Rede von
Kerstin
Müller
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man sich Ihre Vorlage im Vergleich zur ersten ansieht, dann steht sie in einem merkwürdigen Kontrast zu der Selbstzufriedenheit, die Sie, Herr Blüm, und Sie, Herr Seehofer, heute und in den letzten Tagen noch einmal demonstriert haben. Offenbar, Herr Schäuble, hat Sie der „Druck der Straße", wie Sie den Protest der vergangenen Wochen genannt haben, mehr beeindruckt, als Sie wahrhaben wollen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, statt hier von „Aufgewiegelten" zu reden, geben Sie doch zu: Sie haben die sogenannte Straße ganz schön unterschätzt. Jetzt sind Sie erst einmal ein Stück zurückgerudert.
Anhebung des Rentenzugangsalters für Frauen ja, aber statt schon in 1997 erst drei Jahre später. Aufweichung des Kündigungsschutzes ja, aber überwiegend erst drei Jahre später. Kürzung bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, aber nicht bei Betriebsunfällen und Berufskrankheiten, sehr wohl aber für Schwangere. Herr Schäuble und Frau Nolte, der Schutz des ungeborenen Lebens spielt für Sie wohl nur dann eine Rolle, wenn es darum geht, die Frauen unter Druck zu setzen und zu maßregeln, wie beim § 218. Aber wenn es um konkrete Hilfe für Familien mit Kindern geht, dann versagen Sie.
Ihnen liegt heute ein Gruppenantrag von Abgeordneten meiner Fraktion und der SPD vor. Wir fordern Sie auf: Nehmen Sie wenigstens die Schwangeren von der Kürzung der Lohnfortzahlung aus! Was haben Sie hier schon alles über den Schutz der Familie und des ungeborenen Lebens erzählt! Und nun werden Schwangere unter Druck gesetzt, auch krank am Arbeitsplatz zu erscheinen, weil sie sonst 20 Prozent weniger Lohn erhalten. Wenn Sie das heute beschließen, wenn Sie den Gruppenantrag ablehnen, dann will ich von Ihnen in diesem Hause kein Wort mehr über Lebensschutz hören. Dieses Recht haben Sie dann moralisch verspielt.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie wollten mit Ihren Korrekturen dem Protest die Spitze nehmen. Mehr als Kosmetik ist dabei leider nicht herausgekommen. Denn Sie haben eines nicht getan: Sie haben die Marschrichtung nicht verändert. Ihre Vorschläge sind immer noch zutiefst sozial ungerecht. Pauschale Entlastungen der Unternehmen und Besserverdienenden erkaufen Sie mit Kürzungen bei den sozial Schwachen. Und vor allem: Sie schaffen keinen einzigen Arbeitsplatz mehr.
Was wir brauchen, sind Antworten auf die zentralen Probleme der Zukunft. Darum geht es: um neue Konzepte gegen Arbeitslosigkeit, um die Zukunftsfähigkeit des Sozialstaates und um die Chancen der kommenden Generationen.
Die 350 000 Menschen, die am vorletzten Samstag im Bonner Hofgarten versammelt waren, haben das, glaube ich, verstanden, Sie aber, meine Damen und Herren von der Koalition, offensichtlich nicht. Im Gegenteil.
Den Kommentar des Herrn Bundeskanzlers - der heute ja nicht da ist -
zu dieser eindrucksvollen Demonstration möchte ich hier noch einmal in Gänze vortragen. Der Bundeskanzler erklärte:
Bedenkenträger und Berufsnörgler sind nun genug gehört worden. Wer nichts anderes im Sinn hat als die Verteidigung seiner Besitzstände und nur auf Interessengruppen schaut, verspielt die Zukunft Deutschlands.
- Da klatschen Sie auch noch! - Herr Schäuble, Herr Kohl, von wem sprechen Sie eigentlich? Wissen Sie wirklich nicht, wer da demonstriert hat? Ich war dabei. Ich habe weder Berufsnörgler noch Besitzstandswahrer getroffen. Diese Menschen waren auch nicht aufgewiegelt, Herr Seehofer, sondern das sind Menschen, die Angst um ihre Zukunft haben, Menschen, die Reformen wollen und die bereit sind, Veränderungen mitzutragen. Die diffamieren Sie.
Im Bonner Hofgarten hat die Mitte dieser Gesellschaft demonstriert. Ich glaube nicht, daß das bißchen Kosmetik die Wut der Menschen beruhigen wird.
Was diese Menschen so empört, was sie dazu gebracht hat, auf die Straße zu gehen, ist die Tatsache, daß die Lasten so ungerecht verteilt sind. Kürzen und umverteilen - das ist Ihre Botschaft. Das haben diese Menschen sehr wohl verstanden, auch wenn Sie das nicht wahrhaben wollen.
Um noch mal auf den unsäglichen Spruch des Kanzlers zurückzukommen: Wer sind denn die Besitzstandswahrer in dieser Republik? Etwa die Sozialhilfeempfänger, die Arbeitslosen, die Behinderten oder die Familien mit Kindern? Sie, meine Damen
Kerstin Müller
und Herren von der Bundesregierung, Sie sind doch die eigentlichen Besitzstandswahrer!
Seit dreizehn Jahren das gleiche Lied: Sie begünstigen Unternehmensgewinne; die haben sich seit 1981 mehr als verdreifacht. Die Steuern auf diese Gewinne sind drastisch gesunken. Die Belastung der Einkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dagegen stieg im gleichen Zeitraum immens. Die Nettoeinkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sinken schon seit Jahren. Da reden Sie von Besitzstandswahrern? Herr Schäuble, der Wegfall der Vermögensteuer ist nichts anderes als Besitzstandsausbau für die Vermögenden.
Ich sage es noch einmal: Die Besitzstandswahrer sitzen auf der Regierungsbank - die F.D.P., die verläßlich die Besitzstände der Reichen und Spitzenverdiener bewahrt;
die Union, die stur an längst überholten Strukturen in Wirtschaft und Verwaltung festhält. Gestern haben wir das wieder diskutiert. Beide bilden eine Koalition zum Schaden von Ökonomie und Ökologie.
Meine Damen und Herren, Sie klagen, der Wirtschaftsstandort Deutschland sei gefährdet. Ich glaube, es geht um etwas anderes - aber davon reden Sie nicht -: Es geht um den Lebensstandort Deutschland, um die Zukunftsfähigkeit dieser Gesellschaft. Was wir brauchen, wenn wir die Zukunft sichern wollen, ist eine umfassende Modernisierung: eine Modernisierung der Wirtschaft, die endlich umweltgerecht produziert; eine Modernisierung des Sozialstaates, der nach Bedarf und nicht mit der Gießkanne verteilt; eine Modernisierung der Arbeitswelt, die Überstunden abbaut und Teilzeit fördert, und eine Modernisierung der Steuerpolitik, die Steuergerechtigkeit durch radikale Steuervereinfachung schafft.
Ihre Antwort auf die 4 Millionen Arbeitslosen ist aber zutiefst rückwärtsgewandt: unten kürzen, oben verteilen - aus meiner Sicht keine Spur von Reformen.
Und Sie, meine Damen und Herren von der F.D.P., gehen noch ein Stück weiter. Sie setzen aus meiner Sicht auf eine ganz konsequente Amerikanisierung unserer Verhältnisse. Ich frage Sie: Wie wird dieses Land aussehen, wenn Sie die Staatsquote von jetzt 50 Prozent auf 33 Prozent senken, wie Sie es in Ihrem Grundsatzprogramm festgeschrieben haben? Da geht es nicht mehr um 25 Milliarden DM - wie in der heutigen Debatte -; es geht um 17 Prozent des Bruttosozialproduktes, um etwa 500 Milliarden DM.
Sagen Sie den Menschen doch einmal ehrlich, was es heißt, 500 Milliarden DM zu sparen, Herr Westerwelle.
Konkret kann das nur bedeuten: keine Krankenhausbehandlung für ärmere Leute mehr, weg mit staatlichen Hochschulen, keine Betreuung für Drogenabhängige mehr, keine Kulturförderung mehr. Herr Westerwelle, in Ihrem Yuppie-Paradies möchte ich nicht leben.
Was Sie chic verpackt vorschlagen, ist nichts als ein Aufguß der frühen 80er Jahre. Das ist Thatcherismus; und die Folgen können Sie in England studieren.
Sie gehen konsequent den Weg der Entsolidarisierung. Das Sparpaket ist der erste Schritt. Dabei setzen Sie auch auf eine Entsolidarisierung zwischen West und Ost, zwischen den alten und den neuen Ländern. Sie nennen das Normalisierung der Verhältnisse auch im Osten. Ich nenne das Betrug. Zuerst haben Sie im Osten blühende Landschaften versprochen und sind damit auf Wählerfang gegangen. Jetzt stehen Sie vor einer Wüste und lassen die Menschen verdursten.
Im Osten ist die Arbeitslosigkeit mit 16,2 Prozent fast doppelt so hoch wie im Westen. Viele, vor allem mittelständische Betriebe, stehen vor dem Aus. In dieser Situation den Solidaritätszuschlag zu senken - das ist zutiefst unsolidarisch.
Hinzu kommen noch die massiven Kürzungen bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Von 17 Milliarden DM Gesamteinsparung der Bundesanstalt für Arbeit bis zum Jahr 2000 sollen 12 Milliarden DM aus den neuen Ländern kommen. Weit über die Hälfte Ihrer Kürzungen legen Sie also den neuen Ländern auf. Das wird die Arbeitslosigkeit noch einmal drastisch erhöhen - und nicht nur das.
Anders als in den alten Ländern beruht ein erheblicher Teil der öffentlichen Dienstleistungen und der sozialen Betreuung in den neuen Bundesländern auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Ohne diese Hilfen wird sich der Lebensstandort Ost noch einmal dramatisch verschlechtern. Diese Bedrohung wird im Osten erkannt. Ein auffällig großer Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Bonner Demonstration kam aus den neuen Ländern - über die Hälfte.
Kerstin Müller
Ich finde, das ist ein ermutigendes Zeichen von gewachsenem Selbstvertrauen und geschwundenen Illusionen über diese Regierung. Das läßt hoffen, auch für die Zukunft im Osten.
Wer die Zukunft sichern will, muß ökologisch umsteuern - in Ost und West. Wir müssen Forschung und Technologieförderung umstellen. Wir müssen Abschied nehmen von den Dinosauriertechnologien wie Atomkraft und Transrapid. - Herr Schäuble schüttelt den Kopf.
Eine Fülle von Arbeitsplätzen wird neu entstehen, wenn wir endlich massiv die neuen ressourcenschonenden Technologien fördern. Ich nenne als Beispiel die Windkraft - darüber haben wir hier diskutiert -: 10 000 Arbeitsplätze sind allein in dieser Branche. in den letzten fünf Jahren entstanden, und zwar trotz aller Steine, die man ihr in den Weg gelegt hat. In der ganzen Atomindustrie arbeiten gerade einmal 16 000 Personen, und die Potentiale bei der Windenergie sind bei weitem nicht ausgeschöpft.
Die Zukunft liegt in umweltschonenden Technologien. Wir brauchen eine ökologische Steuerreform. Nur damit läßt sich der ökologisch-soziale Strukturwandel einleiten. Nur so können wir viele neue Arbeitsplätze schaffen, und zwar zukunftsfähige.
Wer die Zukunft sichern will, muß neue Wege gehen. Wir müssen den Sozialstaat umbauen - Herr Seehofer, da gebe ich Ihnen recht -, aber wir dürfen ihn nicht zerschlagen. 37 verschiedene Behörden sind heute für 153 verschiedene staatliche Finanzhilfen zuständig, übrigens alle unter der Regierungspartei F.D.P. entstanden. Wir müssen dieses System vereinfachen, und wir müssen es konsequent am Bedarf orientieren.
Warum, frage ich Sie, Herr Seehofer, erhält auch derjenige Kindergeld, der selbst ein hohes Einkommen hat? Warum zum Beispiel die Mitglieder der Bundesregierung oder die Mitglieder des Bundestages? Diese Menschen brauchen doch nun wirklich keine Sozialleistungen mehr. Um es klar zu sagen: Eine Verschiebung der Kindergelderhöhung kommt für uns nicht in Frage. Aber streichen wir doch gemeinsam das Kindergeld für die hohen Einkommen, und erhöhen wir es für die niedrigen! Das wäre sozial gerechtes Sparen.
Genau dasselbe gilt für Ihre Pflegeversicherung. Sie ist ordnungspolitisch völlig verfehlt, ein Erbenschutzprogramm. Wir müssen aber heute ganz konsequent soziale Leistungen an den Bedarf binden. Das ist die Herausforderung, und die haben Sie auch bei der Pflegeversicherung wieder verpaßt.
Genauso konsequent müssen wir an den neuen Generationenvertrag zur Alterssicherung herangehen. Wir brauchen einen neuen Generationenvertrag, der aber die ganze Gesellschaft einbezieht, auch die Beamten, die Selbständigen und die Abgeordneten. Auch die Einwanderer - der Bundespräsident hat es angesprochen - können dazu beitragen, die Renten der Zukunft zu sichern.
Aber statt an einer solidarischen Lösung zu arbeiten, was schwer genug ist, beschäftigen Sie sich und uns mit zutiefst ungerechten Einzelkürzungen. Gerade das ist nach meiner Ansicht der größte Schaden, den die Koalition gegenwärtig anrichtet. Sie binden diese Gesellschaft in Abwehrkämpfen gegen Ihre Umverteilungspolitik. Das schafft Desorientierung. Das lenkt ab von den Zukunftsaufgaben. Das gefährdet unsere Zukunft. Denn an keinem einzigen Punkt geht von Ihnen eine Initiative aus, die aus der Krise herausführt, die nach vorne weist und die eine Perspektive für die Zukunft eröffnet.