Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Drei wichtige Sätze zu Beginn. Der erste: Die Pflegeversicherung funktioniert. Der zweite: Die Pflegeversicherung hilft. Der dritte: Die Pflegeversicherung steht finanziell auf festen Füßen.
Die Pflegeversicherung funktioniert. Bis zum 31. Dezember 1995 waren 1,9 Millionen Anträge eingegangen: 1,6 Millionen Neuanträge und 300 000 Anträge auf Höherstufung. 1,2 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger erhalten jetzt durch die Pflegeversicherung handfeste Hilfe. 527 000 gehören der Pflegestufe I an. Sie erhalten entweder ein Pflegegeld von 400 DM oder Sachleistungen bis zu 750 DM. 445 000 gehören der Pflegestufe II an. Sie erhalten 800 DM oder Sachleistungen bis zu 1 800 DM. 210 000 gehören der Pflegestufe III an. Sie erhalten entweder 1 300 DM Pflegegeld oder Sachleistungen bis zu 2 800 DM, in Härtefällen bis zu 3 750 DM.
Das sind ganz nüchterne Zahlen. Dahinter verbirgt sich eine handfeste Verbesserung der Lebenslage vieler Mitbürger.
Allen, die klagen und ihre Erwartungen nicht erfüllt sahen, möchte ich sagen: Diejenigen, die jetzt zum erstenmal Hilfe erhalten oder mehr bekommen als bisher, werden dies mehr zu schätzen wissen als alle Kritiker zusammen.
Hinzu kommen auch strukturelle Veränderungen. Erstens. Jetzt wächst langsam ein Bereich zwischen der ambulanten und der stationären Pflege. Dieser Zwischenbereich ist auch bitter notwendig; denn in bezug auf die Lebenslage der Menschen gibt es nicht nur zwei Möglichkeiten: entweder zu Hause oder im Heim, sondern dazwischen gibt es den Bedarf an Kurzzeitpflege, an Tagespflegeplätzen. Ich denke, daß gerade dieser Bereich eine besondere Förderung braucht, weil er der Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse besser gerecht wird als das einfache Schema „allein daheim oder ab ins Heim".
Zweitens. Es zeigt sich - die Meldungen kommen aus allen Regionen -, daß die Zahl der Anträge auf stationäre Unterbringung zurückgeht. Das, finde ich, ist ein großer Erfolg der Pflegeversicherung,
und zwar nicht nur wegen der finanziellen Dimension. Finanzfragen sind auch wichtig, aber zunächst geht es um die menschlichen Gesichtspunkte. Einen Menschen so lange, wie er will und kann, in seinen vertrauten vier Wänden zu lassen, halte ich für einen sozialpolitischen Fortschritt.
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Hinzu kommt, daß die Pflegeversicherung auch ein Beschäftigungsprogramm ist. 3 000 private Pflegedienste sind inzwischen gegründet worden, mit der entsprechenden Zahl von Arbeitsplätzen. Auch das ist ein wichtiger Beitrag.
Ich sehe den Erfolg der Pflegeversicherung nicht nur in der Hilfe für diejenigen, die pflegebedürftig sind, sondern auch in einer Verbesserung der Lage derjenigen, die pflegen. An die ist häufig gar nicht gedacht worden. Sie haben jetzt zum ersten Mal einen Anspruch auf eine Alterssicherung, auf eine Rentenversicherung. Sie bekommen die Möglichkeit einer Urlaubsvertretung. Wer seine Angehörigen oder wen immer pflegt, der tut das häufig mit einer solchen Anspannung, daß er keinen Urlaub machen kann, weil er an eine Aufgabe gefesselt ist. Jetzt bekommt er zum ersten Mal auch Gelegenheit zum Atemholen. Das ist der Teil: Die Pflegeversicherung hilft.
Nun noch zum dritten Teil. Bis zum 31. Dezember 1995 belaufen sich die Einnahmen der Pflegeversicherung auf 16,4 Milliarden DM, die Ausgaben auf 9,7 Milliarden DM. Das ist ein Überschuß von 6,7 Milliarden DM. Davon geht das Darlehen ab, das die Pflegeversicherung den neuen Ländern für die Investitionen gewährt, ein Darlehen, das bis zum Jahre 2002 zurückgezahlt wird. Wir haben in der Rücklage also 5,6 Milliarden DM. Jene Voraussage, daß es in der Pflegeversicherung ein Defizit von 3 Milliarden DM geben werde, hat sich also als eine Horrornachricht erwiesen.
Die Wirklichkeit beweist: Die Pflegeversicherung steht auf finanziell festen Füßen. Das finde ich wichtig; denn gerade in der Anlaufphase ist ein Sicherheitspolster unerläßlich. Auch im Hinblick auf die zweite Stufe brauchen wir eine Rücklage, die Risiken ausschließt; denn wir wollen und können die Beiträge über 1,7 Prozent hinaus nicht erhöhen. Also ist es ein Gebot der Vernunft, mit einer Rücklage zu arbeiten, die dieses Risiko ausschließt. Dabei geht niemandem etwas verloren. Wenn wir genügend Sicherheitspolster haben, wenn die Anlaufzeit vorbei ist, wird mit den 1,7 Prozent Beitrag bei Gelegenheit sicherlich auch eine Leistungsanpassung bezahlt werden können. Aber es ist viel zu früh, von Leistungsanpassung zu reden. Jetzt gilt: Sicherheit hat Vorfahrt. Wir wollen eine Pflegeversicherung, die nicht ins Gerede kommt, die auf sicheren Füßen steht.
Nun will ich nicht verheimlichen, daß es in der Anfangsphase auch Schwierigkeiten gibt. Das wird aber nur den überraschen, der die Geschichte der Sozialpolitik nicht kennt. Bei einem neuen Gesetz, bei einer neuen Versicherung gab es immer Anlaufschwierigkeiten. Ich empfehle den Rückblick in die Anfangsjahre der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung. Das ist so. Wer solche Schwierigkeiten vermeiden will, macht am besten gar nichts. Wenn man stehenbleibt, gibt es keine Anlaufschwierigkeiten. Jeder, der ein Haus baut, weiß: Da klemmt eine Tür, da zieht's. Aber deshalb wird man doch das Haus nicht abreißen. Die Schwierigkeiten müssen überwunden werden.
Es gab Anlaufschwierigkeiten in der Abgrenzung zur Sozialhilfe. Es gab den verständlichen Versuch, Leistungen in die Pflegeversicherung abzudrängen. Es gab und gibt noch Anlaufschwierigkeiten bei der Abgrenzung zur Behindertenarbeit. Die Pflegeversicherung ist keine allgemeine Behindertenversicherung. Bei den Behinderten geht es um Eingliederung. Hier muß also eine Grenze gezogen werden.
Die Behandlungspflege war ein Thema der Abklärung mit den Krankenkassen. Da sprechen wir uns 1999 wieder, wenn ein Bettenabbau ermöglicht wurde. Ich denke, der Bettenabbau im Krankenhaus wird gerade durch die Einrichtung der Pflegeversicherung ermöglicht. Heute ist es so, daß in vielen Krankenhäusern auch Pflegebedürftige untergebracht sind, was ich nicht mit einem Vorwurf verbinde. Wohin soll der Arzt die Pflegebedürftige entlassen, wenn es keine Alternative gibt, wenn es keine Unterstützung zu Hause gibt, wenn es keine Heimunterbringung gibt, wenn es keine Tagespflegeplätze gibt, wenn es keine Kurzzeitpflege gibt? Das Krankenhaus ist zwar nicht für diese Fälle gedacht, aber oft die letzte Rettungsstation. Wenn eine solche Infrastruktur aufgebaut ist, bietet dies auch die Chance, Fehlbelegungen abzubauen.
Die zweite Stufe muß kommen. Sie muß deshalb kommen, weil die Pflegeversicherung zwei Seiten hat: ambulant und stationär. Sie wäre geradezu beschädigt, wenn sie sich nur auf die ambulante Seite beschränken würde. Sie wäre auch deshalb beschädigt, weil wir dann eine neue Grenzstreitigkeit hätten, nämlich die Frage: Was ist ambulant, was ist stationär? Dieser Zwischenbereich, von dem ich gerade sprach, läßt sich nicht immer eindeutig zuordnen. Insofern gehören ambulant und stationär zusammen.
Eine andere Frage, die wir immer mit der Einführung der Pflegeversicherung verbunden haben, ist die Frage der Kompensation; denn wir verstehen „umbauen" nicht einfach als „draufsatteln" . Denn wenn es neue Bedürfnisse gibt, muß man den alten Katalog der Angebote überprüfen. Das ist sozusagen das Einmaleins des Umbaus. Hier gibt es sicherlich Dinge, die bei der Einführung der Sozialversicherung im vorigen Jahrhundert notwendig waren, die heute nicht mehr so notwendig sind. Andere Dinge, wie die Pflegeversicherung, waren vor 100 Jahren nicht so notwendig. Da gab es noch die Großfamilie, obwohl sie nicht so idyllisch war, wie sie im nostalgischen Rückblick dargestellt wird. Da gab es keine 30 oder 40 Jahre im Ruhestand, da waren es nur ein, zwei Jährchen.
Insofern hat sich die Gesellschaft verändert. Eine Sozialpolitik, die im Leben steht, muß auf solche Veränderungen reagieren.
Wir bekennen uns zur Notwendigkeit der Kompensation. Der Sachverständigenrat hat festgestellt, die Streichung eines zweiten Feiertages wäre eine Überkompensation. Deshalb ist in der Logik des Sachverständigenrates auch die Streichung eines weiteren Urlaubstages eine Überkompensation,
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
ganz abgesehen davon, daß ich nicht weiß, wie man sie durchsetzen kann, wenn man nicht auf Freiwilligkeit hoffen kann. Das haben wir mehrfach ausprobiert. Wer es schafft, 7 000 Tarifverträge zu verändern, wird von allen meinen guten Wünschen begleitet. Davon kann natürlich nicht die Einführung der zweiten Stufe abhängig sein.
Ich will darauf aufmerksam machen, daß das, was wir an Konsolidierung, an Sparen für notwendig halten, weit über das hinausgeht, was für die zweite Stufe der Pflegeversicherung notwendig ist. Wir stehen vor einem Bedarf an Entlastung von Lohnzusatzkosten, der weit über den Umbau hinausgeht, der im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung notwendig ist. Daß wir es ernst meinen und daß es nicht nur ein Programm ist, nicht nur eine Absicht ohne Konsequenzen, haben wir auch in den zurückliegenden Monaten bewiesen. Ich erinnere an die Neuregelung des Schlechtwettergeldes - eine Entlastung der Bundesanstalt um mehrere hundert Millionen DM - und an die Arbeitslosenhilfereform.
Wir gehen jetzt die Reform des Arbeitsförderungsgesetzes unter den Gesichtspunkten an: Wie machen wir die Bundesanstalt effektiver? Wie schaffen wir eine Arbeitsmarktpolitik, die den einzelnen besser erreicht, die mehr in den ersten Arbeitsmarkt hinüberführt? Ich sage aber ebenso: Die Reform soll auch zur finanziellen Entlastung beitragen, auch zur Entlastung von Lohnzusatzkosten.
Auch das Thema Frühverrentung spreche ich in diesem Zusammenhang an, wohl wissend, daß die Ergebnisse nicht schnell vorliegen. Aber wir machen keine Politik nur von der Hand in den Mund. Es geht nicht nur um eine Reparatur heute oder morgen, es geht um langfristige Strukturveränderungen und damit auch um eine Konsolidierung der Rentenversicherung und ihrer Beiträge.
Meine Damen und Herren, wir wollen dabei nicht übersehen, daß die Pflegeversicherung auch die Krankenversicherung von Kosten entlastet hat, die die Krankenversicherung bisher getragen hat, denn sonst müßten dort die Beiträge höher sein.
Das ärgerliche Thema, das ich hier zu Protokoll gebe - ich hoffe und setze darauf, daß wir da mit der Opposition übereinstimmen -, ist das Thema Investitionskosten.
Das ist keine Sache, die nur die Regierung betrifft. Wir müßten von kollektivem Gedächtnisschwund befallen sein, wenn wir uns nicht mehr daran erinnern würden, daß es im Zusammenhang mit der Verabschiedung der Pflegeversicherung Übereinstimmung mit allen Ländern gab - sowohl mit den A- als auch mit den B-Ländern und es gar keine parteipolitische Frage war, daß die Pflegeversicherung nach dem Beispiel der Krankenversicherung geregelt wird, was die Investitionskosten anlangt. Ein Blick in die Krankenversicherung zeigt: Die Investitionskosten werden von der öffentlichen Hand, von den Ländern und Kommunen vorgehalten.
Das war damals gemeinsame Grundlage. Ich mache darauf aufmerksam, daß der Vorschlag der Koalition eine monistische Finanzierung vorsah, bei der das Problem gar nicht aufgetreten wäre. Da hätten wir Investitions- und Pflegekosten aus einer Hand bezahlt. Es war der Wille der Länder - ich sage es noch einmal, damit es da keine kleinkarierten parteipolitischen Punktspiele gibt -, die Investitionskosten zu übernehmen, auch um sich Planungsrechte zu sichern. An diese Vereinbarung muß ich erinnern. Wir müssen - ich hoffe: gemeinsam - darauf bestehen, daß die Länder ihr Wort halten.
Das ist nicht nur eine Sache des Bund-Länder-Verhältnisses. Im Hintergrund steht: Wenn die Investitionskosten nicht von den Ländern bezahlt werden, dann bezahlen sie die Pflegebedürftigen, und damit holen wir weniger Leute aus der Sozialhilfe heraus, als es der Fall wäre, wenn die Länder ihre Verpflichtungen erfüllen. Es wäre sehr eindrucksvoll, wenn der gesamte Bundestag die Länder an dieses Versprechen erinnerte, gleichgültig welche Parteien dort jeweils regieren.
Ich mache darauf aufmerksam, daß die Kommunen und die Länder durch die Pflegeversicherung über Einsparungen bei der Sozialhilfe entlastet werden und daß es gar nicht unser Verlangen war, die ganze Entlastung der Pflegeversicherung zugute kommen zu lassen. Bereits ein Drittel würde genügen, um die Investitionskosten zu bezahlen. Deshalb rufe ich alle auf - da appelliere ich auch an die Behindertenverbände -, die richtige Adresse zu wählen für die Klage, daß die Investitionskosten nicht der Pflegeversicherung aufgehalst werden.
Ich bleibe dabei: Auch die zweite Stufe wird große Anstrengungen verlangen. Meine Aufforderung geht hier ebenso an die Träger. Ich bleibe dabei, daß auch in der Pflegeversicherung, auch in der stationären Pflege Wirtschaftlichkeitsreserven vorhanden sind. Das betrifft alle Heime, das betrifft auch die Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände. Alle müssen sich der Wirtschaftlichkeitsfrage stellen. Wenn wir darauf bestehen, dann im Interesse der Pflegebedürftigen. Ich hoffe, meine Damen und Herren, daß der gesamte Deutsche Bundestag dieses Versprechen der Länder einfordert. Im Zusammenhang mit der zweiten Stufe der Pflegeversicherung müssen wir darauf bestehen, daß jeder seine Aufgabe, seine Verpflichtungen erfüllt. Der erste Punkt ist - ich wiederhole es -: Die Pflegeversicherung funktioniert. Zweiter Punkt: Die Pflegeversicherung hilft. Dritter Punkt: Die Pflegeversicherung steht finanziell auf soliden Beinen.