Rede von
Ortrun
Schätzle
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages hat im Oktober letzten Jahres verschiedene Eingaben von Bürgern behandelt, die sich mit den Folgeschäden bei Mitgliedern sogenannter Sekten und Psychogruppen befaßten. Ein Petitionsanliegen möchte ich Ihnen kurz schildern, damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, welcher gesellschaftspolitische Sprengstoff in diesen Fällen liegen kann.
Eine der sogenannten Sekten und Psychogruppen beschäftigt zahlreiche Mitglieder, ohne sie sozialversicherungsrechtlich abzusichern. Diese Gruppierung ist der Auffassung, daß kein arbeitsrechtliches Dienstverhältnis bestehe, obwohl die Mitglieder ganztägig über Jahre beschäftigt werden, Zuwendungen für ihren Lebensunterhalt, aber kein Leistungsentgelt erhalten. Es ist zu befürchten, daß der Lebensunterhalt der Mitarbeiter dieser Gruppierung im Alter aus öffentlichen Mitteln, aus Steuermitteln bestritten werden muß, da die Betreffenden ohne Alterssicherung bleiben.
Der Petitionsausschuß regte in seiner Beschlußfassung an, den gesetzgeberischen Handlungsbedarf im Rahmen einer Enquete-Kommission zu klären. Heute liegt uns nun der Antrag der SPD zur Einsetzung einer Enquete-Kommission vor. Eine EnqueteKommission könnte das schon vorhandene Fach- und Erfahrungswissen bündeln und grundsätzlichen Fragen der in der Öffentlichkeit stark diskutierten Sektenproblematik nachgehen.
Es muß aber auch darüber nachgedacht werden, ob die Enquete-Kommission wirklich das geeignete politische Instrumentarium darstellt, die vorhandene Problematik zu bearbeiten, oder ob es andere geeignete Instrumente gibt, die dies ebenso effizient erledigen können.
Seit Mitte der 70er Jahre, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir in Deutschland mit dem Phänomen und Problemfeld neuer religiöser und weltanschaulicher Bewegungen und sogenannter Psychogruppen konfrontiert. Die Vielfalt der neuen Bewegungen hat in den letzten Jahren zugenommen - Frau Rennebach hat es erwähnt -; ihre Zahl wird zur Zeit auf 600 geschätzt.
Vielfalt, Unübersichtlichkeit und zunehmende Aktivitäten dieser neuen Gruppierungen, vor allem die wachsenden Konflikt- und Gefährdungspotentiale beunruhigen die Bevölkerung. Wurden nämlich vor 20 Jahren schwerpunktmäßig junge Menschen von neuen Heilsbringern bewogen, ihre Schul- und Berufsausbildung oder ihr Studium abzubrechen, um den sogenannten Sekten und Psychogruppen voll und ganz zu folgen, so werden heute Menschen jeden Alters, jeder Berufszugehörigkeit, jedes Bildungsabschlusses als Alleinstehende oder als Familienangehörige aus unterschiedlichen Gründen und zu unterschiedlichen Zwecken und Zielen umworben und angeworben.
Die Gefährdungen, die von diesen neuen Gruppierungen ausgehen, gleichen sich: materielle, finanzielle Schäden bis zum Ruin, Bruch mit bestehenden sozialen, besonders familialen Bindungen, radikale Persönlichkeitsveränderungen, persönlichkeitsbedingte Abhängigkeiten, Unselbständigkeit, Kommunikationsschwierigkeiten, Realitätsverlust.
Häufig werden Anhänger und spätere Mitglieder der sogenannten Sekten und Psychogruppen über alltagsnahe Seminarangebote gewonnen. Die Seminare geben vor, Fähigkeiten zu vermitteln, mit denen eine bessere, glücklichere und sinnerfülltere Lebensführung möglich ist und vor allem Krisen gemeistert werden.
Zu Anfang mag die Zugehörigkeit zu sogenannten Sekten und Psychogruppen noch unproblematisch sein, aber mit zunehmender Dauer der Mitgliedschaft, bei unvorhergesehenen Vorfällen wie Krankheit oder Alter oder gar in dem Fall, aussteigen zu wollen, offenbaren sich Schwierigkeiten in aller Härte. Die sogenannten Sekten und Psychogruppen zeigen in diesen Momenten ihre gesamte Intoleranz und ihr sozialdarwinistisches Verhalten gegenüber Schwächeren.
Man kann an dieser Stelle natürlich fragen, welche Verantwortung in Angelegenheiten dieser Problematik der Deutsche Bundestag trägt. Ich glaube, er trägt eine Verantwortung.
Kriminologische, juristische, psychologische und psychiatrische Studien bestätigen, daß viele der sogenannten Sekten und Psychogruppen keineswegs so harmlos, hilfreich und friedliebend sind, wie sie vorgeben. Lebenshilfeangebote oder Einstiegsseminare zur beruflichen Weiterbildung verschleiern oftmals totalitäre antidemokratische Strukturen, Absolutheitsansprüche, völlige Abschottung nach außen, Erpreßbarkeit, Illoyalität und Wirtschaftsspionage bis hin „zur politisch motivierten Strategie der Unterwanderung und Infiltration", wie es Dr. Hans-Gerd Jaschke in seinem Gutachten beschreibt.
Allein aus seinem originär existentiellen Interesse heraus muß dem Deutschen Bundestag daran gelegen sein, zu erfahren, was sich auf diesem Psycho-und Heilsbringermarkt tut. Die Grundrechte des einzelnen Bürgers müssen vor diesen Bedrohungen geschützt werden.
Ortrun Schätzle
Es stellt sich jedoch die Frage, ob eine EnqueteKommission, wie es der vorliegende Antrag der SPD fordert, in der Lage sein kann, „eine grundlegende, umfassende und bewertende Analyse der in der Bundesrepublik Deutschland agierenden sogenannten Sekten und Psychogruppen durchzuführen" , wie es im Antrag heißt. Das würde bedeuten, daß wir bis zum Frühjahr 1998, also innerhalb von nur zwei Jahren, zirka 600 sogenannte Sekten und Psychogruppen unter Berücksichtigung der nationalen und internationalen Verflechtungen, der verfassungsrechtlichen Grundlagen und der bislang ergangenen Rechtsprechung zu untersuchen hätten.
Ich meine, eine Enquete-Kommission darf nicht überfrachtet werden.
Es erscheint mir dagegen unverzichtbar, erstens die gesellschaftlichen Ursprünge und Hintergründe für die Ausbreitung und Zunahme der sogenannten Sekten und Psychogruppen aufzuarbeiten, zweitens die Gründe für eine Mitgliedschaft und die Auswirkungen und Folgen der Mitgliedschaft zu analysieren, drittens die potentiellen Gefahren für Staat und Gesellschaft durch die Aktivitäten dieser Gruppierungen und Organisationen herauszuarbeiten und viertens die Bedrohung staatlicher Strukturen, insbesondere durch antidemokratische und totalitäre Bewegungen, deutlich zu machen.
Wir müssen mehr über die Gefährdung durch offene oder verdeckte wirtschaftliche Unterwanderung durch sogenannte Sekten und Psychogruppen, über den Charakter der gewerblichen Lebensbewältigungshilfeangebote, über die Gefährdungspotentiale für Familien einschließlich der Sozialisationsprobleme von Kindern und Jugendlichen, deren Eltern Angehörige solcher Gruppierungen und Organisationen sind, und über die Konflikte, die bei Scheidung oder Erbfall auftreten, erfahren.
Wir müssen Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Maßnahmen ausloten und den gesetzgeberischen Handlungsbedarf auf wissenschaftlicher Grundlage definieren. Die Notwendigkeit des Ausbaus der Informations- und Aufklärungsarbeit muß überprüft werden.
Was aber den Titel der zukünftigen Enquete-Kommission angeht, so ist sehr sorgfältig auszuwählen. Warum? Er wird ein Aushängeschild in der Öffentlichkeit sein. Über die von der SPD vorgeschlagene Bezeichnung bin ich nicht ganz glücklich; denn der Begriff „Sekten" kann - er wird es auch zeitweise schon - als ideologischer Kampfbegriff benutzt werden.
Zudem wird der Begriff „Sekten" zwar umgangssprachlich benutzt, aber es gibt keine wissenschaftlich anerkannte Definition dieses Begriffes, keine Kriteriologie.
Der Begriff Sekten ist nur ein Hilfsmittel, ein Sammelbegriff,
um sehr verschiedene Arten von sogenannten religiösen oder Weltanschauungsgemeinschaften oder ähnlichen Vereinigungen schlagwortartig zusammenzufassen.
- Dies war ein Auszug aus einem Urteil des Verwaltungsgerichtshofes Baden-Württemberg vom 20. Oktober 1987.
Weil der Begriff „Sekten" keine klaren Konturen hat, plädiere ich für einen Gebrauch dieses Begriffs mit gebotener Vorsicht, vor allem dann, wenn sich daraus die Aufgaben einer möglichen Enquete-Kommission ableiten lassen.
Eine klare Zuständigkeitsabgrenzung staatlichen Handelns zwischen Bund, Ländern und Gemeinden muß erfolgen. Diese Zuständigkeitsabgrenzung ist wichtig, weil Bund, Länder und Gemeinden unterschiedliche Eingriffsmöglichkeiten haben und diese auch weiterhin wahrnehmen sollen.
Seit Jahren sind die interministerielle Bund-Länder-Arbeitsgruppe sowie ein Bund-Länder-Gesprächskreis Plattform für einen kontinuierlichen Erfahrungsaustausch und für die Abstimmung von Aktivitäten in dem genannten Problemfeld. Weiterhin ist im Sommer 1994 ein Referat „Sogenannte Jugendsekten und Psychogruppen" beim Bundesverwaltungsamt eingerichtet worden, das sich noch in der Aufbauphase befindet, aber mittlerweile mit sieben Mitarbeitern ausgestattet ist.
Dieses Referat hat im Auftrag der Bundesregierung im Januar die erste Informationsbroschüre zur Scientology-Organisation aufgelegt. Die Broschüre hat eine unglaubliche Nachfrage in der Bevölkerung ausgelöst. Weitere Broschüren sind in Vorbereitung.
Die Arbeit der Ministerien, die in dieser Legislaturperiode gut angelaufen ist, darf keineswegs durch die Einsetzung einer Enquete-Kommission aufgehalten werden. Ich wünsche deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß alle Fraktionen im Deutschen Bundestag sich mit der notwendigen Sensibilität und Ernsthaftigkeit in die Aufarbeitung der Sektenproblematik einbringen und den Erfolg garantieren, den sich Bürgerinnen und Bürger, insbesondere die Betroffenen, von uns, dem Deutschen Bundestag, erhoffen.
Vielen Dank.