Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein modernes, das heißt wirksames und leistungsfähiges Gesundheitswesen braucht angesichts der heutigen und auch zukünftigen Herausforderungen ein Datenerhebungs- und -verarbeitungssystem, das den Anforderungen gerecht wird. Jedoch liegen zwischen dem Anspruch und der Realität der Umsetzung Welten. Mit Recht hat nämlich Herbert Rebscher, Vorstandsvorsitzender des VdAK, im „Focus" gesagt, daß
Deutschland ... im internationalen Vergleich ein Entwicklungsland in Sachen medizinischer Dokumentation und Transparenz
ist.
Es fehlen Grundlagen zur Steuerung des Leistungsprozesses in Richtung Qualität, Wirtschaftlichkeit und Bedarfsnotwendigkeit. Für ein besseres Kostenmanagement benötigt man „Licht in der Dunkelkammer", sprich: die für den Kunden transparente Arztpraxis.
Und das ist richtig so. In unserem Gesundheitssystem bestehen nämlich erhebliche Defizite in der Leistungs- und in der Kostentransparenz. Von daher stellt eine standardisierte Diagnoseverschlüsselung die entscheidende Voraussetzung für eine Erhöhung der Transparenz der medizinischen Versorgung in Deutschland dar. Sie dient der verbesserten Darstellung, Analyse und Steuerung des Leistungsgeschehens wie auch der Versorgungsstrukturen. Ferner liefert sie ihren Beitrag für ein modernes Qualitätsmanagement, für eine aussagekräftige Gesundheitsberichterstattung und nicht zuletzt für die epidemiologische Forschung.
Auch und gerade für die Versicherten und Patienten ist das Leistungssystem nicht transparent. So ist eine einheitliche Systematik der Krankheitsbezeichnungen unabdingbar dafür, daß alle beteiligten Vertragsärzte und auch die Krankenhäuser leichter untereinander kommunizieren können.
Die Angabe der Diagnose ist seit jeher ein selbstverständlicher Bestandteil der Leistungsabrechnungen der Ärzte sowohl mit den gesetzlichen als auch mit den privaten Krankenversicherungen. Aus der Gesetzesbegründung des Gesundheitsstrukturgesetzes geht hervor, für welche gesetzlichen Aufgaben im Rahmen des Vertragsgeschehens zwischen kassenärztlichen Vereinigungen und den Krankenkassen die Diagnose erforderlich ist. So werden die Aufgaben zur Prüfung der Leistungspflicht der Krankenkassen, der Rechtmäßigkeit der Leistungsabrechnung der Ärzte sowie der Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung durch Prüfungsausschüsse benötigt.
Nach dem Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 besteht nun ab dem 1. Januar 1996 die gesetzliche Pflicht zur Diagnoseverschlüsselung nach dem ICD 10. Diese Vorschrift stammt, wie gesagt, aus dem Jahre 1992. Nach meiner Kenntnis und nach der Aktenlage des Bundesbeauftragten für Datenschutz, Dr. Jacob, gab es zur damaligen Zeit keine Diskussionen über den ICD. Das hat mir auch Herr Zöller bestätigt.
Spätestens seit der Jahreswende ist nun aber massive Kritik an der Verwendung des Diagnoseschlüssels ICD 10 laut geworden, und das Gespenst des „gläsernen Patienten" geistert durch die Gazetten und dient als Metapher für die Befürchtungen, daß der Datenschutz nicht mehr gewährleistet sei. Eines möchte ich an dieser Stelle ganz klar zum Ausdruck bringen: Bei der Verschlüsselung von Patientendaten hat der Datenschutz alleroberste Priorität,
und Erfassung, Verwendung und Übermittlung von Daten sind einzig und allein für die in diesem Gesetz bestimmten Zwecke zulässig und auf das unerläßliche Minimum zu beschränken.
Das bedeutet ganz konkret, daß die Datensätze mit den Abrechnungsdaten der Ärzte einschließlich der kodierten Diagnosen, die an die Krankenkassen übermittelt werden, weder die Namen der Versicherten noch die Versichertennummer enthalten dürfen, und Tatsache ist, daß dieses Verfahren mit dem Bundesbeauftragten für Datenschutz abgestimmt worden ist.
Die Krankenkassen erhalten in diesem Fall nun eine Abrechnung ambulanter Leistungen mit zwei getrennten Datensätzen. Sie zusammenzuführen und dadurch sogenannte „Patientenkonten" aufzustellen ist technisch nicht möglich, weil nicht beide Datensätze ebendiese Versichertennummer enthalten.
Außerdem ist es ganz schlicht und einfach gesetzlich verboten.
Aus den geschilderten Gründen ist es für mich nicht nachvollziehbar, warum auf die Angabe eines Diagnosecodes verzichtet werden soll. - Frau Steindor sprach davon, daß Bündnis 90/Die Grünen die Streichung des ICD wollen. - Wir lehnen daher die Streichung des § 295 Abs. 1 und des § 303 SGB V ab.
Die Debatte um den „gläsernen Patienten" führt uns also in die Irre und verstellt uns den Blick auf dahinterstehende Beweggründe der politisch Agieren-
Petra Ernstberger
den. So fühlte sich der selbsternannte — inzwischen dritte - gesundheitspolitische Sprecher der F.D.P., Herr Westerwelle, genötigt, auf den Zug des Datenschutzes aufzuspringen und die Sau einer „erneuten datenschutzrechtlichen Überprüfung des ICD 10" durch das Dorf zu treiben. Selbst Minister Seehofer empfand dieses Drängen seines Koalitionskollegen auf Aussetzung der Diagnoseverschlüsselung als schlicht „unerfindlich" und „peinlich".
Aber vielleicht gibt es einen anderen Grund als die Furcht vor dem „gläsernen Patienten", nämlich die Sorge vor dem „gläsernen Mediziner". In der Tat erleichtert es die computerlesbare Kodierung der Diagnosen, die Arbeit des Arztes transparenter zu machen. Dadurch werden das Verhalten und das Vorgehen bei Diagnose und Behandlung kontrollierbar, gerade was unnötige Therapien anbetrifft. Es wäre also ein Überprüfungsinstrument, das angesichts der jährlichen Milliardenzahlungen der Kassen schlicht und einfach recht und billig ist.
Ist also der Aufstand der Ärzte mit flankierender Deckung durch die F.D.P. nicht doch nur ein Teil einer, wie der „Spiegel" vermutet, „seit Jahren mit Erfolg geübten Verhinderungsstrategie:
Die Doktoren wollen sich nicht in die Karten gucken lassen, ihre Abrechnungspraktiken sollen wirksamen Wirtschaftlichkeitsprüfungen entzogen bleiben." - Honni soit qui mal y pense!
Die Anhörung vor dem Gesundheitsausschuß hat deutlich gemacht, daß der neue ICD-Schlüssel praktische Mängel in seiner Handhabung offenbart. So paßt die Aufgliederung des ICD 10 nicht immer zu den Gegebenheiten der ärztlichen Praxis: Unzutreffende Diagnosen werden evoziert, Ausschlußdiagnosen können nicht gestellt werden, Vorsorge- und Beratungsleistungen finden keine Entsprechung in der diagnoseorientierten Kodierung.
Ich gebe zu, die Probleme sind erkannt, und sie sind eben auch da.
Es verwundert mich aber sehr, daß diese Schwierigkeiten erst jetzt thematisiert und diskutiert werden.
Das Verhalten der Ärzte erscheint mir da doch als sehr merkwürdig.
Der Beschluß des Bundestages, diesen Diagnoseschlüssel einzuführen, stammt bekanntlich aus dem Jahre 1992. Auf massiven Druck der Ärzteschaft wurde die auf den 1. Januar 1995 terminierte Einführung des Vorgängermodells ICD 9 verschoben, um jetzt mit dem ICD 10 Nägel mit Köpfen zu machen. Aber auch das Datum 1. Januar 1996 wurde nicht eingehalten, und mit „hilfreicher" Unterstützung des
Ministers Seehofer wurde die bereits benannte Rahmenvereinbarung beschlossen, den ICD erst 1998 einzuführen.
Warum wird unter der fragwürdigen Verwendung des § 303 SGB V nun ein Gesetz außer Kraft gesetzt, das bereits im Bundesgesetzblatt steht? Bereits 1990 hatte das mit der Bearbeitung der deutschen Fassung beauftragte Institut eine Rohfassung vorgelegt und allen Beteiligten zugeleitet. Herr Schwoerer von der Kassenärztlichen Vereinigung Südbaden glaubt den Grund zu kennen: „Die deutsche Ärzteschaft hat nachhaltig geschlafen. " Diese Vermutung verdichtet sich, wenn man Dr. Schorre von der KBV dazu hört:
So richtig begriffen, daß dieser ICD 10 so gar nicht praktikabel ist, haben das die Kollegen, als sie im Dezember begonnen haben, sich auf den 1. Januar 1996 vorzubereiten, und als sie ab dem 1. Januar die ersten praktischen Erfahrungen machten.
Kopfschütteln über so mannigfaltig verteilte Kompetenz und Flexibilität!
Meine Damen und Herren, der Gesetzesauftrag des SGB V ist eindeutig. Die SPD ist nicht bereit, eine weitere Verzögerung zu Lasten von mehr Transparenz und Wirtschaftlichkeit hinzunehmen. Die Regierung, Herr Seehofer und Frau Dr. Bergmann-Pohl, ist aufgefordert, für eine fristgerechte und praktikable Umsetzung der Diagnoseverschlüsselung zu sorgen.