Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Am Freitag der letzten Sitzungswoche, am 9. Februar, wurde dieser Gesetzentwurf zur Änderung des Verfahrens bei der Rentenanpassung in den neuen Bundesländern und zur Änderung des Rechts der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente im Bundestag eingebracht. In der laufenden Sitzungswoche ging es dann im Zeitraffer weiter: Montag Anhörung; Dienstag abend Vorlage des Protokolls der Anhörung - ich bedanke mich dafür ausdrücklich bei den Kollegen und Kolleginnen des Stenographischen Dienstes -;
Mittwoch vormittag Einführung, Beratung und Abschluß im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung. Heute, am Freitag, findet bereits die dritte Lesung statt, und das mit einer sehr knappen Debattenzeit.
Nun handelt es sich bei den Fragen, die in diesem Gesetz geregelt werden, nicht um Dinge, die der guten Ordnung halber in einem zügigen Ablauf geschäftsmäßig erledigt werden können, sondern bei den Themen - das Rentenanpassungsverfahren in den neuen Bundesländern und der Vorgriff auf eine künftige Reform der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente - geht es um Regelungen, die für die Betroffenen ganz erhebliche und existentielle Auswirkungen haben können. Warum also dieser Schweinsgalopp - um es einmal salopp auszudrücken -, der jede sorgfältige Beratung unmöglich macht?
Das atemberaubende Tempo ist auch deshalb so ärgerlich, weil beide Vorhaben seit Herbst im Arbeitsministerium in Vorbereitung waren und eigentlich - wenn ich die Absichten des Ministeriums richtig verstanden habe - bereits zum 1. Januar dieses
Jahres realisiert werden sollten. Es ist also keine überraschende Situation, auf die rasch reagiert werden muß.
Warum also diese nervöse Hast? Sollen die Abgeordneten nicht sorgfältig beraten können, was beschlossen werden soll? Sollen die Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland nicht so genau merken, was gespielt wird? Ist es der Regierungsfraktion und dem Arbeitsminister egal, ob die Bereitschaft der SPD, wie bisher im Rentenrecht auch ganz schwierige Entscheidungen mitzutragen, durch dieses hastige Verfahren verspielt wird?
Wie wollen Sie, Herr Arbeitsminister, und Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen der CDU aus den neuen Bundesländern, dieses Ergebnis gegenüber den Rentnerinnen und Rentnern, die das schöne Versprechen von der raschen Angleichung, von der raschen Aufholjagd der Renten noch in den Ohren haben, glaubwürdig vertreten? Das Jonglieren mit Ex-ante- und Ex-post-Anpassung, mit aktuellem Rentenwert West und Ost, mit der Eckrente und der Durchschnittsrente, mit den Berechnungsproblemen des Statistischen Bundesamtes, wie es von den Experten in der Anhörung vorgeführt wurde, macht den Vorgang der Änderung bei der Rentenanpassung für den interessierten und betroffenen Bürger nicht transparent.
Ist es wirklich nur eine rein verfahrenstechnische Veränderung, eine Vereinfachung und größere Zuverlässigkeit bei der Berechnung der Rentenanpassung? Wird die Anpassung der Rentenwerte in den neuen Bundesländern wirklich fortgesetzt? Ist es nur eine kleine Delle, wie Herr Professor Ruland in der Anhörung ausführte, die im nächsten Jahr durch den höheren Anpassungssatz wettgemacht wird?
Ich habe mich redlich bemüht, meinen Kolleginnen und Kollegen in der Fraktion und interessierten Bürgern und Bürgerinnen am Telefon das Rentenchinesisch zu übersetzen. Aber letztlich konnte ich keine konkreten Schätzungen über die künftige Rentenentwicklung vorlegen, weil sowohl die Rentenexperten der Bundesversicherungsanstalt und des VDR als auch die Vertreter der Gewerkschaften und der Arbeitgeber auf die entsprechenden Fragen nur antworten konnten: Die neuesten Zahlen gibt es erst im März, manchmal auch erst später. Aber für die Zukunft kommt es darauf an, wie sich die Gehälter in Ostdeutschland entwickeln. Das kann sich natürlich abflachen; aber sicher wird es Steigerungen geben, vielleicht nicht so hoch wie in der Vergangenheit. - Sie alle wissen jetzt sicher ganz genau, wie sich die Renten in Ostdeutschland entwickeln werden.
Aber eines hatten alle Kollegen und Kolleginnen und viele Bürger und Bürgerinnen gelesen oder gehört: In einem Entwurf des Arbeitsministers vom 26. Januar zur Änderung des Anpassungsverfahrens standen 700 Millionen DM Einsparungen für 1996. Das Mißtrauen, daß die schöne Vereinheitlichung der Rentenanpassung in Ost und West vielleicht doch nur ein schnödes Sparmanöver ist, bleibt, auch wenn
Ulrike Mascher
diese Zahl nicht mehr im jetzt vorliegenden Gesetzentwurf steht.
Damit ich mir jetzt nicht den Vorwurf einhandle, alles falsch verstanden zu haben und hier eine Diffamierungskampagne in Gang setzen zu wollen, was mir wirklich fern liegt, zitiere ich mit Erlaubnis des Präsidenten eine Antwort von Professor Ruland auf meine Frage nach der möglichen Entwicklung der Rentenausgaben:
Entscheidend für die Frage der Anpassung in den neuen Bundesländern ist die Relation der Nettoquoten in West und Ost.
- Soweit verständlich.
Wenn wir einmal davon ausgehen, daß die Nettoquote im Westen bei 65,2 und im Osten bei 69,9 Prozent liegt, dann gibt es Einsparungen von 0,4 Milliarden DM im Vergleich zur Grundrechnung, die wir auf der Basis der Ex-post-Anpassung vorgenommen haben.
Variiert man diese Werte, indem man etwa im Westen eine Nettoquote von 64,2 und im Osten eine von 69,9 annimmt, ergeben sich praktisch Werte von einer Milliarde DM. Nimmt man im Westen 64,2 und im Osten 70,9, ergeben sich 1,5 Milliarden DM. Wenn man die Zahlen variiert, kommen immer wieder andere Werte heraus.
- Klar?
Wenn wir Ihnen eine konkrete Antwort geben sollen, müßten wir wissen, was die Bundesregierung in einem Monat schätzen wird, und das wissen wir im Moment nicht. Deshalb kann man nur sagen: Wenn das und das eintritt, wird die und die finanzielle Konsequenz eintreten. Aber welche der vielen Konsequenzen das tatsächlich haben wird - das hängt ja von mehreren Parametern ab -, wissen wir nicht; es tut uns leid.
Auf dieser Grundlage Entscheidungen zu treffen und diese Entscheidungen den Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln - das sehe ich als meine, das sehe ich als unsere Aufgabe an - ist ziemlich schwierig, vor allem, wenn man als Mitglied der Opposition das natürliche Urvertrauen der Regierungsfraktionen in die Weisheit der Entscheidungen der Regierung nicht so ganz haben kann.
Nun braucht sich die Opposition nicht den Kopf zu zerbrechen, wenn die Regierung ihr Vertrauenskapital zum Beispiel bei den Rentnerinnen und Rentnern in Ostdeutschland immer mehr auszehrt. Aber wenn es um das Vertrauen in die Rentenversicherung geht, halte ich als Sozialdemokratin wenig von Strategien à la Sonthofen. Deswegen waren wir hier wie bei anderen Entscheidungen zur Rentengesetzgebung bereit, durch eine breite Zustimmung das Vertrauen in die Rentenversicherung zu stärken, auch wenn meine ostdeutschen Kollegen und Kolleginnen den jetzigen Zeitpunkt für die Vereinheitlichung des Verfahrens für grundfalsch gehalten haben.
Beim Versuch, kritische Einwände aus der Anhörung bei der Festschreibung des Status quo bei der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente umzusetzen, sind wir endgültig gescheitert. Es gab keine Formulierung, die für uns zuverlässig ausgeschlossen hat, daß wirklich nur der Status quo festgeschrieben wird, ohne daß eine Verschlechterung gegenüber dem geltenden Recht eintritt und eine falsche Weichenstellung für die große Reform der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten erfolgt.
Ich kann nicht entscheiden, ob nur der Zeitdruck verhindert hat, daß gemeinsam eine befriedigende Formulierung gefunden werden konnte, oder ob die Regierungskoalition jetzt auch die Rentenpolitik nach der Methode „Augen zu und durch" exekutieren will.
Die Abgeordneten der Regierungskoalition bitte ich zu prüfen, ob wir alle als gewählte Abgeordnete wirklich nur noch Teilnehmer einer Gesetzgebungsmaschine sein wollen: Freitags wird der Gesetzentwurf in die Maschine eingespeist, und nach einer knappen Sitzungswoche ist das Gesetz schon fertig. Glauben Sie denn, daß dadurch gerade in den neuen Bundesländern das Vertrauen in unsere parlamentarische Arbeit gestärkt wird? Glauben Sie, daß gerade bei schwierigen Entscheidungen die Akzeptanz auch von schmerzhaften Einschnitten befördert wird?
Da wir in den nächsten Wochen vor weiteren solcher schwierigen Entscheidungen in der Sozialpolitik stehen, fordere ich Sie alle auf, uns wenigstens noch die Chance einer sachgerechten und verantwortungsvollen Entscheidung zu lassen.
Danke.