Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zu Beginn versuchen, auf einige Bemerkungen des Kollegen Geißler einzugehen.
Der erste Punkt. Herr Kollege Geißler, es ist nicht korrekt, zu sagen, durch eine Absenkung der Sozialleistungsquote um 0,4 Prozent beschädigten Sie nicht den Sozialstaat. Die Absenkung um 0,4 Prozent steht vielmehr in einem kontinuierlichen Zusammenhang der letzten 14 Jahre.
Sie haben den Sozialstaat in einem ganz erheblichen Maße beschädigt. Viele Millionen Menschen in Deutschland leben an der Armutsgrenze oder darunter.
Rund eine Million Kinder und Jugendliche sind von der Sozialhilfe abhängig. Was ist das für ein Lebensstart? Hunderttausende von Menschen sind obdachlos, häufig vorher Arbeitslose, die sich auf Grund abgesenkter Lohnersatzleistungen keine noch so kümmerliche Wohnung mehr erlauben können. Auf der anderen Seite ist das private Geldvermögen in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten zehn Jahren in einem unermeßlichen Maße gestiegen.
Das heißt, es geht nicht darum, über Zahlentricksereien zu suggerieren, ein substanzieller Eingriff in die sozialstaatlichen Bedingungen der Bundesrepublik habe nicht stattgefunden. Er hat in einem massiven Maße stattgefunden und findet weiter statt. Das einzige im Unterschied zu früheren Jahren ist - das ist das für mich wirklich Erschütternde -, daß die Vertreter der katholischen Soziallehre in diesem Land zum erstenmal stramm auf F.D.P.-Kurs gegangen sind. Herr Geißler, das trifft mich sehr.
Der zweite Punkt. Sie sagen, Sie wollten weder englische noch amerikanische Verhältnisse. Meine Behauptung ist: Sie sind auf dem besten Weg in englische oder amerikanische Verhältnisse.
Ich habe mir vor dieser Debatte die Mühe gemacht, noch einmal einen Teil der Protokolle der Lesungen vor der Sommerpause anzuschauen. Im wesentlichen gibt es zwei zentrale Argumente der Koalition für diese Kürzungspakete. Das erste Argument - häufig mit Bezug auf Globalisierung, heute wieder vorgetragen - lautet, das deutsche Arbeitsund Sozialsystem sei beschäftigungsfeindlich, weil auf Grund überzogener Arbeitnehmerschutzrechte ansonsten erfolgende Neueinstellungen unterblieben; Arbeitnehmerschutzrechte akademisch formuliert: mit Regulierung des Arbeitsmarkts, Regulierung des Arbeitsschutzes. Also, das erste zentrale
Ziel ist: Sie wollen gewachsene, teilweise historisch erkämpfte Arbeitnehmerschutzrechte abbauen, nicht als Selbstzweck, sondern - das unterstelle ich Ihnen dabei - um damit Beschäftigung zu fördern.
Typisches Beispiel im Rahmen der Kürzungspakete ist die Heraufsetzung des Schwellenwerts von Betrieben mit fünf Beschäftigten, wo betrieblicher Kündigungsschutz noch nicht greift, auf nunmehr zehn Beschäftigte.
Wenn die These richtig wäre, Herr Kollege Geißler, daß durch den Abbau von Schutzrechten der Arbeitnehmerschaft die Beschäftigung gefördert werden würde, dann müßte im gelobten Land der Deregulierung, nämlich in Großbritannien, wo es beispielsweise in den ersten zwei Beschäftigungsjahren überhaupt keinen Kündigungsschutz mehr gibt, nachgerade ein Beschäftigungswunder stattgefunden haben.
Seit 1979, seit Beginn der Thatcher-Regierung, wurde in höchstem Maße abgebaut: Verringerung des Kündigungsschutzes, Absenkung des Schutzniveaus der Arbeitslosenversicherung, Verschärfung der Kriterien zumutbarer Arbeit usw. Ich könnte eine riesige Liste aufstellen. Wenn man sich die gegenwärtigen Kürzungspakete mitsamt der nachfolgenden Gesetzgebung anguckt, erkennt man, daß sich dort zumindest in Ansätzen vieles wiederfindet, was in Großbritannien durchgesetzt worden ist.
Der zentrale Punkt: Von durchschlagenden Beschäftigungserfolgen in Großbritannien kann auf Grund dieser Maßnahmen überhaupt keine Rede sein.
Im Gegenteil: Die Arbeitslosenquote in Großbritannien ist größer als in Deutschland, und die sozialen Begleitfolgen in Großbritannien - ich war vor wenigen Monaten in Schottland, in Glasgow, und habe mir das angeguckt - sind unübersehbar: wachsende Mehrfachbeschäftigungsverhältnisse, weil die Niedrigstlöhne in den normalen Beschäftigungsverhältnissen nicht mehr ausreichen, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie haben darauf hingewiesen, daß die Gelegenheitsarbeiten in dramatischem Maße wachsen. Es gibt niedrige Bildungsaktivitäten, soziale Deklassierungen, ein Verkommen der sozialen und öffentlichen Infrastruktur und wachsende Gewaltbereitschaft in den Städten. Das sind die sozialen Begleitfolgen in Großbritannien.
Nochmals: Die Deregulierung in Großbritannien hat keinerlei Beschäftigungserfolge - die Arbeitslosigkeit ist höher als in Deutschland -, aber dramatische soziale Begleitfolgen.
Die Frage ist, ob die Koalition diesen Weg gehen will
oder ob sie diese Ergebnisse billigend in Kauf zu nehmen bereit ist.
Der zweite Punkt. Der Hinweis auf die vermeintlichen Globalisierungszwänge macht Ihre Politik
Ottmar Schreiner
nicht richtiger. Wenn es zu einem europaweiten oder internationalen Wettbewerb zum Abbau sozialer Schutzregelungen, zum Abbau erreichter ökologischer Standards kommt, dann führt dies - das war der Hinweis von Lafontaine - zu einer dramatischen sozialökologischen Abwärtsspirale, die sich immer weiter dreht und in Europa - das wird letztendlich das Ergebnis sein - ein zentrales Element der europäischen Kultur zerstören kann, nämlich das Streben nach sozialer Teilhabe für alle und das Streben, auch den nachfolgenden Generationen ein lebenswertes Land zu übergeben.
Ich frage jetzt wirklich, was an dem Denkansatz von Lafontaine falsch sein soll. Ich darf aus seinem Aufsatz in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zitieren, der hier vor der Sommerpause in den wenigen Bemerkungen zur Globalisierungsproblematik eine Rolle gespielt hat. Er schreibt in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung":
Auf nationaler Ebene haben wir die politische Grundsatzentscheidung getroffen für die soziale und ökologische Marktwirtschaft. Das ist eine Wirtschaftsordnung, welche die Effizienz des Marktes kombiniert mit sozialem Ausgleich und mit unserer moralischen Verantwortung für kommende Generationen. Ich kann keinen überzeugenden Grund dafür erkennen, warum diese wirtschaftspolitische Wertentscheidung nicht grundsätzlich auch auf den großen Markt der Weltwirtschaft übertragbar sein sollte.
Das ist in der Tat die zentrale Frage: Wollen wir die für uns und die Entwicklung der kommenden Generationen tragenden Wertentscheidungen, die das Marktgeschehen politisch verantwortbar gestalten sollen, auf der nationalen Ebene belassen, oder wollen wir anstreben, die eben skizzierte drohende Abwärtsspirale zu verhindern, um zu übernationalen Regelungen zu kommen? Das ist die zentrale Frage.
Jetzt frage ich mich, was an diesem Denkansatz denn grundsätzlich falsch sein soll. Die hochgefährliche Abwärtsspirale ist längst im Gange. Die wachsende Tendenz zu nationalen Egoismen, im Klartext: zu nationalen Dumpingstrategien im Sozial- und Umweltbereich, steht in krassem Widerspruch zu den Erfordernissen der europäischen Integration.
Mir soll einmal jemand sagen, warum Europa zusammenwachsen soll. Im Bereich der Währungen bin ich dafür. Warum in Europa freier Dienstleistungsund Kapitalverkehr? Da bin ich dafür. Aber warum nicht das Anstreben gemeinsamer sozialer Regelungen, die sehr wohl die unterschiedlichen Produktivitäten der verschiedenen Volkswirtschaften berücksichtigen können? Warum das eigentlich nicht?
Warum das soziale und ökologische Thema auf der europäischen Integrationsebene geradezu ausblenden? So klingt das ja. Im übrigen haben die Europäer dies nie gemacht. Wir haben in Europa die Diskus-
sion um ein europäisches Entsendegesetz. Wir hatten in Europa, in Brüssel, eine Richtlinie zum Arbeitsschutz für Gesamteuropa, die weit über das hinaus ging, was die Bundesregierung der Arbeitnehmerschaft im Bereich des Arbeitsschutzes zuzugestehen bereit war.
Es ist also überhaupt nichts Neues. Ich fürchte, Ihr Denkansatz führt zu einer hochgefährlichen Renationalisierung unserer Politik. Wir sind in diesem Punkt wirklich viel, viel weiter und viel mehr europäisch gesinnt, als die konservativen Kräfte in diesem Haus wahrnehmen wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst der jüngste EU-Beschäftigungsbericht von 1995 fordert eine gemeinsame Beschäftigungsstrategie für die Europäische Union angesichts von mehr als 20 Millionen Arbeitslosen. Der eben mehrfach zitierte österreichische Bundeskanzler Vranitzky hat verstärkt öffentlich vorgeschlagen, zu einer gemeinsamen europäischen Beschäftigungsstrategie zu kommen. Die Delors-Kommission hatte das im Dezember 1993 in einem umfänglichen Weißbuch vorgeschlagen. Wir sind also nicht isoliert. Sie, liebe Damen und Herren von der Koalition, sind isoliert.
Wir befinden uns in sehr guter Gesellschaft mit unseren Bemühungen, die sozialen, ökologischen und beschäftigungspolitischen Fragen stärker zu europäisieren, als dies bislang der Fall ist.
- Ja, Sie brauchen keine Lautsprechanlage, sondern immer ein Mikrophon, Herr Kollege Möllemann.
Versuchen Sie einmal, auf die Argumente einzugehen. Sie sind ja auch gleich nach mir dran. In Kinkerlitzchen sind Sie wirklich ein Weltmeister.
Das zweite zentrale Argument der Koalition in den letzten Monaten war: Ein Abbau sozialer Standards ist unumgänglich. Die steuerfinanzierten Sozialleistungen des Staates stehen unter striktem Sparzwang. Die zu hohen Lohnnebenkosten, die beitragsfinanziert sind, müssen abgebaut werden. Niemand von den Sozialdemokraten bestreitet die Sparzwänge der öffentlichen Haushalte. Niemand von uns bestreitet, daß die Lohnzusatzkosten schon deshalb zu hoch sind, weil sie das Nettoeinkommen als das verfügbare Einkommen der Arbeitnehmerschaft immer stärker und in einem inzwischen nicht mehr erträglichen Maße belasten.
Die zentrale Frage aber ist: Wer ist eigentlich für die hohen Lohnnebenkosten, für die hohen Sozialversicherungsbeiträge und für die Not der öffentlichen Haushalte verantwortlich? Seit 1991, meine Damen und Herren von der Koalition, finanzieren Sie die notwendigen Sozialtransfers nach Ostdeutschland im wesentlichen über Lohnzusatzkosten - jährlich zirka 50 Milliarden DM. Das heißt, der durch-
Ottmar Schreiner
schnittliche Arbeitseinkommenbezieher wird von Ihnen seit vielen Jahren weit überproportional zur Finanzierung der deutschen Einheit herangezogen. Das ist das eigentliche Dilemma. Sie finanzieren die Einheit überwiegend über die Arbeitseinkommen und nicht über eine gerecht formulierte Steuerpolitik. Aus diesem Dilemma sind Sie bis zur Stunde nicht herausgekommen.
Wir wissen, daß auf absehbare Zeit für Ostdeutschland weiter dreistellige Transferbeträge notwendig sind. Sie könnten diese Maßnahmen, die falsche Politik der letzten Jahre, jederzeit korrigieren. Bislang haben Sie dazu nicht die Ansätze von Kraft gefunden. Zu keiner Stunde waren Sie in der Lage, die ökonomisch-soziale Gestaltung der deutschen Einheit mit einem wirklich vorsorglichen und überzeugenden Konzept zu begleiten.
Der Grundmechanismus - das ist das Dilemma Ihrer Kürzungspolitik - ist der: Weil Sie die Sozialversicherungen ausplündern, um die sozialen Transfers nach Ostdeutschland zu bezahlen, müssen Sie die Sozialleistungen kürzen, daß es nur so kracht. Noch klarer: Sie finanzieren die sozialen Kosten der deutschen Einheit über massiven Sozialabbau. Das ist der Kern Ihrer Politik, den wir als Sozialdemokraten seit Jahren grundlegend kritisieren.
Ich frage Sie: Wer hat Sie eigentlich daran gehindert, die große Aufgabe der ökonomisch-sozialen Gestaltung der deutschen Einheit anders, und zwar gerecht zu finanzieren? Wer hat Sie daran gehindert und wer hindert Sie heute daran, Steuer- und Abgabenquote an der persönlichen Leistungsfähigkeit der Menschen zu orientieren?
Es gibt unzählige Beispiele von Einkünften, die im Gegensatz zum normalen Arbeitseinkommen nicht oder völlig unzureichend erfaßt werden. Wenige Beispiele: Zinseinkommen, die sich der Besteuerung durch Flucht nach Luxemburg mühelos entziehen; große landwirtschaftliche Einkommen, viel zu gering bewertetes großes Immobilienvermögen; Veräußerungsgewinne. Daran wurde und wird nichts geändert, ganz im Gegenteil: Mit der geplanten Abschaffung der Vermögensteuer setzen Sie noch eins drauf.
Die Vermögensteuer trägt in Deutschland mit etwa 0,8 Prozent zum Gesamtsteueraufkommen bei. In den USA und in Japan - klassische Wachstumsländer - liegt dieser Anteil bei zirka 10 Prozent bzw. 4 Prozent. Die Abschaffung der Vermögensteuer trägt also überhaupt nichts zum Wachstum bei. Diese falsche Politik von Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, hat schlechte Tradition und begann längst vor der deutschen Einheit.
Der ehemalige Bundesfinanzminister Matthöfer, ein grundsolider Mann, hat Anfang Juli 1996 ausgeführt, die Umverteilung der Einkommen von unten nach oben sei eine Ursache der Massenarbeitslosigkeit in Deutschland. Für volle Beschäftigung müsse
das Volkseinkommen etwa in gleichem Maße wie die Arbeitsproduktivität zunehmen. Seit 1982, seit der politischen Wende in Deutschland, seien aber weit mehr als 150 Milliarden DM politisch gewollt von unten nach oben umverteilt worden. Wörtlich sagte Hans Matthöfer, der frühere Bundesfinanzminister:
Die Perfidie der Auswirkungen dieser Politik wird dadurch verschlimmert, daß die auf diese Weise selbsterzeugte Arbeitslosigkeit in der Politik und bei vielen Unternehmen zur Begründung weiterer Umverteilungsmaßnahmen zugunsten der Reichen und zur Verminderung der Einkommen der breiten Masse herangezogen wird.
Meine Damen und Herren, Sie sind das Opfer eines von Ihnen politisch bewußt selbsterzeugten Teufelskreises. Ein fatales Ergebnis dieses Teufelskreises ist die horrend hohe Massenarbeitslosigkeit in Deutschland.
Angesichts der Belastung von Staatshaushalt und durchschnittlichem Arbeitseinkommen geht es längst nicht mehr um Neidkampagnen gegen große Immobilien- und Geldvermögen. Es geht nur um eines: um mehr Gerechtigkeit im System unserer Steuern und Abgaben. Im Mittelpunkt muß die tatsächliche Leistungsfähigkeit stehen. Dieses Prinzip ist allerdings wesentlich für den Zusammenhalt einer Gesellschaft.
Robert Reich, heute Arbeitsminister in den Vereinigten Staaten, -