Rede von
Dr.
Angela
Merkel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Ich wiederhole: Die Bundesregierung hat die Sorge der eigenen Bevölkerung ernstgenommen. Wir wissen heute, daß trotz des radioaktiven Niederschlags die Strahlenbelastung in Deutschland durch den Unfall nicht größer war als eine zusätzliche Jahresdosis natürlicher Strahlung. Allerdings sind Waldfrüchte und Wild in einigen Gebieten südlich der Donau auch heute noch relativ hoch belastet.
Unmittelbar nach dem Unfall haben wir die gesetzlichen Grundlagen für ein bundesweit einheitliches und koordiniertes Vorgehen geschaffen. Es wurde das umfassende Meß- und Informationssystem, das sogenannte IMIS-System, errichtet, das nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland arbeitet, sondern heute bis nach Rußland reicht, wodurch ein umfassender internationaler Datenaustausch gewährleistet ist.
Wir haben unsere Kernkraftwerke durch die Reaktor-Sicherheitskommission überprüfen lassen und konnten feststellen, daß sich die Sicherheitskonzeption deutscher Kernkraftwerke grundlegend von denen des Tschernobyl-Typs unterscheidet und daß deshalb für die Sicherheitskonzeption deutscher Kernkraftwerke aus dem Unfall keine Konsequenzen zu ziehen sind.
Aber wir haben trotzdem zusätzliche Anstrengungen unternommen, um einen noch höheren Grad an Gewißheit zu schaffen, daß sich ein solcher Unfall nicht wieder ereignen kann. Es wurden Maßnahmen eingeführt, mit denen auch beim Ausfall aller Sicherheitseinrichtungen noch Schäden verhindert werden können.
1994 wurde das Atomgesetz geändert. Künftige Reaktoren werden nur noch dann genehmigt, wenn bei ihnen auch die Folgen eines noch so unwahrscheinlichen Unfalls auf die Anlage beschränkt bleiben.
Aber, meine Damen und Herren, wir dürfen die Augen vor den Realitäten in Mittel- und Osteuropa nicht verschließen. Dort sind 60 Kernkraftwerke sowjetischer Bauart in Betrieb; neun weitere sind in Bau. Insgesamt wird in diesen Ländern auf den weiteren Ausbau der Kernenergie gesetzt. Damit ist klar: Wir in der Bundesrepublik Deutschland sind nicht allein auf der Welt, und wir können anderen Ländern auch nicht diktieren, was diese zu tun oder zu lassen haben.
Der Moskauer Gipfel hat deutlich gemacht - ich halte dies für außerordentlich wichtig -, daß nachhaltige Verbesserungen bei der Reaktorsicherheit nur im Rahmen umfassender Reformen der Energieversorgung insgesamt erreichbar sind. Angesichts der schwierigen Energielage einiger Länder reicht es eben nicht aus, einfach die Abschaltung aller Anlagen zu verlangen. Unsere Aufgabe heißt vielmehr: Entwicklung eines gemeinsamen Sicherheitsbewußtseins, und das in geduldiger Zusammenarbeit mit den betroffenen Ländern.
Die Bundesregierung hat von Anfang an auf die internationale Kooperation gesetzt. Auf Vorschlag des Bundeskanzlers fand schon im Herbst 1986 bei der Internationalen Atomenergieorganisation eine Sonderkonferenz statt. Sie führte dann zu zwei internationalen Konventionen, nämlich über die frühzeitige Benachrichtigung bei Unfällen und über die gegenseitige Hilfeleistung.
Die Folge dieser Konventionen waren zahlreiche bilaterale Abkommen über die Zusammenarbeit mit unseren östlichen Nachbarländern. Auch das 1994 abgeschlossene Übereinkommen über nukleare Sicherheit beruht auf einer Initiative der Bundesregierung.
Damit ist ein neues Kapitel in der internationalen Sicherheitszusammenarbeit aufgeschlagen; denn grundlegende Anforderungen der Reaktorsicherheit wurden völkerrechtlich verbindlich festgeschrieben. Alle Unterzeichner unterwerfen sich erstmals einem Überprüfungsprozeß, und die Bundesregierung hat den Gesetzentwurf zu dieser Konvention verabschiedet und dem Bundesrat zugeleitet. Ich erwarte die Ratifizierung noch in diesem Jahr.
In Ergänzung wird jetzt in Wien an einem Übereinkommen über eine sichere Entsorgung - auch das ist ein ganz wesentlicher Punkt - gearbeitet.
Als damaliger Vorsitzender der G-7-Staaten hat der Bundeskanzler die kerntechnische Sicherheit zum Thema des Weltwirtschaftsgipfels 1992 in München gemacht. Das dort beschlossene multilaterale Aktionsprogramm formulierte die Ziele und legte die Grundlage für die gesamte westliche Unterstützung. Es ist heute noch Basis der international abgestimmten Maßnahmen im Rahmen der G-7-Staaten, der G 24 und der Europäischen Union. Bei der Europäischen Bank in London wurde ein Fonds für kurzfristige technische Sicherheitsverbesserungen eingerichtet.
Die deutschen Leistungen für die betroffenen Menschen wie auch die Verbesserung der nuklearen Sicherheit setzen international Maßstäbe. Dies gilt auch für die bilaterale Hilfe.
1992 wurde ein Sofortprogramm und 1994 ein Investitionsprogramm aufgestellt. Beide Programme zielen darauf ab, die Betriebsführung zu verbessern sowie die Aufsichtsbehörden in die Lage zu versetzen, in den Ländern ihre Aufgaben besser wahrzunehmen.
Bundesministerin Dr. Angela Merkel
Wir dürfen nicht vergessen, meine Damen und Herren, daß es erst nach den grundlegenden politischen Veränderungen in Osteuropa für westliche Fachleute möglich wurde, einen tieferen Einblick in die Kernkraftwerke sowjetischer Bauart zu nehmen. Mit unseren Sicherheitsanalysen für die Reaktoren in Greifswald haben wir als erste eine umfassende Begutachtung solcher Anlagen nach unseren Maßstäben durchgeführt. Die Forschungsarbeiten im Rahmen der 1987 angelaufenen wissenschaftlich- technischen Zusammenarbeit kamen uns dabei zugute. Die Reaktoren wurden daraufhin abgeschaltet, und zwar weil die deutschen EVU keine wirtschaftliche Basis für die nötigen umfangreichen Nachrüstmaßnahmen gesehen haben.
Die bisherige Bilanz unserer Hilfe, die immer nur - ich betone das - Hilfe zur Selbsthilfe in diesen Ländern sein kann, ist überzeugend. Wir haben Erfolge vorzuweisen, auch wenn der Reformprozeß und der Bewußtseinswandel in den betroffenen Ländern zäher verlaufen, als wir es uns wünschen. Ich kann nur alle in diesem Parlament bitten, sich an diesem Prozeß zu beteiligen; denn das ist von außerordentlicher Wichtigkeit.
Deutschland ist das größte Geberland und hat insgesamt mehr als ein Viertel aller Zuschüsse geleistet. Aus dem Bereich der Europäischen Union kommen rund drei Viertel der Hilfen. Insgesamt wurden an bilateralen und multilateralen Zuschüssen bisher mehr als 2,1 Milliarden DM aufgebracht. Von den 944 Projekten, die wir ins Auge gefaßt haben, sind 228 jetzt abgeschlossen.
Ein Drittel dieser Maßnahmen entfällt auf die Verbesserung der Betriebssicherheit, ein weiteres Drittel auf kurzfristige technische Sicherheitsverbesserungen, und der verbleibende Betrag wird für den Aufbau unabhängiger Aufsichtsbehörden, für Strahlenschutz und Entsorgung eingesetzt.
Unsere Anstrengungen - Sie wissen das - konzentrieren sich besonders auf die Ukraine. Wir haben nach schweren Verhandlungen im letzten Jahr ein Memorandum of Understanding vereinbart, das besagt, daß die Schließung des Reaktors in Tschernobyl bis zum Jahre 2000 stattfinden soll. Aber dies ist eingebettet in eine umfangreiche Reform des gesamten Energiesektors der Ukraine. Es geht also nicht nur um den Kernenergiebereich, sondern es geht genauso um den konventionellen Bereich, wie zum Beispiel um die Sanierung von Wasser- und Kohlekraftwerken. Zu diesem Zweck haben wir eine umfangreiche Zusammenarbeit vereinbart.
Hierfür sind westliche Mittel in Höhe von 3,45 Milliarden DM zugesagt, davon rund 750 Millionen DM als Zuschüsse und 2,7 Milliarden DM als Kredite. Wir müssen jetzt alles daransetzen, daß das Memorandum of Understanding auch wirklich erfüllt wird, weil darin ein ganz wichtiger Schritt für die Glaubwürdigkeit unserer Hilfe für die mittel- und osteuropäischen Staaten zu sehen ist.
Der Moskauer Gipfel hat zehn Jahre nach Tschernobyl den 1992 in München eingeschlagenen Weg bestätigt. Der Gipfel in Moskau war ein bedeutender
Erfolg, weil er wichtige Impulse für die weitere Zusammenarbeit gegeben hat. Die Staats- und Regierungschefs haben zusammen mit dem russischen Präsidenten Jelzin ausdrücklich bekräftigt, daß die Sicherheit bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie Vorrang vor allen anderen Überlegungen haben muß und daß in erster Linie die Betreiber und der Staat, in dem die Anlage steht, für die Sicherheit verantwortlich sind. Es wurde betont, daß die von den G-7-Staaten mit der Ukraine getroffene Vereinbarung eingehalten wird; das wurde von Präsident Kutschma unterstrichen. Schließlich wurde vereinbart, daß die Zusammenarbeit zu einer Sicherheitspartnerschaft vertieft werden muß.
Unser Ziel bleibt unverändert - ich sage das mit aller Deutlichkeit -: Reaktoren mit nicht akzeptablen Sicherheitsrisiken müssen entweder nachgerüstet oder, falls dies nicht möglich ist, vom Netz genommen werden. Dies gilt nicht nur für den Reaktor in Tschernobyl.
Wir wissen, daß wir dies den Staaten nicht vorschreiben können; aber wir wollen es in enger Zusammenarbeit mit ihnen erreichen.
Der Moskauer Gipfel hat sich auch mit weiteren Fragen befaßt, wie mit dem Umgang mit zivilem und bei der Waffenproduktion freigewordenem sensitiven Kernmaterial. Vier der fünf Kernwaffenstaaten haben vereinbart, daß der Vertrag über einen umfassenden nuklearen Teststopp bis spätestens September 1996 abzuschließen ist. Auf der Grundlage eines umfassenden Programms soll der Nuklearschmuggel gemeinsam durch ein umfassendes Maßnahmenprogramm international bekämpft werden. Das Übereinkommen über nukleare Sicherheit soll noch in diesem Jahr in Kraft treten, und die Arbeiten an der Konvention zur Behandlung radioaktiven Abfalls sollen kurzfristig abgeschlossen werden. Rußland wird keine Abfälle mehr im Meer versenken. Dies sind wichtige Ergebnisse dieses Gipfels.
Wir können sagen, die Welt hat sich in den vergangenen zehn Jahren nach dem Unfall in Tschernobyl entscheidend verändert. Heute haben wir auch mit den Staaten Osteuropas und der früheren Sowjetunion auf vielen Gebieten, und zwar auch in der nuklearen Sicherheit, eine Zusammenarbeit erreicht, die wir vor zehn Jahren noch in den Bereich der Utopie verwiesen hätten. Auch das ist ein riesiger Erfolg der Demokratie.
Meine Damen und Herren, für unsere eigene Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland gilt: Versorgungssicherheit, Preiswürdigkeit, Ressourcenschonung und Umweltschutz sind gleichberechtigte Ziele unserer Energiepolitik. Der Mix der Energieträger hat sich in der Bundesrepublik Deutschland bewährt.
Aber was bedeutet der Unfall von Tschernobyl für die Zukunft unserer Energieversorgung? Zunächst einmal ganz gewiß verstärkte Bemühungen um eine Erhöhung der Energieeffizienz und um weitere Ener-
Bundesministerin Dr. Angela Merkel
gieeinsparung. Nicht verbrauchte Energie ist immer noch die umweltfreundlichste Energie.
Wir haben dabei erhebliche Erfolge aufzuweisen. Es ist gelungen, Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch zu entkoppeln. Aber wir brauchen zur Erreichung unserer Ziele noch weiter sinkende CO2-Emissionen. Maßnahmen der Energieeinsparung sind dabei nicht nur eine Aufgabe der Bundesregierung. Es bedarf gemeinsamer Anstrengungen aller Beteiligten, um dieses Ziel zu erreichen.
Wir sind uns auch in dem Ziel einig, den regenerativen Energieträgern einen größeren Beitrag zu verschaffen. Sie sind allerdings teilweise noch von der Wirtschaftlichkeit entfernt, und wir verfügen nur über begrenzte Mittel, dies auszugleichen; auch das gehört zur Wahrheit.
Die Kernenergie leistet einen erheblichen Beitrag zur Entlastung unserer Kohlendioxidbilanz, ohne den die weltweit notwendige drastische Reduzierung der CO2-Emissionen auf absehbare Zeit nicht zu erreichen ist. Hierauf hat die Bundesregierung in ihren Beschlüssen zur Verminderung der CO2-Emissionen auch immer wieder hingewiesen.
- 25 Prozent bis zum Jahr 2005, so ist es. - Es wäre schon viel gewonnen, wenn Energieeinsparung und regenerative Energien einen Rückgang des Einsatzes fossiler Energien in der Stromerzeugung bewirken könnten.
Die preiswerte Kernenergie in der Grundlast gibt uns auch finanzielle Spielräume, um auf dem Gebiet der regenerativen Energien mehr investieren zu können.
Es bleibt die Frage nach der Sicherheit deutscher Kernkraftwerke. Wenn ich es richtig verstehe, zieht nicht einmal die Opposition ernstlich in Zweifel, daß unsere Kernkraftwerke sicher sind. Die Sicherheit unserer Kernkraftwerke ist seit Jahren in Expertendiskussionen, Gerichtsentscheidungen und auch politischen Auseinandersetzungen immer wieder bestätigt worden. Unsere Kernkraftwerke setzen in puncto Sicherheit und, nebenbei bemerkt, auch in dem Punkt der Verfügbarkeit Maßstäbe im internationalen Bereich.
Meine Damen und Herren, diese Maßstäbe müssen wir in die europäische und weltweite Entwicklung einbringen. Solange wir uns an Projekten wie beispielsweise dem deutsch-französischen Gemeinschaftsreaktor beteiligen, können wir die Sicherheitsziele - es sind bisher einmalige Sicherheitsziele - mitbestimmen. Wenn wir nicht mehr entwickeln, werden wir die Ziele nicht mitbestimmen. Ich kann davon nur abraten.
Die Teilnehmer des Moskauer Gipfels haben festgestellt, daß es die Einhaltung höchster Sicherheitsstandards der Kernenergie ermöglicht, auch im nächsten Jahrhundert einen wesentlichen Beitrag zur Energieversorgung zu leisten. Die Sicherheitsstandards der Kerntechnik von morgen werden jetzt international diskutiert. Ich lade Sie alle ein, an dieser Diskussion mitzuwirken. Denn wir sind es unseren Nachkommen schuldig, ihnen die Möglichkeiten einer sicheren und umweltgerechten Energieversorgung mit und - wenn es etwas Besseres geben sollte; heute zeichnet sich das aber nicht ab - natürlich auch ohne Kernenergie aufzuzeigen.
Wir sollten uns in Deutschland endlich einig sein über den unbehinderten Betrieb der bestehenden Kernkraftwerke, die Umsetzung des 1979 im Konsens vereinbarten Entsorgungskonzeptes einschließlich eventuell notwendiger Anpassungen, das verstärkte Energieeinsparung und einen größeren Anteil erneuerbaren Energien und über die Sicherheitsanforderungen an künftige Reaktoren, die dann auch in Deutschland gebaut werden können.
Die Suche nach neuen Technologien ebenso wie die Verbesserung der Sicherheitsstandards weltweit sollte die Lehre aus dem Unfall sein, die wir gemeinsam ziehen. Wenn wir uns dieser Aufgabe verpflichten, kann die friedliche Nutzung der Kernenergie weiterhin verantwortbar ihren Beitrag zur Energieversorgung leisten.
Herzlichen Dank.