Nein.
Wenn es an die Sachfragen geht, Herr Verheugen, und Herr Scharping uns vorwirft, das Weißbuch werde nicht umgesetzt, weil Deutschland das verhindere, dann ist das noch schlimmerer Unsinn. Das ist ein derartiger Unsinn und Blödsinn, daß es sich erübrigt, darauf einzugehen.
Die sozialpolitische Platte ehrt Sie, Herr Scharping, aber Sie müßten einmal eine andere auflegen, eine bessere.
Bundesregierung und Koalition sorgen - im Gegensatz zur Opposition - dafür, daß Deutschland auf europäischem Kurs bleibt.
- Dann muß Herr Scharping eine andere Sprache wählen. Er hat diesen Ton in die Debatte hineingebracht.
Lieber Herr Verheugen, Sie kennen mich seit Jahren. Ich bin nicht derjenige, der einen solchen Ton in die Debatte bringt. Herr Scharping hat ihn - mit sehr unfairen und unflätigen Bemerkungen, die unter die Gürtellinie gingen - hineingebracht.
Die Fortsetzung des europäischen Einigungswerks ist die einzig denkbare Antwort auf zwei Herausforderungen: die unserer neuen Zeit wie die der europäischen Geschichte.
Die Debatte um Europa wird in meinen Augen etwas zu eng geführt. Wir sollten stärker über den Tellerrand nach draußen sehen, in den asiatischpazifischen oder beispielsweise auch in den NAFTA-Raum. Die revolutionären Veränderungen dort lassen den europäischen Völkern doch nur noch die Wahl, sich gemeinsam zu behaupten oder von anderen bestimmen zu lassen, wie sie im 21. Jahrhundert leben und wirtschaften sollen. Deshalb müssen Deutschland und Europa zukunftsfähig bleiben. Dafür brauchen wir eine handlungsfähige, wettbewerbsstarke und bürgernahe Union europäischer Demokratien.
Es geht, wenn man sich die Welt ansieht - stärker, als wir wahrhaben wollen -, um die Selbstbehauptung von uns Europäern im globalen Wettbewerb, um die Sicherung unserer Lebensweise, unserer Kultur und unserer geistigen Traditionen und Werte. Wir müssen uns als Europäer dieser neuen globalen Wettbewerbswelt gegenüber öffnen und stellen, das heißt, als Akteur und Mitgestalter mitwirken. Wir dürfen nicht zulassen, daß wir sozusagen nur Objekt dieser weiteren Gestaltung sind.
Kein Land in Europa kann heute seine Sicherheit und seinen Wohlstand noch allein garantieren. Nur mit einem gemeinsamen Binnenmarkt und einem Währungsraum werden wir der Wirtschafts- und Finanzkraft der Dollar- und Yen-Zonen in zehn Jahren noch etwas entgegenzusetzen haben.
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Das ist zuwenig bekannt; deshalb müssen wir unseren Bürgern das deutlicher sagen. Daß sich die USA, Kanada und Mexiko zur NAFTA zusammengeschlossen haben, war kein Zufall, genausowenig wie der Zusammenschluß der ASEAN-Staaten oder die Zusammenarbeit der APEC-Länder.
Europa hat das Zeichen einer neuen politischen und wirtschaftlichen Kultur gesetzt und wurde weltweit zum Zukunftsmodell. Wir sind - ich sage das einmal so drastisch - abgekupfert worden. Wir sind aber teilweise - leider - inzwischen auch überholt worden.
Bei uns in Deutschland wird das zuwenig registriert, und die Europaskeptiker machen auf Kirchturmspolitik. Wem europaweites Denken zu weit geht, der muß sich eben das Wachstum in China, in Indonesien, in Südkorea und in anderen Gebieten im pazifischen Raum ansehen. Die Lehre daraus für uns kann doch nur sein: Der Nationalstaat wird seine Funktion auch im vereinten Europa behalten. Aber mit dem Nationalstaat allein ist im 21. Jahrhundert kein Staat mehr zu machen.
Damit bin ich bei der zweiten Herausforderung für Europa. Das ist unsere eigene Geschichte, eine Geschichte von jahrhundertelangen Bruderkämpfen, von Neid, Hegemoniegelüsten und Ängsten. Nach zwei furchtbaren Weltkriegen haben Männer wie Monnet, Schuman und Konrad Adenauer gehandelt und die Europäische Gemeinschaft aufgebaut. Bundespräsident Herzog hat kürzlich das europäische Einigungswerk die „Renaissance einer elfhundert Jahre alten Idee der europäischen Versöhnung" genannt. Wir müssen jetzt in dieser entscheidenden Phase der europäischen Entwicklung bis zum Jahr 2000 sicherstellen, daß dieses Einigungswerk auch in Zukunft Bestand hat. Es darf kein Zurück zu Nationalismus, Angst und Mißtrauen geben.
In den nächsten Jahren entscheidet sich, wie wir Deutsche als bevölkerungsreichstes und wirtschaftsstärkstes Land nach der Wiedervereinigung in der Mitte unseres Kontinents mit dieser Verantwortung umgehen. Von unserer Lage, von unserer Geschichte und von unserer wirtschaftlichen Abhängigkeit her - es gibt kein großes Wirtschafts- und Industrieland auf dieser Erde, das so total einseitig von einer Region abhängig ist wie Deutschland von Europa; das müssen wir unseren Bürgern sagen - haben wir noch mehr als unsere Nachbarn ein vitales Interesse daran, daß das europäische Bauwerk gelingt. Dieses Bauwerk braucht, wenn es wirklich Bestand haben will, solide Fundamente, Tragmauern und auch ein wetterfestes Dach. Das heißt nichts anderes, als daß Europa zu einer echten Schicksalsgemeinschaft werden muß: mit einem gemeinsamen Markt, einer gemeinsamen Währung und einer Politik gemeinsamer Sicherheit nach innen und nach außen.
Da es um die Fundamente und auch das feste Dach geht, ist die intensive öffentliche Debatte, die gegenwärtig über die Währungsunion stattfindet, notwendig und richtig. - Die Menschen machen sich Sorgen, nicht nur hier in Deutschland, aber auch bei uns. - Diese Debatte muß sachlich sein. Es geht um die Information der Bürger. In bezug darauf haben wir Politiker ganz zweifellos, auch wenn man es auf die Maastricht-Erfahrungen bezieht, eine Bringschuld, der wir bisher alle noch nicht gerecht geworden sind.
Angst- und Stimmungsmache - ich sage das nochmal - ist das falsche Signal. Dafür ist zu bedeutsam, was mit der europäischen Währung auf dem Spiel steht.
Wir haben uns vertraglich für die Währungsunion entschieden, weil eine stabile europäische Währung im vitalen deutschen Interesse liegt. Deshalb sollte man auch aufhören, so zu tun, als ob wir mit zusammengebissenen Zähnen auf diese gemeinsame Währung zumarschieren.
Wir haben uns vertraglich zur Währungsunion verpflichtet; wir wollen sie, und sie ist im vitalen deutschen Interesse.
Wenn sich - hoffentlich 1999 - die stärksten Währungen in Europa - möglichst viele sollten dabeisein - zu einer Leitwährung zusammenschließen, dann muß nach einigen Jahren das Urteil lauten: Europa und auch Deutschland, die Bürger, die Menschen haben dadurch gewonnen.
Wenn man sich die Argumente der Gegner etwas näher ansieht, dann geht es im Grunde immer um das eine, nämlich um den Glauben, man könne mit dem Beharren auf dem Vertrauten, auf dem Althergebrachten, auf dem, was man gewöhnt ist, die Risiken der Zukunft ausschließen. Das ist ein totaler Fehlschluß.
Nur wenn wir mit Mut an die notwendigen Veränderungen herangehen, können wir das bewahren, was uns aus der Vergangenheit überkommen ist, was uns wertvoll ist und was wir behalten wollen.
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Das ist natürlich vor allem unsere Stabilitätskultur; das ist das wirklich wichtige.
Die Ersparnisse dürfen nicht zerrinnen. Unsere Partner sind zu einer Vereinbarung bereit, die die Stabilität der gemeinsamen Währung auch nach ihrem Beginn garantiert.
Genauso wird überlegt, wie das Verhältnis der Währungen zueinander aussehen soll: das zwischen denen, die später in der Währungsunion sein werden, und denen, die draußen sind. Dabei wird ein besonderes Problem sein, daß es in bezug auf diejenigen, die draußen sind, zwei Kategorien geben wird, nämlich diejenigen, die an sich die Konvergenzkriterien erfüllt haben, aber aus politischen Gründen nicht in der Union sein können oder wollen, und diejenigen, die die Konvergenzkriterien nicht erfüllen. Wir werden einen Modus vivendi finden müssen, wie das geregelt werden kann. Den Bürgern muß jedenfalls gesagt werden, daß das, was als neue Währung angepeilt ist, eben keine Währungsreform darstellt. Davor haben sie Angst. Wert und Kaufkraft von Sparguthaben sollen voll erhalten bleiben. Die Bürger können darauf vertrauen, daß Vorsorge getroffen ist, daß die Eurowährung so stabil sein wird wie die D-Mark. Sonst wird es diese Eurowährung eben nicht geben; das müssen wir deutlich und klar sagen.
Meine Damen und Herren, ein Europa, das nicht in der Lage ist, in seinem eigenen Haus für Ordnung zu sorgen, ist in den Augen seiner Bürger nicht viel wert - mit Recht! Deshalb muß die gemeinsame AuBen- und Sicherheitspolitik der Union zu dem gemacht werden, was der Name verspricht, und zwar durch eine Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen. Das wird bei wichtigen Sicherheitsfragen nicht gehen, und es wird nicht gehen, wenn es um ganz vitale Interessen auch kleinerer und mittlerer Länder geht.
Aber wir werden Wege finden - darüber ist in der Reflexionsgruppe nachgedacht worden -, wie wir zu solchen Mehrheitsentscheidungen kommen.
Wir brauchen eine gemeinsame Planungs- und Analysegruppe. Stimme und Aktion müssen nach draußen überzeugender zum Ausdruck kommen. Ich sage allerdings, daß nach meiner Meinung die Lösung dort gefunden werden muß, wo die politische Verantwortung ist und bleiben muß, nämlich beim Europäischen Rat.
Zur Politischen Union gehört auch eine gemeinsame Verteidigung und Friedenssicherung, gehört die Normalisierung unserer Position bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Unsere Entscheidung von gestern war in diesem Zusammenhang sehr wichtig. Der Arm für die europäische Verteidigung und Friedenssicherung ist die WEU. Dieser europäische Pfeiler der transatlantischen Sicherheit muß längerfristig mit der EU verschmolzen werden. Da gibt es noch erheblichen Gesprächsbedarf mit unseren britischen Partnern und Freunden. Aber die jetzige Wiederannäherung Frankreichs an die NATO eröffnet - ich habe das gestern schon hinsichtlich der WEU gesagt - neue und wichtige Perspektiven.
Die Arbeiten der Reflexionsgruppe haben ergeben, daß eine große Mehrheit der Mitgliedstaaten trotz vieler Meinungsunterschiede im einzelnen zu wichtigen Reformschritten bereit ist. Auch hier gilt es, bei unseren britischen Freunden weiter Überzeugungsarbeit zu leisten. Ich füge hinzu: Großbritanniens Platz - da sollten wir uns einig sein - muß, wie Premierminister Major es kürzlich angedeutet hat, im Herzen Europas sein und bleiben. Das ist von zentraler Bedeutung.
Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union müssen in gleicher Weise an der europäischen Integration teilnehmen können. Jedoch darf der langsamste Dampfer nicht das Tempo der anderen diktieren. Dafür muß eine Lösung unter Erhaltung des einheitlichen institutionellen Rahmens gefunden werden. Ich brauche hier nicht zu betonen, daß Fortschritte in dem weiteren europäischen Integrationsprozeß natürlich nur möglich sind, wenn Deutschland und Frankreich weiter an einem Strang ziehen. Das wird so sein; davon können Sie ausgehen.
Auf der Regierungskonferenz geht es im Kern damm, daß sich die EU auf ihre eigentliche Jahrhundertaufgabe vorbereitet, nämlich auf die Aufnahme der jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas. Wir fühlen diesen Ländern gegenüber aus zwei Gründen eine besondere Verpflichtung: Den Menschen in diesen Ländern ist im deutschen Namen Schlimmes angetan worden. Das ist der eine Grund. Der andere Grund ist, daß wir die eigentlichen Nutznießer der Umbrüche in Mittel- und Osteuropa sind, daß unsere Partner und Freunde uns, das wiedervereinigte Deutschland, mit in die Europäische Union und in die NATO aufgenommen haben. Das ist eine Verpflichtung gerade den Ländern gegenüber, die jetzt vor den Türen beider Organisationen stehen und zu Recht massiv anklopfen, um möglichst bald aufgenommen zu werden.
Wir sollten nicht vergessen, daß es schließlich der Freiheitswille dieser Länder war, der uns die Wiedervereinigung gebracht hat. Die ersten Beitrittsverhandlungen sollten nicht nur mit Zypern und Malta, sondern auch mit unseren östlichen Nachbarn nach dem Ende der Regierungskonferenz rasch aufgenommen werden. Die grundlegenden Entscheidungen über ihren Beitritt sollten in der Tat bis zur Jahrhundertwende auf der Schiene sein.
Bundesminister Dr. Klaus Kinkel
Die Erweiterung ist im übrigen nicht umsonst. Sie hat Konsequenzen für die Agrarstrukturpolitik, für die Finanzen und den Arbeitsmarkt. Wir müssen bei uns das Tempo der Modernisierung und Strukturveränderungen erhöhen, und zwar Hand in Hand mit der Nutzung der neuen Chancen, die unsere Nachbarn für uns wirtschaftlich bieten. Diese Chancen sind ganz beträchtlich. Es wird immer wieder verschwiegen oder zumindest nicht erwähnt, daß Deutschlands Anteil am Handel mit den östlichen Nachbarn inzwischen bei 50 Prozent des Handels aller EU-Staaten liegt. Er wächst jährlich um weitere 25 Prozent.
Ein Wort zur Zollunion mit der Türkei: Die Entscheidung, die im Europäischen Parlament ansteht, ist von grundlegender Bedeutung. Die Türkei sieht diese Entscheidung zu Recht als Lackmustest dafür an, ob Europa gewillt ist, dieses laizistisch geführte Land, das mit den fundamentalistischen Auswirkungen des Islam zu kämpfen hat, weiter zu Europa zu rechnen. Das müssen wir tun, und zwar mit Nachdruck. Deshalb sollten auch wir alles tun, damit die Entscheidung im Europäischen Parlament positiv ausgeht.
Bei Umfragen erklären 78 Prozent der Deutschen, daß sie mit dem Begriff Europa den Begriff Zukunft verbinden. - Das ist ein bißchen anders als das, was vorhin dargestellt worden ist. - Die Umfragen weisen auch aus, daß 66 Prozent der Befragten mit dem Begriff Europa Frieden verbinden. Generalsekretär Boutros-Ghali hat das vor dem Europäischen Parlament vor kurzem mit den Worten gewürdigt: Die Welt braucht Europa als Modell für die Förderung von Demokratie, sozialer Gerechtigkeit und Menschenrechten.
Deshalb erkläre ich zum Schluß: Deutschlands Zukunft liegt in Europa. Deutschlands Schicksal ist Europa. Die Koalition und die Bundesregierung werden dafür sorgen, daß wir unseren europäischen Weg unbeirrt weitergehen.