieder nicht abwertend gemeint sein. Stabile, persönliche Beziehungen sind ein wichtiges Gut in den internationalen Beziehungen. Nur: Es muß doch im Rahmen der russischen und insbesondere im Kontext der deutsch-russischen Beziehungen diskutiert werden. Der Kontrast ist überdeutlich: Während sich Jelzin die Zeit für Sie nahm, bleibt dem Friedensstifter von Tschetschenien, Lebed, der in letzter Minute das Blutbad von Grosny abwendete, seit mehr als drei Wochen die Audienz versagt. Lebed mußte, um überhaupt Handlungsspielraum für Grosny zu haben, die Authentizität der Unterschrift unter der Instruktion des Präsidenten bestreiten. Mit den Worten „Kulikow oder ich" bezeichnete er den Machtkampf, der an der Spitze ausgebrochen war.
Die Assoziation, daß wir vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs standen, war eine weltweite und wohl nicht nur meine. Die Antwort auf Appelle an Sie, Herr Kanzler, bei Ihrem Freund Boris zu intervenieren, war völlig inadäquat. Es mag eine andere Antwort gegeben haben, aber die öffentliche war: Wenn Sie aus dem Urlaub zurückgekehrt seien, dann wür-
10866 Deutscher Bundestag - 13, Wahlperiode - 121, Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 11. September 1996
Dr. Helmut Lippelt
den Sie Jelzin anrufen. - Dies ist ein merkwürdiges Bewußtsein im Hinblick auf potentielle Katastrophen.
Damit komme ich auf Ihre Bemerkung zur Friedensbewegung. Natürlich hat die Friedensbewegung deshalb so alarmiert reagiert, weil die Vorstellung, Friedenswahrung durch ein hochbrisantes Gleichgewicht des Schreckens aufrechtzuerhalten, letztlich nicht funktionieren konnte. Dies wird immer wieder gesagt. Ich möchte ganz entschieden zurückweisen, daß Sie diesen Zusammenhang anders darstellen.
Das Blutbad in Grosny ist vermieden worden. Sie reisten jetzt nicht mehr so sehr wegen Tschetschenien, allerdings auch deshalb. Aber es war auch kein Besuch am Krankenbett. Sie haben das vorhin erklärt: Sie haben dem Kranken den Terminkalender für eine NATO-Osterweiterung nahegebracht.
Die Antwort Jelzins war versöhnlich. Die alten Konfrontationslinien blieben aber - anders als in Ihrer Schilderung - in der anschließenden Presseerklärung von russischer Seite doch noch deutlich sichtbar, sie wurden jetzt nur in Erwartungen gewendet. Jelzin setzt auf den OSZE-Gipfel im Dezember in Lissabon, Sie auf die NATO-Beratungen im Frühjahr.
Damit ist der alte Konflikt angedeutet, und wenn wir einen Scherbenhaufen wie im Dezember 1994 vermeiden wollen, verfügt die strategische Phantasie deutscher und westlicher Außenpolitik jetzt über große Zielvorgaben: der Ausbau der OSZE, so wie von Rußland oft gewünscht, gleichzeitig der Eintritt in einen Transformationsprozeß der NATO selbst und aus beiden dann der Aufbau der oft beschworenen europäischen Sicherheitsarchitektur mit Einbindung Rußlands in einer Art und Weise, die es Rußland erlaubt, einer Osterweiterung der NATO zuzustimmen, die aber den Charakter der NATO in Richtung auf ein kollektives Sicherheitsbündnis ändern müßte.
In Kiew wurde Ihnen darüber hinaus eine Richtung angedeutet, in die die Entwicklung gehen könnte, und ich möchte ganz ernsthaft versuchen, dies unseren Außen- und Sicherheitspolitikern deutlich zu machen.
In der Ukraine sind Sie darauf hingewiesen warden, daß die Ukraine selbst auf ihre Position als drittstärkste Atommacht verzichtet hat. Von dort ist eine atomwaffenfreie Zone in Mittel- und Osteuropa angeregt worden. Sie haben - so etwas muß ich ja immer Kommuniqués und Pressemeldungen entnehmen - wohlwollend reagiert: So etwas lasse sich wohl machen.
Hier möchte ich an Sie appellieren: Lassen Sie dies nicht im diplomatischen Small talk versanden! Der Vorschlag zielt natürlich in erster Linie auf die Ukraine und die Beitrittskandidaten. Aber wo endet Mitteleuropa im Westen? Gehört Deutschland nicht auch dazu? Sie werden sagen: Nein, die Teilnahme in der WEU erlaubt das nicht. - Wir sagen: Für eine gute Sicherheitsarchitektur ist es geradezu unerläßlich, daß wir an diesem Punkt unser Schicksal an der
Seite Polens definieren und den Prozeß einer Denuklearisierung der NATO und damit langfristig der internationalen Beziehungen überhaupt einleiten.
Wir kennen das Canberra-Gutachten, das die australische Regierung in Auftrag gegeben hat, wir kennen all die Argumente. Ich denke, jenes drohende Scheitern des Atomwaffensperrvertrages könnte genau an diesem Punkt mit einer neuen Dynamik überwunden werden. Das ist eine Frage, die uns hier auch im Zusammenhang mit der Position Deutschlands sehr direkt angeht.
Etwas anderes wurde deutlich: Das wichtigste Problem, das Europa aus der Hinterlassenschaft der ehemaligen Sowjetunion geerbt hat, wurde in Ihren Gesprächen ausgeblendet. Nach Ihrer Abreise rief Ihnen der ukrainische Außenminister Udowenko nach, noch keinen Pfennig habe Kiew in diesem Jahr für die ihm für die Schließung von Tschernobyl versprochenen Gelder bekommen. Je länger das Geld ausbleibe, desto später könnten die AKWs stillgelegt werden.
In Rußland sitzt seit fast einem Jahr der Umweltschützer Nikitin in Haft, der zusammen mit der Umweltorganisation Bellona auf die Gefahren der verrottenden nuklearen Hinterlassenschaft der russischen Eismeerflotte, also auf die Gefahren der atomaren Verseuchung der Weltmeere hinweist. In der Tat, die Fragen der ökologischen Sicherheit überschatten längst die Probleme der Bündnisdiplomatie.
Ich wäre gern auf ein weiteres Handlungsfeld und auf andere Akteure in der Außenpolitik eingegangen. Die Zeit läuft mir aber weg. Ich denke, daß die Aussagen Bani-Sadrs im Mykonos-Prozeß einen ungeheuerlichen Verdacht verstärkt haben. Ich meine nicht, daß wir mit einer Abwertung seiner Glaubwürdigkeit darüber hinweggehen können. Die Frage, ob der sogenannte und ohnehin schon unglaubwürdige kritische Dialog nicht völlig zur Farce wird, ist zu stellen, und wir müssen sie diskutieren. Auffällig ist doch, daß der Verdacht, es könne beim Treffen des obersten Geheimdienstchefs der Bundesrepublik mit Herrn Fallahian im Mai eine Abrede zur Abschiebung der Angeklagten im Mykonos-Prozeß alsbald nach Urteilsspruch gegeben haben, vom Bundeskanzleramt fast schneller dementiert wurde, als er überhaupt ausgesprochen wurde.
Beginnt man, darüber nachzudenken und sich daran zu erinnern, daß Fallahian schon einmal versucht hat, auf diesen Prozeß einzuwirken, dann kommen in der Tat erhebliche Fragen über einen möglichen Zusammenhang zwischen dem „Rauchvorhang" des kritischen Dialogs und einer dahinter ablaufenden Zusammenarbeit von Geheimdiensten auf, was den amerikanischen Vorwürfen sehr viel Realität verleihen würde.
Kommen wir nun zum nächsten Gestalter deutscher Außenpolitik: Herr Rühe hat es angekündigt und dem Haus ist es bewußt, daß wir in zwei Monaten vor einer schweren Entscheidung stehen, wenn wir über die Verlängerung des IFOR-Mandats abstimmen müssen. Der Verteidigungsminister hat angekündigt, daß er dann die volle Normalisierung for-
Dr. Helmut Lippelt
dem wird und daß deutsche Kampftruppen nach Bosnien gehen sollen.
Ohne die Entscheidung meiner Fraktion im geringsten vorwegnehmen zu wollen, möchte ich doch auf ein Problem hinweisen. In der militärischen Implementierung von Dayton sind wir sehr gut und sehr effizient gewesen. Die zivile Implementierung ist, wie wir alle wissen, durch schwere Mängel gekennzeichnet. Der schwerste ist, daß am Tag der Übergabe der Vororte von Sarajevo keine europäische Polizei bereit stand, um die Serben, die zum Dableiben entschlossen waren, vor den Gangs aus Pale und später vor den Plünderern aus Sarajevo zu schützen.
Die Berichte über die Brutalität, mit der Flüchtlinge, die in die inzwischen von der anderen Nationalität majorisierte Heimat zurück wollen, dort verfolgt werden, sind erschreckend. Die Frage drängt sich auf, warum wir einem Verteidigungsminister noch folgen sollen, dessen Phantasie immer nur darauf gerichtet ist, militärisch genauso tüchtig wie Franzosen und Engländer zu sein, während die Regierung offensichtlich nicht in der Lage ist, ein stärkeres und genauso effizientes polizeiliches Stand-by - über die Kompetenzstreitigkeiten mit den Landesinnenministern hinweg - zu schaffen.
Noch eines: Gewiß ist ein militärischer Sicherheitsrahmen für den Friedensprozeß wichtig. Für die Förderung des Zusammenlebens der verfeindeten Parteien bedarf es aber ziviler Intervention. Es bedarf der Vermittlung, der Mediation, wie sie sich Gruppen zum Ziel gesetzt haben, die hinter dem inzwischen in den Fraktionen beratenen Antrag für einen zivilen Friedensdienst stehen. Die Art und Weise, wie dieser durch die Phantasielosigkeit des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit abgeblockt wird, muß den Eindruck vermitteln, daß in dieser Bundesregierung das Militär zwar einen starken Lobbyminister hat, Vorstellungen ziviler Konfliktschlichtung jedoch keinen Platz haben.
Aber eines ist klar: Mit dem Hinweis auf ein besser organisiertes polizeiliches Stand-by in einem zivilen Friedensdienst habe ich wichtige Kriterien genannt, von denen wir uns bestimmen lassen werden, wenn Sie, Herr Rühe, auf dieses Parlament zukommen, um das IFOR-Mandat mit einem Kampfauftrag verlängern zu lassen. Denn wenn Dayton scheitert, dann wird es weniger an der militärischen, wohl aber an der zivilen Implementierung liegen.
Ich schließe damit. Ich hätte gern noch ein abschließendes Wort über die überproportionalen Kürzungen des Haushalts für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gesagt. Ich hätte auch gern noch gesagt, daß dies vor dem Hintergrund der Groteske, Herr Bundeskanzler, wenn Sie dieses Wort erlauben, Ihrer Ablehnung des Entschuldungsprogramms für die armen Länder in der G-7Konferenz geschehen ist. Jetzt muß die IMF-Konferenz Deutschland überstimmen.
Ich denke, das alles zusammen bietet nicht gerade ein erfreuliches Bild über den Stand deutscher Außenpolitik, aber wir werden jetzt ja Resümee und
und Konzeptionen von Ihnen, Herr Außenminister, hören können.