Rede von
Michael
Müller
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der TschernobylKatastrophe wurde das wahr, was bis dahin viele Millionen Menschen nur befürchtet hatten, nämlich, um den früheren Umweltminister Klaus Töpfer zu zitieren, die „Realisierung des Hypothetischen". Bei der Reaktorkatastrophe am 26. April 1986 kam es nicht zu dem größten anzunehmenden, sondern zu dem größten nicht angenommenen Unfall, wenn man sich die damalige Wirklichkeit vor Augen hält.
An diesem Tag ist den Menschen nicht nur der Schrecken, wie noch 1979 bei Harrisburg, sondern diesmal auch die Strahlung in die Knochen gefahren.
Dies hat vieles bewirkt: Seitdem gibt es einen Konsens in unserem Land, der angeblich erst notwendig
Michael Müller
wäre, nämlich einen Konsens für den Ausstieg aus der Atomkraft.
Wer einen Konsens will, der muß jetzt Schritte in eine Effizienzrevolution, muß Schritte in die Solarenergie, muß Schritte in ein Energiesystem ohne Atomkraft wollen. Denn nur so ist der notwendige Energiekonsens in unserem Land herzustellen.
Ich füge hinzu: Nur so ist es auch glaubwürdig, wenn man international eine Veränderung der Energieversorgung und insbesondere in den GUS-Staaten einen Ausstieg aus der Atomkraft erreichen will.
Es ist nicht stimmig, für den höchstmöglichen Sicherheitsstandard einzutreten, aber gleichzeitig an dieser riskanten Technologie festzuhalten. Denn wer die Risiken der Atomkraft auf den Reaktor von Tschernobyl reduziert, hat nicht begriffen, daß Tschernobyl nur beispielhaft für die Risiken einer ganzen Techniklinie steht. Das ist die eigentliche Dimension.
Es mag durchaus sein, daß sich die Sicherheit in einigen Ländern erhöht hat. Wer streitet das ab? Aber bei der Bewertung der Sicherheit ist nicht nur die Frage der Eintrittswahrscheinlichkeit entscheidend, sondern - das hat uns Tschernobyl in brutaler Weise gelehrt - genauso der Schadensumfang.
Im Gegenteil, der mögliche Schadensumfang ist sogar die wichtigere Größe, um zu entscheiden: „Wir wollen aus der Atomkraft aussteigen." Denn mag die Eintrittswahrscheinlichkeit noch so gering sein, niemand streitet ab, daß sie vorhanden ist. Das eigentlich Entscheidende ist, daß damit Gefahren verbunden sind, die niemand verantworten kann. Deshalb muß man aus dieser Art der Energieversorgung aussteigen.
Der Ausbau der Atomenergie ist eine politische Entscheidung gewesen, an dessen Beginn die Atombombe stand. Wir wissen, daß das Programm „Atoms for peace" von Eisenhower aus dem Jahre 1953 in erster Linie der Ablenkung von den militärischen Zielen dienen sollte. Anders ist nicht zu erklären, daß mit einem solch gewaltigen Aufwand nichts anderes gemacht wird, als gewöhnlichen Wasserdampf zu erzeugen, der Turbinen antreibt, um mechanische Energie in elektrische umzuwandeln, und zwar mit einer Energieform, die erstens riskant und zweitens - das ist für die Bewertung der zukünftigen Energiepolitik wichtig - völlig ineffizient ist.
Hätte die Menschheit nur einen Bruchteil dieser Kreativität und dieser Gelder darauf konzentriert, den Sprung in die solare Zukunft zu machen, wären wir heute in der weltweiten Energieversorgung wesentliche Schritte weiter.
Wir warnen davor, Tschernobyl auf einen Einzelfall maroder sowjetischer Technik zu reduzieren. Wer dies tut, vergißt, daß sich beispielsweise auch in den USA Unfälle ereignet haben. Ich nenne als Beispiele nur die Reaktoren von Browns Ferry und Fermi oder auch Harrisburg, wo es letztlich nur Glück war, daß nach vier durchkämpften Tagen und Nächten eine Katastrophe verhindert werden konnte.
Alle Berichte zeigen, daß die Welt einem Super-GAU ganz nahe war. Ich erinnere ferner daran, daß auch nach Tschernobyl allein in der GUS über 380 schwere Vorfälle zu verzeichnen waren. Ich erinnere auch daran, daß erst in jüngster Zeit in Japan schwere atomare Zwischenfälle im Nuklearkomplex zu vermelden waren.
Wer die Katastrophe von Tschernobyl auf einen einzelnen Reaktor reduziert, hat nicht begriffen, daß es stets um ein sehr komplexes, riskantes Verhältnis zwischen Technik, Wissen und möglichem menschlichen Versagen geht.
Nur wenige Wochen vor dem Tschernobyl-Unfall haben deutsche Techniker den Reaktoren in der Sowjetunion einen Sicherheitsstandard bescheinigt, der vergleichbar mit dem westlichen sei. Auch heute darf die Atomenergie nicht auf die Technik reduziert werden. Denn wir wissen aus den Berichten: Es war in erster Linie menschliches Versagen.
Wer sich die Brandkatastrophe von Düsseldorf vor Augen hält, obwohl sie in ihrer Dimension überhaupt nicht mit Tschernobyl vergleichbar ist, der kann nicht sagen, daß menschliches Versagen in einer komplexen Industriegesellschaft auszuschließen ist.
Insofern heißt verantwortbarer Umgang mit Technik immer Auswählen, Gestalten und Risikominimierung. Das ist das Gegenteil von dem, was leider tatsächlich geschieht.
Ich füge hinzu: Der Ausstieg ist möglich. Ich will das an einem konkreten Beispiel aufzeigen. Der 14. Dezember 1994 war der Tag mit der höchsten Jahresstromlast. An diesem Tag wurden in der Bundesrepublik 61 000 Megawatt Strom nachgefragt. An diesem Tag standen knapp 100 000 Megawatt Strom zur Verfügung. Selbst wenn ich eine gewisse Reserve
Michael Müller
berücksichtige und die Verträge mit dem Ausland einbeziehe, muß ich feststellen, daß der verbleibende Rest ausgereicht hätte, um aus der Atomkraft auszusteigen. Wir können aussteigen - ohne einen Verlust an Versorgungssicherheit.
Was bleibt, ist die Debatte über die Klimaveränderungen. Das ist der Hoffnungsanker, an dem sich die deutsche Atomindustrie hochzieht.
- Ich könnte jetzt als Antwort Aussagen von Herrn Schäuble zitieren. Aber ich lasse das, weil ich hier unsere Argumente vortragen will.
Wenn man aus der Atomenergie ganz schnell aussteigen würde, dann - das bestreitet niemand -, stiegen kurzfristig die Kohlendioxidemissionen an. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit.
Der andere, wichtigere Teil der Wahrheit ist, daß bei einem Festhalten an der Atomenergie die Klimaproblematik erst recht nicht lösbar wird - das ist der entscheidendere Punkt -, weil nämlich die atomare Energieversorgung Teil einer Struktur ist, die im Kern Energieeinsparungen und Solarenergie nicht zuläßt, sondern blockiert.
Wir wissen nämlich daß wir nur mit einer Wende hin zu Energieeinsparungen, zur rationellen Energieversorgung und hin zur Entwicklung und Durchsetzung der regenerativen Energien die Klimaprobleme lösen können. Die haben aber so lange keine Chance, solange die großen Stromverkäufer ihnen den Markt nehmen, weil sie keine Chance haben, sich durchzusetzen. Das ist die eigentliche Wahrheit.
Meine Damen und Herren, hoher Energieverbrauch ist kein Schicksal, sondern das Ergebnis einer falschen Politik. Hierin liegt der entscheidende Schlüssel zur Risikominimierung. Denn wer daran festhält, der muß wissen - das zeigen alle Szenarien, beispielsweise auch der Weltenergiekonferenzen -, daß wir dadurch in Zukunft nicht nur die Klimakatastrophe nicht verhindern können, sondern gleichzeitig einem neuen Tschernobyl näherkommen. Dies vermehrt die Risiken und steigert sie.
Meine Damen und Herren, der Verhaltensforscher Konrad Lorenz hat folgende Feststellung gemacht:
Es kann nur Leute geben, die gegen die Atomkraft sind. Oder es gibt solche, die darüber noch nicht nachgedacht haben.
Ich meine, das ist unverändert richtig.