Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über ein für viele Menschen großes und sehr alltägliches Problem.
Ich selbst habe mit 14 Jahren miterlebt, daß mein damals bester Freund in den Hare-Krishna-Tempel
Gerald Häfner
gezogen ist und dann ein Jahr nicht mehr wiederkam. Als die Eltern wollten, daß er wieder nach Hause kommt, wurde er außer Landes gebracht und war dann ein Jahr lang verschollen; es wurde international nach ihm gesucht.
Ich könnte viele ähnliche Geschichten hier erzählen. Sie selbst kennen sicher weitere aus dem persönlichen Bereich, aus den Medien.
Das heißt, es ziehen Rattenfänger durch unser Land, die junge Menschen zu fangen versuchen, überall in unseren Städten, und wir alle wissen und erleben, daß junge Menschen gerade auch in labilen Zeiten, in der Krise dafür ansprechbar sind. Wir wissen auch, daß sich die Methoden heute gegenüber damals außerordentlich verfeinert haben.
Bei mir hat das damals das entgegengesetzte Ergebnis gehabt. Das heißt, ich habe mich dann intensiv mit den Problemen der sogenannten Jugendreligionen und Jugendsekten befaßt. Aber wir müssen feststellen, nicht jeder kann dem widerstehen, und wir müssen auch feststellen, daß inzwischen viele dieser Gruppen zu einem massiven Faktor im Staat und in der Wirtschaft geworden sind. Sie unterwandern - oder sollte man vielleicht besser sagen: sie überwandern - die gesellschaftlichen Einrichtungen bis hin zu Sportvereinen, zu politischen Parteien und anderen. Darüber gibt es auch Schätzungen. Allerdings muß ich sagen, daß ich gegenüber diesen Schätzungen außerordentlich skeptisch bin, weil die Kriterien, die davon ausgehen, daß bis zu 2 Millionen Menschen heute unmittelbar davon betroffen sind, wenig trennscharf sind.
Wenn Sie sich an das erinnern, was wir in den letzten Jahren in anderen Ländern beobachtet haben - ob es damals Jim Jones mit dem Massenselbstmord war, ob es Shoko Asahara mit der Sekte in Japan war oder ob es die Sonnentempler waren -, dann müssen Sie erkennen, daß hier ein ernstes Problem liegt, das meines Erachtens zu untersuchen berechtigt und auch notwendig ist.
Allerdings sollten wir nicht so tun - darin stimme ich meiner Vorrednerin ausdrücklich zu -, als wäre hier noch nichts untersucht worden. Es ist eine ganze Menge untersucht und publiziert worden. Auch im Bundestag ist schon eine ganze Menge zu diesem Thema beraten und verhandelt worden. Im Jahre 1991 hat es eine Anhörung gegeben, und zuletzt hat sich der Petitionsausschuß intensiv mit diesem Thema beschäftigt.
Wenn mit dem heutigen Antrag tatsächlich intendiert ist, daß in der Sache etwas geschehen soll, dann wären all diejenigen, die sich diesem Thema zuwenden, gut beraten, nicht wieder von vorn anzufangen, sondern die Frage zu stellen: Gibt es Handlungsbedarf und Handlungsmöglichkeiten, und wenn ja, wo?
Ich denke, daß zum Beispiel in dem Beschluß des Petitionsausschusses, der den Fraktionen seinerzeit zur Beratung und zur Berücksichtigung übermittelt worden ist, die konkreten Bereiche sehr deutlich aufgeführt sind, bei denen gesetzgeberischer Handlungsbedarf, gesetzgeberische Handlungsmöglichkeiten gesehen werden.
Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen, und zwar auch vorsichtig in kritischer Weise.
Auch mir scheint der Titel der hier vorgesehenen Enquete-Kommission denkbar unglücklich zu sein.
„Sekten" und „Psychogruppen" sind in dem uns beschäftigenden Zusammenhang doch eher fragwürdige Begriffe. Mit dem Begriff „Sekte" ist ja zunächst einmal einfach eine Abspaltung von einer traditionellen Glaubensgemeinschaft gemeint. Das ist nicht das, was uns zu interessieren hat. Auch Psychogruppen gibt es, angefangen von Körpererfahrungs- bis hin zu Selbsthilfegruppen, in großer Zahl. Es sollte nicht die Gefahr entstehen, daß sich diese Gruppen durch eine so gewählte Überschrift durch den Bundestag diskriminiert fühlen.
Ich glaube, man muß sehr viel deutlicher beschreiben, was hier gemeint ist; andernfalls wird man eher Schaden anrichten als Sinnvolles tun.
Es ist eben nicht der Charakter einer Psychogruppe, auch nicht der Charakter einer Sekte, das heißt, einer kleineren religiösen Gemeinschaft, der uns hier zu beschäftigen hat; vielmehr geht es um Gruppierungen mit einem besonderen totalitären Anspruch. Ich glaube, daß dies das entscheidende Kriterium ist.
Es geht um Gruppen, die Abhängigkeit erzeugen, die ihre Mitglieder ausbeuten. Es geht um Gruppen, die ihre Mitglieder unter Druck setzen, die eine selbständige, eigenverantwortliche Entscheidung bei ihren Mitgliedern nicht fördern, sondern diese ausschalten und unmöglich machen wollen, und zwar gerade, wenn es um den Ausstieg aus der Gruppe geht. Es geht um Gruppen, die versuchen, Institutionen dieser Gesellschaft gezielt zu unterwandern und sich unter Anwendung pseudospiritueller Praktiken wirtschaftliche und politische Macht zu verschaffen. Es geht um Gruppen, die unter fälschlicher Verwendung des Etiketts „Kirche" oder „Religionsgemeinschaft" wirtschaftliche und politische Interessen verfolgen. Das ist bekannt.
Daraus ergibt sich, so glaube ich, im wesentlichen auch der Handlungsauftrag.
Es ist also der totalitäre und bis hin zu - wie es bei der Anhörung des Bundestages damals der Sachverständige Abel ausgeführt hat - faschistoiden Strukturen reichende Charakter, der uns hier zu interessieren hat.
Dieser Charakter ist nicht das, was vom Grundgesetz geschützt ist. Was vom Grundgesetz geschützt wird, sollten wir hier allseits ausdrücklich bestätigen. Das Grundgesetz garantiert ausdrücklich die Freiheit des Glaubens, des Gewissens, des religiösen und
Gerald Häfner
weltanschaulichen Bekennntnisses und gewährleistet die ungestörte Religionsausübung. Dies darf, kann und soll vom Deutschen Bundestag auch im Rahmen der Beratungen einer Enquete-Kommission, deren Einsetzung hier beantragt wird, nicht angetastet werden.
In einer offenen Gesellschaft muß allerdings auch Offenheit nachdrücklich eingefordert werden, so meine ich. Die Offenheit der Gesellschaft droht in Gefahr zu geraten, wenn unter Ausnutzung dieser Prinzipien abgeschottete, geschlossene, autoritäre und hierarchisch strukturierte Gruppen mit allen Methoden, die sogar Elemente der Seelen- und Gehirnwäsche beinhalten, die Macht über andere Menschen und die Herrschaft in der Gesellschaft anstreben. Hier liegt der Untersuchungsauftrag. Hier werden wir genauer hinschauen müssen.
Lassen Sie mich zum Schluß noch eines deutlich ansprechen. Ich kann nicht ganz verstehen - darüber werden wir ja gleich anschließend noch zu diskutieren haben -, daß die sozialdemokratische Fraktion im Deutschen Bundestag zwar eine EnqueteKommission für sogenannte Sekten und Psychogruppen fordert, eine Enquete-Kommission zum gegenwärtig größten Problem dieses Landes überhaupt, nämlich zur Bewältigung der Arbeitslosigkeit, aber ablehnt.
Das geht mir schon deshalb nicht in den Sinn, weil ich hier einen unmittelbaren Zusammenhang sehe. Wir würden allzu kurz springen, wenn wir hier nur an Symptomen herumkurierten.
Ich meine, daß viele Menschen, gerade junge Menschen, zu Recht auf der Suche sind nach Sinn, nach Orientierung, auch nach einer angemessenen Rolle in dieser Gesellschaft. Wenn wir diesen Menschen nicht die Orientierung und die Perspektive bieten, mit dem, was sie an Fähigkeiten und an Anliegen ins Leben mitbringen, einen Platz in dieser Gesellschaft zu finden, ihre Fähigkeiten, ihre Arbeit zu ihrem eigenen Wohl und zum Wohl des Ganzen sinnvoll einsetzen zu können, dann werden wir das, was wir hier sozusagen symptomkurierend beenden wollen, weiter fördern. Ich glaube, daß eine Gesellschaft, die einem Gutteil der jungen Menschen keine Perspektive mehr bietet, eine Gesellschaft, die, wie Horst Stern einmal gesagt hat, von allem den Preis kennt, aber von nichts den Wert, eine Gesellschaft, in der Egoismus und Konkurrenz gefördert werden, aber soziales Verhalten für den einzelnen eher schädlich ist, hierarchische, autoritäre, totalitäre Strukturen und Antworten, wie wir sie hier beklagen, eher fördert als verhindert.
Deswegen: Lassen Sie uns nicht nur über Symptome, lassen Sie uns auch über die Ursachen reden! Alles andere macht wenig Sinn.
Ich danke Ihnen.