Rede von
Horst
Seehofer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben gerade von Herrn Lafontaine eine sehr laute Rede gehört,
und die hat mich an Johann Wolfgang von Goethe erinnert, der einmal gesagt hat: „Durch die Heftigkeit ersetzt der Irrende, was ihm an Wahrheit und an Kräften fehlt. "
Lieber Herr Ministerpräsident, ich möchte mit der Bemerkung beginnen, daß gestern abend mit allen Stimmen der SPD die seit über einem Jahr so heftig umstrittene Sozialhilfereform beschlossen worden ist.
Ich muß dies etwas breiter ausführen, weil es schon wichtig ist, daß die Öffentlichkeit nachvollziehen kann, was Sie jetzt gerade gesagt haben und wie Sie sich tatsächlich verhalten.
Mit den Stimmen der Sozialdemokraten ist gestern die Kürzung der Sozialhilfe um 25 Prozent beschlossen worden, wenn zumutbare Arbeit abgelehnt wird.
Mit den Stimmen der Sozialdemokraten ist gestern beschlossen worden, daß ältere Menschen über 65 Jahre künftig nicht mehr automatisch einen 20prozentigen Mehrbedarfszuschlag bei der Sozialhilfe erhalten.
Es war die Forderung der Sozialdemokraten im Vermittlungsausschuß, daß künftig im ambulanten Bereich Behinderte nicht mehr so uneingeschränkt gefördert werden wie in der Vergangenheit.
Es war die Forderung der Sozialdemokraten im Vermittlungsausschuß - wie Sie es gestern auch hier beschlossen haben -, daß die Pflegesätze in Behinderteneinrichtungen, in Altenheimen, in Altenpflegeheimen stärker budgetiert und gedrosselt werden, als von der Regierungskoalition vorgeschlagen.
Meine Damen und Herren, es war die Forderung der Sozialdemokraten im Vermittlungsausschuß - gestern mit allen Stimmen der SPD hier beschlossen -, daß die Ausgaben in der Jugendhilfe beschränkt, gedeckelt werden sollen.
Das hatte die Koalition überhaupt nicht vorgesehen.
Meine Damen und Herren, ich kritisiere nicht, daß man spart. Man kann hier aber nicht ständig von sozialen Ungerechtigkeiten sprechen und sie dann, wenn die Entlastungen in den Sozialhaushalten einem selbst in den Ländern nützen, klammheimlich abends im Deutschen Bundestag beschließen.
Ihre Partei, Herr Lafontaine, die auch heute wieder zu Demonstrationen und zum Widerstand gegen dieses Sparpaket aufgewiegelt hat
- ich stelle das fest -, hat hier, im Deutschen Bundestag, Kürzungen bei der Sozialhilfe bei Ablehnung zumutbarer Arbeit, Kürzungen bei der Behindertenhilfe, Kürzungen bei der Jugendhilfe, Kürzungen bei den Behindertenwerkstätten sowie bei Altenheimen und Altenpflegeheimen mit beschlossen. Es ist eine Unverfrorenheit, eine Doppelzüngigkeit, daß Sie der Öffentlichkeit das Gegenteil vormachen.
Das ist ein scheinheiliges Spiel: Wenn es um die Entlastung der Länderhaushalte geht, wenn gespart wird, dann ist es soziale Gerechtigkeit und ein Gebot der Stunde. Wenn das gleiche von der Regierungskoalition in Bonn vorgeschlagen wird, dann ist es Sozialraub und sozialer Kahlschlag. - Wir müssen Schluß machen mit dieser Scheinheiligkeit.
Vor einem Jahr hat der Kollege Dreßler hier erklärt: Ziehen Sie dieses Sozialhilfegesetz zurück! Er hat in der „Ärzte-Zeitung" gefordert: Zunächst einmal muß die Sozialhilfe um 10 Prozent erhöht werden, um dem Nachholbedarf der vergangenen Jahre gerecht zu werden. Das war im Januar 1995.
Wenige Monate später war die Einsichtsfähigkeit schon ein Stück gestiegen. Er blieb noch immer bei der Forderung: Ziehen Sie das Gesetz zurück!, erklärte aber in der „Berliner Zeitung": Die Sozialhilfe muß um 4 Prozent erhöht werden.
Es gab verschiedene Bundestagsdiskussionen. Da war von „Grausamkeiten" und „Gruselkatalog",
Bundesminister Horst Seehofer
vom „Rückfall in die Steinzeit" die Rede. Jetzt haben die Sozialdemokraten genau dieses Gesetz der Koalition, das sie mit diesen Attributen über ein Jahr lang bekämpft haben, mit beschlossen. Sie haben sogar noch Verschärfungen der Sparbemühungen durchgesetzt.
Ich kritisiere nicht diese Verschärfungen. Ich kritisiere nur diese Doppelzüngigkeit.
Meine Damen und Herren, warum dieser eineinhalbjähriger Kampf der Sozialdemokraten gegen dieses Sozialhilfegesetz, um es jetzt mit zu beschließen? Eineinhalb Jahre lang haben Sie von Ihrem Weg der Utopie zur Realität gebraucht. Eine Schildkröte legt beim Stabhochsprung ein höheres Tempo an den Tag als die Sozialdemokraten bei ihrem Weg von der Utopie zur Realität.
Das, Herr Ministerpräsident, ist die Realität. Zwischen Ihrem Reden und Ihrem Handeln liegen Lichtjahre. Deshalb habe ich das Zitat von Goethe an Sie gerichtet: Sie gehen nicht wahrhaft und wahrhaftig mit der Wahrheit um. Das werfe ich Ihnen vor.
Meine Damen und Herren, wir müssen die verhängnisvolle Spirale durchbrechen, daß steigende Sozialausgaben zu steigenden Beiträgen führen, steigende Beiträge zu höherer Arbeitslosigkeit, höhere Arbeitslosigkeit zu höheren Sozialbelastungen und höhere Sozialbelastungen wiederum zu steigenden Beiträgen.
Die Quelle unserer Sozialsysteme ist noch immer eine funktionierende Volkswirtschaft. Deshalb geht es jetzt in allererster Linie damm, daß wir wieder ein Gleichgewicht zwischen sozialen Ansprüchen und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit herstellen.
Wir werden diese hohen Sozialstandards in der Bundesrepublik Deutschland für die Zukunft nur erhalten, wenn es uns gelingt, die Balance zwischen volkswirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialen Ansprüchen wiederherzustellen.
Deshalb dient diese Sparaktion neben dem Ziel, mehr Beschäftigung zu schaffen, im sozialen Bereich in erster Linie dazu, daß die großen Lebensrisiken auch künftig auf hohem Niveau solidarisch abgesichert werden können.
Das ist das Ziel der Sparaktion, nämlich die sozialen Sicherungssysteme zukunftssicher zu machen.
In weiten Bereichen, Herr Lafontaine, haben die sozialen Sicherungssysteme nicht zu wenig Einnahmen, sondern zu hohe Ausgaben. Unsere Sozialsysteme wären nicht an der Grenze der Finanzierbarkeit, wenn sie sich darauf beschränken würden, Bedürftigen unter die Arme zu greifen. Das Kernproblem unserer Sozialsysteme ist gerade auch im Bereich des Gesundheitswesens und der gesetzlichen Krankenversicherung, daß die Krankenversicherung zwar solidarisch finanziert wird, in weiten Bereichen aber unsolidarisch in Anspruch genommen wird. Es geht darum, diese unsolidarische Inanspruchnahme zurückzuschneiden.
Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen, wo man verändern kann, ohne die solidarische Hilfe für Bedürftige, Kranke, Schwache und Pflegebedürftige zurückzuschrauben. Es ist geradezu ein Treppenwitz der Geschichte, meine Damen und Herren, daß hier von einer Politik gegen Schwache, Kranke und Behinderte gesprochen wird, und das kurz vor dem Zeitpunkt, zu dem trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage in der Bundesrepublik Deutschland am 1. Juli die fünfte Säule unseres sozialen Sicherungssystems in Kraft gesetzt wird, nämlich die gesetzliche Pflegeversicherung, die Kranken, Behinderten und Pflegebedürftigen in der Größenordnung von 32 Milliarden DM unter die Anne greift. Das ist wirklich solidarische Hilfe, meine Damen und Herren.
Ich sprach von unsolidarischer Inanspruchnahme, beispielsweise der Krankenversicherung. Glaubt denn jemand im Ernst, meine Damen und Herren, daß die Steigerung der Kurausgaben in der Krankenversicherung in den letzten drei Jahren um 50 Prozent medizinisch indiziert ist?
Ich kenne Menschen, die alle zwei Jahre auf Kur gehen. Ich kenne aber auch Menschen, die noch nie in ihrem Leben auf Kur waren. Deshalb müssen wir die Kurinanspruchnahme wieder auf die medizinischen Notwendigkeiten zurückführen, weil das sonst ungerecht ist.
Für den Bestand der Kureinrichtungen und der Kurorte brauchen wir nicht 50 Prozent Steigerung, es reichen auch 5 Prozent.
Ist es nicht unsolidarisch, meine Damen und Herren, wenn die Fahrtkosten in der gesetzlichen Krankenversicherung in den letzten Jahren um mehr als 40 Prozent gestiegen sind? Das ist Ausdruck eines zunehmenden Egoismus, eines Abbaus der Solidarität in unserer Gesellschaft. Vielfach wird nicht mehr die Frage gestellt, ob der Sohn oder die Tochter die Mutter vom Krankenhaus nach Hause fahren kann, sondern es wird sofort nach dem Krankentransportwagen oder nach dem Taxi gerufen. Wir brauchen
Bundesminister Horst Seehofer
wieder ein Stück mehr Solidarität, mehr Eigenverantwortung auf diesem Sektor.
Ist es denn richtig, meine Damen und Herren, wenn für jede Störung des Wohlbefindens und für jede Zerrung beim Freizeitsport am Wochenende am Montag zur Erhöhung des Wohlbefindens durch Massagen die gesetzliche Krankenversicherung eintritt? Dafür ist doch eine Zwangsversicherung nicht da.
Eine solidarische Versicherung ist auch nicht dazu da, Kochkurse, Yogaübungen, Fußreflexmassagen und ähnliches zu finanzieren. Die gesetzliche Krankenversicherung ist nicht für die Sportförderung und zur Finanzierung des Freizeitparks in der Bundesrepublik Deutschland verantwortlich.
Wir wollen, daß die Sozialversicherung wieder auf das Fundament der christlichen Soziallehre zurückgeführt wird - diese Identität fehlt Ihnen -, nämlich Menschen zu helfen, wo sich Menschen zwar helfen wollen, aber nicht helfen können, insbesondere Behinderte, Pflegebedürftige und kranke Menschen.