Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor zwei Wochen haben hier in Bonn 350 000 Menschen demonstriert, für Arbeit und für soziale Gerechtigkeit. Auch heute protestieren die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überall im Lande gegen das Kürzungspaket der Bundesregierung.
Und was haben sie vorhin erlebt? Da steht der Bundesarbeitsminister hier und rufend flammend in den Saal: „Völker, höret die Signale!"
Hunderttausende von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern protestieren gegen die Politik der sozialen Ungerechtigkeit, in klassischer Tradition der Arbeiterbewegung, und Sie stehen hier und rufen: „Völker, höret die Signale! " Dabei schauen Sie zur Opposition. Sie hätten in die andere Richtung schauen müssen, Herr Bundesarbeitsminister. Sie haben doch Wasser in den Ohren gegenüber dem, was dieser Tage in Deutschland auf der Straße passiert.
Im Gegensatz zu Ihnen haben die Menschen erkannt, worum es geht. Es geht um den sozialen Frieden unseres Landes. Es geht um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Es geht um die Stabilität unserer Demokratie. Deshalb stehen wir mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und mit all den Menschen, die in diesen Tagen gegen die Politik der sozialen Ungerechtigkeit protestieren, Seite an Seite.
Das ist nicht der sogenannte Druck der Straße. Das sind keine „Berufsnörgler", wie Sie sagen. Der Protest kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Wer diesen Widerstand der Menschen diffamiert, der zeigt
nur, daß er die soziale Wirklichkeit in Deutschland nicht kennt.
Die beiden christlichen Kirchen haben in einem gemeinsamen Papier die soziale Lage in Deutschland beschrieben. Sie stellen fest, daß es einen tiefen Riß gibt in unserem Lande und eine Spaltung der Gesellschaft in Reiche und Benachteiligte.
Die Kirchen haben recht.
Noch nie gab es so viele Arbeitslose in diesem Land und soviel Armut. Noch nie hat der Staat die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so sehr belastet wie jetzt, und noch nie gab es soviel soziale Ungerechtigkeit.
Wir wollen nicht, daß unsere Gesellschaft immer ungerechter wird. Wir wollen nicht, daß der soziale Friede zerstört wird. Deshalb trifft das Kürzungspaket der Bundesregierung auf unseren Widerstand und auf den Widerstand der Mehrheit in unserer Gesellschaft.
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind verbittert darüber, daß die Bundesregierung das „Bündnis für Arbeit" zurückgewiesen hat.
Mit einer moderaten Lohnpolitik haben die Gewerkschaften gezeigt, daß sie sich ihrer beschäftigungspolitischen Verantwortung bewußt sind. Deshalb verdienen die Gewerkschaften unseren Dank und unsere solidarische Unterstützung.
Verehrter Herr Bundesarbeitsminister, Sie haben ja recht, wenn Sie von hier aus noch einmal das „Bündnis für Arbeit" beschwören und erklären, ohne die Gewerkschaften gehe es nicht. Aber was war denn das für eine Politik, bis zu den letzten Landtagswahlen die Gewerkschaften zu mißbrauchen und ihnen dann in die ausgestreckte Hand zu spukken? Das haben Sie getan.
Es darf sich niemand darüber wundern, daß die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer diese Kampfansage angenommen haben und jetzt Widerstand leisten. Die Bundesregierung trägt die Verantwortung dafür, daß sich das soziale Klima in Deutschland besorgniserregend verschärft hat. Wir fordern die Bundesregierung auf: Beenden Sie Ihre Politik der sozialen Ungerechtigkeit, stoppen Sie Ihre Pläne zum Abbau der Arbeitnehmerrechte. Diejenigen, die auf die
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Straße gegangen sind, sind nicht jene, die nicht einsehen würden, daß angesichts der Explosion der Staatsverschuldung gespart werden muß. Behaupten Sie doch nicht solch falsche Dinge. Nur, die Menschen haben ein genaues Gefühl für soziale Gerechtigkeit.
Sie wollen eines nicht, daß immer nur bei den sozial Schwachen gekürzt wird, während bei denen, die Vermögen oder hohe Einkommen haben, immer nur draufgesattelt wird. Dies wollen die Menschen in unserem Lande nicht.
Verehrter Herr Bundesarbeitsminister, wenn Sie hier gefragt haben: „Wo sind denn die Sparvorschläge der Länder der SPD?", dann muß ich Sie fragen: Wo leben Sie eigentlich? In welchem Lande leben Sie eigentlich?
Haben Sie eigentlich bei all Ihren Auftritten überhaupt noch die Möglichkeit, sich vor Ort einmal anzusehen, was derzeit in den Gemeinden und in den Ländern auf Grund Ihrer verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik alles geschieht?
Die Sozialhaushalte der Gemeinden explodieren, sie müssen Büchereien schließen, sie müssen kulturelle Einrichtungen schließen, sie müssen Schwimmbäder schließen, sie müssen den Bau von Kindertagesstätten hinausschieben usw. Und da steht der Bundesarbeitsminister hier und fragt: Wo wird denn gespart? Wo sind denn Ihre Sparvorschläge? - Die Länder müssen die Haushalte zurückfahren, sie müssen bei der Polizei kürzen, bei den Krankenhäusern kürzen, bei den Finanzämtern kürzen, leider auch bei Schulen und Universitäten. Und da steht hier wirklich jemand wie ein Kasper und fragt: Wo wird denn gespart? - Reden Sie doch nicht einen solchen Unsinn!
Ich kann Ihnen sagen, was die Menschen in diesem Lande verärgert.
Ich kann die Frage zurückgeben: Wo sind denn Ihre Sparvorschläge für die Vermögenden und Wohlhabenden dieser Gesellschaft? Wo sind sie denn?
Ihre Wirtschaftspolitik ist erkennbar eine Wirtschaftspolitik, die darauf setzt, daß man den Vermögenden und Einkommensstarken weiterhin Geschenke geben und bei den Sozialhilfeempfängern, bei den Rentnern und denjenigen, die keine Arbeit haben, kürzen soll.
Sie meinen, diese Wirtschaftspolitik gehe auf. Sie haben diese Politik jetzt seit 14 Jahren versucht, und das Ergebnis ist immer höhere Arbeitslosigkeit, immer höhere Staatsverschuldung, immer höhere Steuer- und Abgabenlast. Wann begreifen Sie endlich, daß Ihre verfehlte Wirtschaftspolitik die Grundlage für die Krise der Staatsfinanzen geschaffen hat?
Die Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Fabriken und Verwaltungen, die vielen Selbständigen in Mittelstand und Handwerk, das sind die eigentlichen Leistungsträger unserer Gesellschaft. Ihrer Arbeit und ihrer Einsatzbereitschaft verdanken wir unseren Wohlstand. Deshalb dürfen wir nicht zulassen, daß diese Menschen durch Steuern und Abgaben immer stärker belastet werden. Im Gegenteil: Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, daß die Steuer- und Abgabenbelastung der breiten Mehrheit unseres Volkes endlich spürbar gesenkt wird.
Selbstverständlich müssen Wirtschaftlichkeit und Zielgenauigkeit des Sozialstaates verbessert werden. Der Mißbrauch sozialer Leistungen muß bekämpft werden, aber genauso Steuerhinterziehung und Subventionsbetrug.
Wir wollen eine Modernisierung des Sozialstaates. Aber eine Zerstörung der sozialen Grundlagen unserer Gesellschaft kommt mit uns nicht in Frage.
Die Menschen brauchen soziale Sicherheit; denn Sicherheit schafft Freiheit. Deshalb sagen wir: Die soziale Sicherheit in unserem Lande darf nicht aufgekündigt werden.
Meine Damen und Herren, die soziale Sicherheit ist teuer geworden, sagen Sie. Wir sagen nicht: „Die soziale Sicherheit ist teuer geworden" , sondern wir sagen: Die hohe Arbeitslosigkeit ist es, die die finanziellen Grundlagen unseres Staates untergräbt.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Mit über 150 Milliarden DM pro Jahr belastet die Arbeitslosigkeit die öffentlichen Kassen. Das ist weit mehr, als alle Sparpakete je hereinbringen können. Deshalb appelliere ich an Sie: Begreifen Sie das doch endlich! Wenn es nicht gelingt, die Arbeitslosigkeit abzubauen, dann können Sie noch so viel kürzen und noch so viel streichen, die Arbeitslosigkeit wird immer weiter ansteigen, und die Staatsschulden wer- den immer weiter explodieren.
Mit dem Sparaktionismus der Bundesregierung sind die Probleme unseres Landes nicht zu lösen. Der Schlüssel zur Sanierung der Staatsfinanzen und zur Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme liegt nun einmal in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Arbeitsplätze sichern und neue Arbeitsplätze schaffen, das muß in den Mittelpunkt der Politik gestellt werden.
Wir sind überzeugt: Dieses Kürzungspaket schafft keine neuen Arbeitsplätze.
Schon heute fehlen in ganz Deutschland über 6 Millionen Arbeitsplätze. Die Sachverständigen sagen, daß die Arbeitslosigkeit mit Ihrer Politik weiter ansteigen wird. Sie liegt heute um 360 000 höher als vor einem Jahr, und für das nächste Jahr - das ist das Zeugnis, das Ihnen die Sachverständigen ausstellen - gehen die Sachverständigen davon aus, daß die Arbeitslosenzahl um weitere 300 000 ansteigen wird. Das heißt, niemand glaubt daran, daß Ihr Paket zum Abbau der Arbeitslosigkeit führen wird.
Wir dürfen uns mit der hohen Arbeitslosigkeit nicht abfinden. Die Menschen wollen arbeiten. Sie haben einen Anspruch darauf, daß dafür die politischen Voraussetzungen geschaffen werden.
Mit einer Verschlechterung des Kündigungsschutzes und mit Eingriffen bei der Lohnfortzahlung werden keine Arbeitsplätze geschaffen. Im Gegenteil: Diese Maßnahmen schaden der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit unseres Landes.
Der Abbau des Kündigungsschutzes bedeutet, daß Millionen Arbeitnehmer nach Belieben geheuert und gefeuert werden können. Das verunsichert die Arbeitnehmer und verschlechtert das Betriebsklima.
Das gleiche gilt für die Kürzung der Lohnfortzahlung. Das wichtigste Kapital der Unternehmen, vor allem im Mittelstand und im Handwerk, sind gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Von ihrem beruflichen Einsatz, von ihrer Motivation hängt es ab, ob ein Unternehmen Erfolg hat oder nicht. Wer durch Eingriffe beim Kündigungsschutz und bei der Lohnfortzahlung die Belegschaften verunsichert und das Betriebsklima verschlechtert, belastet die Leistungsbereitschaft und die Motivation der Beschäftigten. Das müssen Sie endlich begreifen.
Deshalb liegt es im gemeinsamen Interesse von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, daß wir die Bundesregierung auffordern: Unterlassen Sie den geplanten Abbau der Arbeitnehmerschutzrechte. Zerstören Sie nicht die Partnerschaft in den Betrieben.
Meine Damen und Herren, von dem Kürzungspaket der Bundesregierung sind die Frauen ganz besonders betroffen.
Die vorzeitige Anhebung der Altersgrenze bedeutet für die Frauen, die ab 1940 geboren sind, eine erhebliche Verschlechterung ihrer Altersversorgung. Wegen der niedrigen Frauenrenten werden viele die geplanten Rentenkürzungen nicht verkraften. Die Durchschnittsrente der Frauen im Westen liegt derzeit bei 800 DM. Ich sage das noch einmal - vielleicht wissen Sie das nicht -: Die Durchschnittsrenten der Frauen im Westen liegen derzeit bei 800 DM. Bei denen, die zukünftig in das Rentenalter eintreten, wird die Rente etwas höher liegen, bei 1 000 oder 1 200 DM.
Haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon, was es heißt, mit einer Kürzung von etwa 18 Prozent zu drohen? Wissen Sie, wohin wir gekommen sind? Wir sind während Ihrer Regierungszeit dahin gekommen, daß diejenigen, die kleine Renten haben, die Sozialhilfe beziehen, die Arbeitslosenhilfe beziehen, als Besitzstandswahrer diffamiert werden, während die Vermögenden und Reichen dieser Gesellschaft zu Leistungsträgern werden, die offensichtlich keinen Besitz verteidigen.
Ihre Planungen zwingen viele Frauen, länger zu arbeiten. Das wirft ihre Lebensplanung durcheinander. Aber manchmal möchte man verzweifelt fragen: Begreifen Sie überhaupt noch, was das für die einzelnen Menschen bedeutet, die davon betroffen sind?
Auch wenn die Bundesregierung ihre falsche Entscheidung wohl auch wegen verfassungsrechtlicher Bedenken nachträglich um drei Jahre verschoben hat, so ist hier ein erheblicher Vertrauensschaden entstanden.
Mit der einseitigen Aufkündigung des Rentenkompromisses von 1992 hat die Bundesregierung das
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Vertrauen in die Sicherheit der Renten beschädigt. Mit der Verlängerung der Lebensarbeitszeit der Älteren trägt sie Verantwortung dafür, daß viele Jugendliche keine Chance auf einen Arbeitsplatz erhalten.
Auch bei der geplanten Verschlechterung des Kündigungsschutzes werden die Frauen die Hauptleidtragenden sein. In Friseursalons, Arzt- und Rechtsanwaltspraxen und in vielen anderen Dienstleistungsbetrieben arbeiten zum großen Teil Frauen. Für viele von ihnen soll jetzt das Prinzip des Heuerns und Feuerns Alltagserfahrung werden.
Auch die geplanten Kürzungen bei der Arbeitsförderung gehen vor allem zu Lasten der Frauen in Ostdeutschland. Dort sind 650 000 Frauen arbeitslos gemeldet. Das ist eine Quote von fast 20 Prozent. Meine Damen und Herren von der Koalition, begreifen Sie endlich: Ihre Politik ist zutiefst frauenfeindlich.
Gestern hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß zahlreiche Mütter bei der Festsetzung ihrer Renten verfassungswidrig benachteiligt worden sind.
Ihre Kindererziehungszeiten wurden nicht ausreichend anerkannt. Es paßt ins Bild dieser frauenfeindlichen Politik, daß man das Bundesverfassungsgericht braucht, um die Benachteiligung der Frauen zu korrigieren.
Der Vorgang in seiner ganzen Tragweite ist Ihnen offensichtlich gar nicht klar. Zum dritten Mal sagt das Bundesverfassungsgericht, daß Ihre Politik gegen die soziale Gerechtigkeit in unserem Lande verstößt. Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen gesagt, daß Sie die Familien benachteiligen. Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen gesagt, daß Sie nicht wissen, wie hoch das Existenzminimum ist, das steuerfrei bleiben muß, damit sich die Menschen ernähren können. Nun sagt Ihnen das Bundesverfassungsgericht, daß Sie die Frauen in nicht zulässiger Weise benachteiligen. Welch ein Urteil über Ihre Politik!
Wie die Bundesregierung die Familien mit Kindern behandelt, ist unverantwortlich. Sie wollen den Familien die notwendige Erhöhung des Kindergeldes verweigern, und gleichzeitig wollen Sie den Vermögensmillionären die Vermögensteuer erlassen.
- Daß die F.D.P. dabei schreit, ist verständlich. Aber es gibt noch mehr als 5 Prozent in dieser Gesellschaft. Es gibt noch 95 Prozent, die das ganz anders sehen als Sie.
Dieses Kürzungspaket hat eine schwere soziale Schieflage. Wir werden diese familienfeindliche Politik nicht zulassen.
Wir werden sicherstellen, daß Familien mit Kindern zu ihrem Recht kommen. Wir werden dafür sorgen, daß das Kindergeld wie versprochen und vereinbart zum 1. Januar nächsten Jahres auf 220 DM pro Monat erhöht wird.
Mit der Politik der Bundesregierung ist die Beschäftigungskrise nicht zu überwinden. Die Arbeitslosigkeit steigt Jahr für Jahr; dennoch sind Sie nicht bereit, Ihre Wirtschaftspolitik zu korrigieren.
Dieser Bundesregierung geht es vor allem um die Interessen von Vermögensmillionären und denen, die hohe Einkommen beziehen.
Um die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung geht es Ihnen nicht. Arbeitnehmer und Familien, Rentner und Arbeitslose, Frauen und Jugendliche geraten bei dieser Bundesregierung immer mehr unter die Räder.
Die Bundesregierung behauptet, ihr Kürzungspaket sei zur Sicherung des Standortes Deutschland notwendig. Wir sagen dagegen: Es gibt keinen Zwang, die soziale Sicherheit und die soziale Gerechtigkeit der Globalisierung zu opfern.
Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung folgt einer Irrlehre. Mit dieser Politik wird eine verhängnisvolle Abwärtsspirale in Gang gesetzt. Wenn in allen Staaten die Reallöhne und die Steuern immer weiter nach unten gehen, wird auch die Binnennachfrage immer weiter geschwächt.
Die Folge sind Rezession, höhere Arbeitslosigkeit und steigende Staatsverschuldung.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Wenn die sozialen Leistungen und der Umweltschutz in allen Staaten immer weiter zurückgeführt werden, dann untergräbt dieser realwirtschaftliche Abwertungswettlauf auch die sozialen und ökologischen Grundlagen der Industriestaaten.
Bei diesem Abwertungswettlauf der Nationalstaaten kann keiner gewinnen. Am Ende werden alle Länder verlieren. Insbesondere verlieren die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie haben nicht die hohe Mobilität des Kapitals, sie können ihren Arbeitsplatz und ihren Wohnort nicht einfach von heute auf morgen in ein anderes Land verlegen. Deshalb begrüßen wir die Verabschiedung der Entsenderichtlinien auf europäischer Ebene und sagen noch einmal: Es muß etwas für die Bauarbeiter in unserem Land geschehen, die um ihren Arbeitsplatz fürchten. Es muß endlich etwas geschehen!
Auf den Einwand der F.D.P., es fänden Verstöße gegen marktwirtschaftliche Prinzipien statt, erwidere ich: Ich wünschte mir, Sie hier einmal durch polnische oder portugiesische Abgeordnete, die für 600 DM arbeiten, zu ersetzen, damit Ihr Hirn etwas in Bewegung käme.
Auf all die marktwirtschaftlichen Argumente, die Sie hier anführen, entgegnen wir Ihnen: Menschen sind keine Ware. Sie können Menschen nicht nach den platten Kategorien ökonomischer Rationalität behandeln.
Die konservative Standortpolitik hat auf die Globalisierung der Märkte mit einer Renationalisierung der Politik reagiert. Kohl sagte schon mehrfach: „Beschäftigungspolitik machen wir zu Hause." Was ist das eigentlich für eine Logik, jeden Tag die Globalisierung zu beschwören und dann zu sagen: „Beschäftigungspolitik machen wir zu Hause"? Wer die Gesetzmäßigkeiten der internationalen wirtschaftlichen Tätigkeit so sehr verkannt hat, der kann die Probleme der Arbeitslosigkeit in Deutschland nicht lösen.
Natürlich müssen wir auch in Deutschland die Weichen für mehr Wachstum und Beschäftigung stellen. Wir brauchen Steuersenkungen für Arbeitnehmer und Familien. So können wir die Kaufkraft verbessern und die Binnenkonjunktur in Gang bringen.
Wir brauchen eine sofortige Senkung der Lohnnebenkosten.
Dadurch entlasten wir alle Arbeitnehmer und alle Betriebe. Das schafft vor allem im Mittelstand und im Handwerk neue Arbeitsplätze. Außerdem brauchen wir eine moderne Innovationspolitik.
Wir brauchen größere Anstrengungen im Bereich von Forschung und Entwicklung, von Bildung und Wissenschaft.
Denn die Schlüsselbegriffe der Zukunft heißen Innovation, technischer Fortschritt und Qualifikation.
Wir haben schon öfters darauf hingewiesen, daß die Forschungsausgaben der Industrie zurückgehen und auch die Forschungsausgaben des Bundes immer weiter zurückgefallen sind. Ich kann hier nur den Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft zitieren: Wenn man schon vom schlanken Staat redet, meine Damen und Herren, dann muß man bei dieser verordneten Schlankheitskur ja nicht beim Hirn beginnen.
In dem gesamten Gesetzespaket der Bundesregierung, das sinnigerweise Paket zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung heißt, kommt die Jugend überhaupt nicht vor.
In einer Zeit, in der Hunderttausende junger Menschen ohne Arbeits- und Ausbildungsplatz sind, ist das ein einmaliger Vorgang. Die Jugend kommt in ihrem ganzen Paket überhaupt nicht vor.
Die Jugend ist die Zukunft unseres Landes. Deshalb ist es unverantwortlich, daß die Bundesregierung Jugendlichen keine Perspektive für Arbeit und Qualifikation bietet. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit ist Zeichen eines schwerwiegenden Versagens der Bundesregierung.
Ich möchte auch ein Wort an die Vertreter der Wirtschaft richten. Wer täglich über den Standort Deutschland klagt, aber selbst nicht bereit ist, in die Ausbildung junger Menschen zu investieren, der macht sich für uns total unglaubwürdig.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine
Angesichts der schwierigen Wirtschaftslage in den neuen Ländern ist es auch unverständlich, daß das Paket der Bundesregierung wenig darüber aussagt, wie es mit dem Aufbau Ost weitergehen kann. Ein besonderes Problem sind die sogenannten Altschulden der Städte und Gemeinden. Wenn wir dazu beitragen, daß die ostdeutschen Gemeinden keine Investitionen mehr für ihre Bürger und in die Wirtschaft tätigen, machen wir uns einer Fehlentscheidung schuldig. Wir brauchen endlich eine Lösung dieser Frage. Deshalb bedauern wir Ihre Entscheidung vom gestrigen Tage. Machen Sie endlich den Weg für die Entschuldung der ostdeutschen Gemeinden frei, damit sie wieder investieren können.
Ich will noch ein anderes Thema ansprechen, das für die gesellschaftliche Entwicklung unseres Landes von größter Bedeutung ist. Sie sprachen von Motivation. Wir plädieren für eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Gewinn und am Kapital der Unternehmen. Die großen Unternehmerpersönlichkeiten Deutschlands haben es doch vorgemacht. Beispielhaft nenne ich Philip Rosenthal und Reinhard Mohn. Die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivvermögen ist eine gesellschaftliche Reform, die wir jetzt endlich in Angriff nehmen müssen.
Meine Damen und Herren, gesellschaftlicher Konsens und Soziale Marktwirtschaft sind die Grundlagen für die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft und für die Stabilität unserer Demokratie. Deshalb stellen wir uns jedem Versuch entgegen, der Marktwirtschaft ihre soziale Verantwortung zu nehmen. Wir fordern .die Koalition zur Umkehr auf. Wer das Soziale in unserem Staat in Frage stellt, der stellt auch Freiheit und Demokratie in Frage.
Noch einmal sagen wir Ihnen: Die Hunderttausende, die jetzt auf die Straße gehen, verschließen sich nicht der Notwendigkeit, in Zeiten explodierender Staatsverschuldung auch Kürzungsmaßnahmen hinzunehmen. Ich habe Ihnen gesagt, wie es in den Gemeinden und Ländern Tag für Tag aussieht. Was die Menschen aber wollen, ist, daß die soziale Gerechtigkeit in unserem Lande beachtet wird; denn sie war, ist und bleibt die Grundlage einer stabilen Demokratie in Deutschland.