Darf ich jetzt meine Rede fortsetzen? Wir haben doch heute die Gelegenheit, politische Betrachtungen im Zusammenhang anzustellen.
Ich will noch einen Punkt ansprechen, der neben diesen Themen aus unserer Sicht wichtig ist. Es geht nämlich im Kern schon um die Frage, wie freiheitliche Gesellschaften heute Energien aufbringen können, ohne nur auf materielle Anreize zu sehen. Zutiefst sind die großen politischen Veränderungen der letzten Jahre ja auch Notwendigkeiten gewesen, die uns im Westen jetzt gesellschaftlich voll erreichen. Vielleicht haben einige gedacht, es würde die 17 Millionen Deutschen in den neuen Ländern betreffen, doch wir spüren, daß Mauer und Stacheldraht auch für uns im Westen bequeme Einrichtungen waren. In unserem Denken haben wir Politik durch Verteilung gemacht. Die ganze Sozialdemokratische Partei konnte lange Jahre theoretisch an Wohlfahrtsstaatsmodellen arbeiten. Wir hatten jährliche Wachstumsraten. Wir haben Wahlkämpfe nach dem Motto „Wer bietet mehr?" geführt. Diese Zeiten sind zu Ende. Jetzt erweist sich, ob man politische Kraft aufbringt, sich umzustellen und auf die Substanz freiheitlicher Gesellschaften wieder zurückzukommen, auf die Kernerfolge ihrer Geschichte.
Dr. Wolfgang Gerhardt
Das sind in unserem Land eine föderative Grundordnung und staatliche Institutionen, die eine freiheitliche Demokratie institutionell absichern. Das ist in unserem Land eine marktwirtschaftliche Ordnung, die Produktivität ermöglicht und die im weltweiten Vergleich zur Sozialpolitik befähigt. Das ist in unserem Land die technische Höchstleistungsfähigkeit gewesen - wir müssen sie wieder stärker zurückgewinnen - und die Kompetenz aller Berufe, die wir in diesem Land haben. Das ist in unserem Land die klare Erkenntnis gewesen, daß sich die Außenpolitik europäisch einbetten muß, daß sie Bündnispartner braucht, daß wir Deutschen auf Grund unserer geographischen Lage und unserer Geschichte wie kein anderes Land auf das Vertrauen der anderen angewiesen sind. Das war Staatsräson, das war nicht Beliebigkeit in der Außenpolitik. Uns muß immer bewußt sein, daß eine freiheitliche Gesellschaft ihre Freiheitlichkeit nur erhalten kann, wenn sie die Quellen nicht zuschüttet, die Freiheitlichkeit gespendet haben.
Im Verlauf der Debatten der letzten Jahre haben sich in Deutschland viele ans Werk gemacht, diese Quellen zu verschütten. Es ist nicht mehr das Bewußtsein erzeugt worden, wie Produktivität entsteht, sondern es ist ein Schlagabtausch darüber geführt worden, wie verteilt werden kann. Man muß wieder darauf hinweisen, daß wir jetzt vor der Herausforderung stehen, Produktivität in Deutschland zu erzeugen, um denen, die Hilfe brauchen, helfen zu können. Das muß wieder öffentlich gesagt werden. Das ist die Aufgabe dieser Koalition. Deshalb ist sie von den Menschen gewählt worden. Wir sind nicht gewählt worden, um Wahrheiten nicht zu sagen, Konflikte zuzuschütten und Lagen zu verdrängen. Wir haben ein Mandat, weil die Menschen uns zutrauen, ihnen eine Zukunftschance durch Modernisierung und Reformbereitschaft zu geben - dem wollen wir gerecht werden.
Wir wollen also für den Strukturwandel offener sein.
Herr Scharping hat heute morgen eine Modernisierungsrede gehalten. Ich fange da einmal beim Thema Steinkohlebergbau an und frage mich, welche Modernisierung durch Strukturwandel dort stattfindet. Ich frage den saarländischen Ministerpräsidenten, wie er denn in seinem Land die Kohlepolitik im Strukturwandel vertritt. Bisher habe ich da nur Besitzstandswahrer gesehen. Mutig waren die Herren nicht.
In Niedersachsen schüttet ein Ministerpräsident in der letzten rot-grünen Legislaturperiode den öffentlichen Haushalt mit 9000 Stellen zu. Dann langt er gewaltig in den kommunalen Finanzausgleich hinein, nimmt den Kommunen das Geld weg, tritt hier als wirtschaftspolitisch sachkundiger Sprecher auf, wird einmal entlassen und dann wieder installiert. Jetzt ist er im Gerede für neue Aufgaben. Das ist doch keine Modernisierung! Das ist doch die Kampfkraft eines
Hühnerhaufens, die sich dort entwickelt hat. Das ist keine Reform in Deutschland.
Ich glaube nicht, daß dieses Land - eigentlich war immer die Opposition die treibende Kraft für Veränderungen und Reformen - jemals eine so modernisierungs- und reformunfähige Opposition gesehen hat, wie wir sie heute haben. Ich möchte Sie deshalb ermuntern; das käme ja auch uns entgegen, wenn das etwas konzeptioneller würde.
Meine Damen und Herren, wir sind nicht allein auf der Welt, es gibt nicht nur deutsche Branchen und deutsche Befindlichkeiten. Wir müssen sehen, daß in anderen Kulturkreisen dieser Welt kulturell gewachsene Arbeitshaltungen da sind, die höchst effektiv sind. Ich möchte nicht, daß wir diese Systeme kopieren; sie neigen auch sehr zu autoritärer Führung. Aber klar ist, daß wir diesen Wettbewerb, wie das der Kollege Schäuble gesagt hat, nur gewinnen können, wenn wir ihn aufnehmen. Wenn wir so tun, als gäbe es ihn nicht, dann werden wir in große Schwierigkeiten geraten.
Deshalb führt kein Weg daran vorbei, auch in Deutschland über ganz einfache Tugenden zu sprechen. Was ist Solidarität? Ist derjenige solidarisch, der, obwohl es ein Sicherungssystem gibt, zunächst einmal etwas für sich selbst tut, bevor er das System in Anspruch nimmt? Oder ist derjenige solidarisch, der sagt: Da es ein Sicherungssystem gibt, nehme ich es in Anspruch? Ist derjenge solidarisch, der nach einer Krankheit sagt: Es geht mir wieder etwas besser; ich gehe zurück an meinen Arbeitsplatz, weil die Kollegen sonst so viel zu tun haben? Oder ist derjenige solidarisch, der sagt: Ich könnte j a noch drei Tage länger zu Hause bleiben? - Wir reden hier über ganz einfache Tugenden. - Trägt derjenige zum Sozialprodukt einer Gesellschaft bei, der leistungsbereiter und leistungsfähiger ist als andere? Müssen wir nicht ihm eine Chance geben? Oder ist derjenige solidarisch, der sagt: Es gibt einen staatlichen Transfer; vielleicht muß ich nicht bis an die Grenze meiner Leistungskraft gehen?
Nein, wir kolportieren einen völlig falschen Solidaritätsbegriff.
Ich fühle mich mit denen solidarisch, Herr Scharping, die zuallererst, wenn sie morgens aufstehen, daran denken, was sie für sich selbst tun könnten und sollten. Wenn wir mit denen nicht solidarisch sind, werden wir denen, die das nicht schaffen, nicht helfen können.
Das ist die Wahrheit. Man muß den Menschen einmal sagen, daß sie in der Politik Befürworter haben, die ebenfalls ihrem Beruf nachgehen, die etwas leisten wollen. Nur so können wir jenen helfen, die Hilfe brauchen.
Dr. Wolfgang Gerhardt
Meine Damen und Herren, die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland ist, seit es dieses Land gibt, wenn auch über manch kritische Auseinandersetzung, glücklicherweise erfolgreich gewesen, da in bestimmten geschichtlichen Abschnitten bei unterschiedlichen Konstellationen, rückblickend betrachtet, nach heftigen Auseinandersetzungen richtige Entscheidungen getroffen worden sind. Das hat für uns manche Tabuschwellen gebracht. Hierbei denke ich zum Beispiel an die Diskussion über die Oder-Neiße-Linie. Ich will aber sagen: Wir sind souverän genug, um bei manchen Tabus offen zu sagen, wie wir das sehen.
Ich halte Vertreibung für ein großes Unrecht; diesen Menschen ist extremes Leid zugefügt worden. Ich habe auch die Enteignungen in den Jahren von 1945 bis 1949 für Unrecht gehalten und halte sie noch heute für Unrecht. Ich darf daran erinnern, daß auch Menschen enteignet worden sind, die in der Widerstandsbewegung des 20. Juli 1944 waren. Denen - das muß ich uns in Gesamtdeutschland sagen - ist bitteres Unrecht geschehen. Das waren keine Junker. Das waren Menschen, die für die Zukunft Deutschlands einen guten Beitrag geleistet haben.
Heute einfach zu sagen - das spreche ich bewußt an - „Das ist geschehen", wäre mir zu kurz. Wir können Geschichtsbücher nicht umschreiben. Aber die Ereignisse nach 1945 haben so vielen Menschen Leid zugefügt, daß wir als Deutsche das auch aussprechen dürfen. Wir müssen nur wissen, daß es damit nicht angefangen hat.
Der Beginn des Leids wurde zuvor durch eigene, durch deutsche Politik veranlaßt.
Wir haben nun mit nahezu allen Nachbarländern normale Beziehungen. Wir haben freundschaftliche Bande entwickelt. Wir haben Grenzen überwunden. Diese wollen wir ohnehin durchlässiger machen; sie sollen ihre alte Funktion verlieren. Wir wissen, daß wir auf dem Weg nach Europa keine Alternative haben. Ich erkläre für die Freie Demokratische Partei: Wir werden alsbald zu einem deutsch-tschechischen Abkommen kommen.
Es ist an der Zeit. Das weiß die Koalition insgesamt. Dies wird jetzt zu Ende gebracht. Dann werden wir eine Übereinkunft haben, die tragfähig und versöhnlich ist und in der die politischen Streitfragen in gegenseitigem vertrauensvollen Einvernehmen geklärt sind.
Ich danke dem Bundesaußenminister für seine schwierigen, aber guten Verhandlungen
und wünsche, daß diese jetzt zum Abschluß kommen. Wir werden das auch tun. Wir befinden uns in einer Koalition, die gut zusammenarbeiten will, bei der man nicht wöchentlich Druck macht. Wir legen aber Wert darauf, daß wir in diesem Herbst dieses Übereinkommen zu Ende bringen.
Ich sage das, weil der Mainzer Bischof Lehmann recht hat, wenn er sagt, daß Wiedergutmachung nicht nur ein materieller Vorgang ist, sondern vor allem ein geistiger. Das verlangt Größe und Souveränität auf allen Seiten. Wir bringen die auf. Der tschechische Staatspräsident Havel hat sie auch aufgebracht. Wir sollten die Völker beider Staaten nicht mehr allzu lange warten lassen.
Die Außenpolitik befindet sich bei Klaus Kinkel in guten Händen. Er kennt die Notwendigkeiten internationaler Beziehungen Deutschlands. Er treibt keine Eskapaden. Er muß nach den großen Veränderungen der letzten Jahre kritische Situationen bewältigen. Er hat diese Leistung in einer Arbeitshaltung vollbracht, die ihm internationale Anerkennung verschafft. Wir wollen das in diesen sicheren Händen belassen.
Herr Scharping, das sage ich an dieser Stelle, weil ich vor wenigen Tagen zur Kenntnis genommen habe, welche Alternative Sie der Koalition entgegensetzen wollen. Ich glaube, in bezug auf die Reformfähigkeit im Innern und die Geradlinigkeit nach außen bietet ein rot-grünes Bündnis keine Alternative - schon gar nicht, wenn Sie die PDS mit einkalkulieren. Deutschland braucht zuallerletzt eine solche Konstellation. Sie ist reform- und modernisierungsunfähig, kann die sozialen Sicherungssysteme nicht rechtzeitig reformieren und weiß noch nicht einmal richtig, wie ein Arbeitsplatz entsteht. Sie nährt eher den Glauben, das käme über staatliche Haushalte statt über Menschen, die sich anstrengen, schlaflose Nächte verbringen und Risiken eingehen, um Arbeitsplätze zu schaffen.
Dieses Land ist aus der Katastrophe von 1945 mit Prinzipien herausgekommen, die in dieser Koalition bzw. bei den Freien Demokraten beheimatet sind. Dabei wollen wir es auch belassen. Wir haben Schwierigkeiten, aber wir tun unser Bestes, um über Gesetze und Kanzlermehrheit - am Freitag - eine Chance für mehr Beschäftigung in Deutschland und damit für die Grundfestigkeit einer stabilen Demokratie zu schaffen. Das kann uns nicht bis zum letzten Arbeitslosen gelingen. Das können wir nicht zusagen. Das wird auch nicht übermorgen gelöst sein. Aber die Menschen mögen erkennen, daß wir uns in die richtige Richtung bewegen. Die OECD hat uns das bestätigt. Sie hat uns sogar zu weitergehenden Schritten ermuntert. Warum sollten wir also ablassen, das in dieser Koalition weiter zu pflegen?
Auf weitere gute Zusammenarbeit!