Rede von
Dr.
Heiner
Geißler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Nein.
Sagen Sie, wo Sie Ihre sozialen Einschnitte machen wollen! Uns beschimpfen und die Antwort verweigern ist ein Stück politischer Feigheit,
was nur dazu führt, daß Sie inzwischen auch bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Bundesrepublik Deutschland die Glaubwürdigkeit verloren haben.
Friedhelm Farthmann, der Ex-Vorsitzende der NRW-Landtagsfraktion, sagt - und er weiß, wovon er redet -:
Dr. Heiner Geißler
Inzwischen hat die SPD einen Tiefstand erreicht, wie ich ihn in meiner 40jährigen Parteizugehörigkeit noch nicht erlebt habe.
Ich könnte das Zitat fortsetzen.
Das hat etwas damit zu tun, daß Sie hier große Worte finden und uns maßlos angreifen, ohne daß Sie auch nur die geringste glaubhafte Alternative vorlegen. Das geht auf Sie selber zurück.
Über das Beispiel der Lohnfortzahlung und der 20prozentigen Selbstbeteiligung kann man sicher nicht jubilieren. Kein Mensch freut sich darüber. Aber bei 60 bis 62 Milliarden DM Lohnfortzahlungskosten bringt es immerhin eine Erleichterung von 12 Milliarden DM für die Betriebe.
Nun gibt es aber die Möglichkeit der Verrechnung mit dem Urlaub. Ein Industriearbeiter hat bei uns im Durchschnitt 30 Urlaubstage. Er kann sich für fünf Krankheitstage einen Urlaubstag anrechnen lassen. Selbst wenn jemand sechs Wochen krank ist, hat er, wenn er die Urlaubstage anrechnen läßt, immer noch 24 Urlaubstage. In Großbritannien gibt es im Durchschnitt 25, in der Schweiz 24, in Griechenland und auch in Portugal 22, in Belgien 20, in den USA 12 Urlaubstage. Selbst bei sechs Wochen Krankheit und Anrechnung von Urlaubstagen haben unsere Arbeitnehmer immer noch vier Urlaubstage mehr als die Belgier, genausoviel wie die Schweizer und 14 Tage mehr als die Amerikaner. In einer solchen Situation vom Plattmachen des Sozialstaats zu reden, Genossen, da habt ihr nicht mehr alle Tassen im Schrank! Kein Mensch glaubt Ihnen das!
Was sich hier abspielt, hat in der deutschen Geschichte schon des öfteren eine Rolle gespielt: Rationalismus und Irrationalismus. Der Irrationalismus hat in Deutschland politisch immer eine große Rolle gespielt, und die Deutschen sind des öfteren lieber auf der Emo-Schiene abgefahren, als daß sie eine wirkliche Problemsituation auch einmal rational und diskursiv erörtert hätten. Die Lohnfortzahlung ist halt ein Symbolthema geworden, jenseits von Gut und Böse und jenseits von dem, was wir machen müssen.
Beim Sozialstaat ist es inzwischen offenbar genauso wie beim Nationalstaat: Wenn die Fahne fliegt, ist der Verstand in der Trompete. Das haben wir bei dieser Diskussion erlebt.
- Wenn die Fahne fliegt, ist der Verstand in der Trompete - ein ukrainisches Sprichwort. Daran habe ich denken müssen, als ich heute morgen Ihre Reden gehört habe.
Da ist mit rationaler Überlegung überhaupt nichts mehr zu machen.
Ich sage in aller Ruhe: Die SPD ist durchaus zu Recht eine Partei, die sich auf soziale Verantwortung berufen kann, und sie ist eine Partei der Arbeiterbewegung. Ich kann das alles verstehen. Die Gewerkschaften und auch die Kirchen haben eben andere Aufgaben. Aber ich finde, die SPD, die Gewerkschaften und auch die Kirchen sollten nicht mit Halbwahrheiten Ängste schüren.
Denn eine halbe Wahrheit ist schlimmer als eine ganze Lüge. Es ist eben nicht in Ordnung, wenn der DGB-Vorsitzende von einem Katalog sozialer Grausamkeiten, von Ausgrenzung der Schwachen, Kranken und Behinderten, von Betrug an Frauen und was da sonst noch alles gesagt wird, redet. Ich weiß, daß die Kirchen nicht so sind, aber ich muß es hier sagen. Wenn bei dieser Demonstration davon geredet wird, die Kinder der Armen brauchen auch Spielplätze und drei Mahlzeiten am Tag, und an Kuren für Mütter darf nicht gespart werden, dann wird doch unterstellt, die Koalition wolle Spielplätze wegnehmen, und wir wollten Kinder verhungern lassen. Hier werden doch Ängste geschürt, die völlig unbegründet sind.
Ich finde es auch nicht richtig, wenn vom DGB-Vorsitzenden gesagt wird: Vor fast 15 Jahren sind auf diesem Platz in der bis heute größten Kundgebung der Bundesrepublik Hunderttausende zusammengekommen, um für den Frieden zu demonstrieren. Damals ging es um den äußeren Frieden. - Das ist heute so falsch wie damals. Sie haben immer gegen das Falsche demonstriert, damals gegen die NATO und heute gegen jeden sozialen und ökonomischen Verstand.
Außerdem ist es auch ungerecht. Es findet kein Kahlschlag statt. Ein Vergleich mit anderen Industrieländern beim Arbeitslosengeld, der Sozialhilfe, der Lohnfortzahlung, dem Krankengeld und der Rentenversicherung zeigt dies. Dies gilt auch nach Wirksamwerden unserer Maßnahmen. Es kann gar nicht anders sein. Für Sozialleistungen werden 1,1 Billionen DM aufgewendet. Da sparen wir jetzt 25 Milliarden DM. Vergleichen Sie dies mit Großbritannien, Schweden, Italien, den Niederlanden, den USA! Solche Vergleiche gibt es. Wenn das, was wir bei uns machen, das wäre, was Sie sagen, ein sozialer Kahlschlag, dann müßte es in diesen Ländern eine reine Wüstenei geben.
Wir gehören nicht zu denen, die Tony Blair angebetet haben. Tony Blair, der Sozialistenführer, ist beim Bundesverband der Deutschen Industrie gefeiert worden. Aber vieles, was Tony Blair sagt, wird ein vernünftiger Christlicher Demokrat oder ein Christlicher Sozialer mit Sicherheit auch nicht akzeptieren. Nach dem, was er gesagt hat, und nach dem Jubel, den er erfahren hat, fällt mir ein Sprichwort ein: daß
Dr. Heiner Geißler
die Berühmtheit manches Zeitgenossen unmittelbar mit der Dummheit seiner Bewunderer zusammenhängt.
Ob Sie dazugehören, steht auf einem anderen Blatt Papier. Wir haben damit nichts zu tun, damit wir uns hier richtig verstehen.
Es hat auch etwas mit Psychologie zu tun. 50 Prozent des wirtschaftlichen Wachstums sind Psychologie. Mit „shareholder value" und Vergleichen mit den Vereinigten Staaten hat die Christlich Demokratische Union und will die CDU nichts zu tun haben. Daimler-Benz-Chef Schrempp hat laut „Spiegel" gesagt, bis 2000 werde Daimler-Benz in Deutschland keinen Pfennig Ertragsteuern bezahlen, „von uns bekommt ihr nichts mehr". Ich weiß nicht, ob er es gesagt hat. Aber wenn er es gesagt hat, muß man dies auch in Verbindung mit der Aussage sehen, daß Hiobsbotschaften am Arbeitsmarkt als Siegesmeldungen an der Wall Street gelten. Für die Christlich Demokratische Union sage ich: Dies alles sind moralische Bankrotterklärungen. Damit haben wir nichts zu tun.
Auch mit diesen Leuten wollen wir nichts zu tun haben.
Die Globalisierung der Märkte ist eine Tatsache. Aber die mißbräuchliche Nutzung der Globalisierung der Märkte produziert nicht nur hohe Dividenden, sondern gleichzeitig eine Globalisierung der Arbeitslosigkeit und eine Globalisierung der Armut und des Elends. Das muß jeder wissen, der diesen Dingen unkritisch gegenübersteht. Da kann einmal der Faden reißen. Wir dürfen nicht die Fehler, die im Zusammenhang mit der alten sozialen Frage gemacht wurden, wiederholen. Heute besteht global eine neue soziale Frage. Wir dürfen nicht so versagen, wie es vor 150 Jahren die Manchester-Fabrikanten getan haben. Die Folge ist das Kommunistische Manifest gewesen: Ein Gespenst geht um in Europa! Es hat dann 140 Jahre gedauert - weil die Verantwortlichen damals nicht begriffen hatten, um was es ging -, bis die letzten Fetzen dieses Gespenstes verscheucht worden sind. Im Zusammenhang mit der neuen globalen sozialen und ökologischen Frage dürfen wir diesen Fehler nicht noch einmal begehen.
Die soziale Marktwirtschaft wird nicht in Frage gestellt. In Zeiten großer Herausforderungen muß sich die soziale Gerechtigkeit aber erst eigentlich bewähren. Die Solidarität muß denen gelten, die die Hilfe besonders brauchen. Das sind heute die vier Millionen Arbeitslosen. Es stehen nicht diejenigen im Vordergrund, die einen Arbeitsplatz haben und die vielleicht zu Recht beklagen, daß sie geringere Einkommenszuwächse erhalten. Vielmehr stehen die Arbeitslosen im Mittelpunkt unserer Solidarität. Dazu bekennen wir uns.
Für ein deutsch-deutsches Thema - das sage ich allen: Arbeitgebern und Gewerkschaften -, auf das ich jetzt eingehen will, gibt es ein altes Zitat von Erich Kästner, das wir uns gemeinsam zu Gemüte führen sollten.
- Ich habe keine Rede gehalten, die Sie aufregen müßte.
- Nein, das habe ich nicht getan!
Erich Kästner hat einmal gesagt: „Wer das Schöne im Leben vergißt, wird böse. Wer das Schlechte im Leben vergißt, wird dumm" . Es gibt in unserem Land viele, auch im Westen, die uns das Schöne vergessen machen wollen. Das Gute, daß wir in Freiheit einen Sozialstaat aufbauen konnten, wie es ihn bis auf den heutigen Tag - auch nach Verabschiedung dieses Beschäftigungsprogramms - in keinem anderen Industrieland der Welt gibt, wollen viele vergessen machen.
Dadurch sollen die Leute bösartig werden.
Es gibt aber auch Leute, und das sage ich in Richtung PDS, die wollen vergessen machen, was zum Beispiel in Ostdeutschland vor sechs Jahren der Fall gewesen ist: Die Leute waren eingesperrt und wurden bespitzelt; der soziale und wirtschaftliche Standard war niedrig. Das war nicht die Schuld der Menschen; sie waren ordentlich und fleißig, aber sie lebten im falschen System. Indem man diese Tatsachen vergessen macht, will man die Menschen verdummen.
Wir, die Christlich Demokratische Union, beteiligen uns nicht daran, die Leute verrückt zu machen und unbegründete Ängste in ihnen zu schüren.
Wir beteiligen uns nicht daran, die Menschen bösartig zu machen.
Wir beteiligen uns auch nicht daran, die Menschen
zu verdummen. Wir wollen vielmehr Entscheidungen
treffen, damit den Menschen geholfen wird, einen
Dr. Heiner Geißler
Arbeitsplatz zu bekommen, und damit der Sozialstaat auf Dauer gesichert wird.