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    Plenarprotokoll 13/69 Bundestag Deutscher Stenographischer Bericht 69. Sitzung Bonn, Freitag, den 10. November 1995 Inhalt: Erklärung zu den Menschenrechtsverletzungen der nigerianischen Militärregierung 6031 A Absetzung des Punktes IV d von der Tagesordnung 6031 C Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung 6031 D Begrüßung des Außenministers der Schweiz 6095 D Zur Geschäftsordnung Joachim Hörster CDU/CSU 6031 D Ottmar Schreiner SPD 6032 B Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 6033 B Ina Albowitz F.D.P.B 6034 B Dr. Dagmar Enkelmann PDS 6034 D Tagesordnungspunkt I: Fortsetzung der zweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1996 (Haushaltsgesetz 1996) (Drucksachen 13/2000, 13/2593) 6035 B Einzelplan 30 Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (Drucksachen 13/2622, 13/2626) Dieter Schanz SPD 6035 C Steffen Kampeter CDU/CSU 6038 D Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 6042 D Jürgen Koppelin F.D.P 6045 A Dr. Ludwig Elm PDS 6047 C Erich Maaß (Wilhelmshaven) CDU/CSU 6049A Dr. Ludwig Elm PDS (Erklärung nach § 30 GO) 6050D Dr. Peter Glotz SPD 6051 A Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister BMBF 6053 A Haushaltsgesetz 1996 (Drucksachen 13/2627, 13/2630) . . . . 6057 B Tagesordnungspunkt II: a) Dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1996 (Haushaltsgesetz 1996) (Drucksachen 13/2000, 13/2593, 13/ 2601 bis 13/2626, 13/2627, 13/2630) . . 6057 C b) Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Der Finanzplan des Bundes 1995 bis 1999 (Drucksachen 13/2001, 13/2593, 13/2631) 6057 D Helmut Wieczorek (Duisburg) SPD . . . 6058 A Hans-Peter Repnik CDU/CSU 6062 A Oswald Metzger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 6067 B Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. 6070D Dr. Christa Luft PDS 6075 A Dr. Theodor Waigel, Bundesminister BMF 6077 D Ingrid Matthäus-Maier SPD 6082 B Alois Graf von Waldburg-Zeil CDU/CSU 6083 D Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. . . . . 6086 C Dietrich Austermann CDU/CSU . . . . 6087 D Dr. Peter Glotz SPD 6090 A Dr. Christa Luft PDS (Erklärung nach § 30 GO) 6091 B Joachim Hörster CDU/CSU 6094 D Joseph Fischer (Frankfurt) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 6095 A Rudolf Seiters CDU/CSU 6095 C Günter Verheugen SPD 6096 A Ulrich Irmer F.D.P 6096 C Dr. Winfried Wolf PDS 6097 A Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA . 6097 D Joseph Fischer (Frankfurt) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN (zur GO) 6098 D Namentliche Abstimmung über das Haushaltsgesetz 1996 6091 D Ergebnis 6092 B Namentliche Abstimmung über Drucksache 13/2972 6091 D Ergebnis 6101 C Namentliche Abstimmung über Drucksache 13/2922 6092 A Ergebnis 6099 B Tagesordnungspunkt IV: Abschließende Beratungen ohne Aussprache c) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Drucksachen 13/2207, 13/2940) 6104 C Petra Bläss PDS (Erklärung nach § 31 GO) 6104 C Zusatztagesordnungspunkt 2: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Angleichung der Arbeitsbedingungen bei der Entsendung von Arbeitnehmern (Entsendegesetz) (Drucksache 13/2834) 6105 C Zusatztagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Rechts der Arbeitslosenhilfe (Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz) (Drucksache 13/2898) 6105 C Nächste Sitzung 6105 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 6107*A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur dritten Beratung des Entwurfs des Haushaltsgesetzes 1996 (Drucksachen 13/2000, 13/2593, 13/2627, 13/2630, [Drucksache 13/29721) 6107*B Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zu Zusatztagesordnungspunkt 3 (ArbeitslosenhilfeReformgesetz) 6107' C Heinz Schemken CDU/CSU 6107*C Birgit Schnieber-Jastram CDU/CSU . . 6108*C Adolf Ostertag SPD 6109* C Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 6111*B Dr. Gisela Babel F.D.P 6112*B Dr. Heidi Knake-Werner PDS 6113*A Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 6114*A Anlage 4 Amtliche Mitteilungen 6115* D 69. Sitzung Bonn, Freitag, den 10. November 1995 Beginn: 9.00 Uhr
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    *) Anlage 3 Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Beck (Bremen), BÜNDNIS 10. 11. 95 Marieluise 90/DIE GRÜNEN Dr. Dobberthien, SPD 10. 11. 95 Marliese Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 10. 11.95 Meißner, Herbert SPD 10. 11. 95 Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 10. 11. 95 Nickels, Christa BÜNDNIS 10. 11. 95 90/DIE GRÜNEN Odendahl, Doris SPD 10. 11. 95 Schoppe, Waltraud BÜNDNIS 10. 11.95 90/DIE GRÜNEN Schwanitz, Rolf SPD 10. 11. 95 Steindor, Marina BÜNDNIS 10. 11. 95 90/DIE GRÜNEN Terborg, Margitta SPD 10. 11. 95 Vogt (Düren), Wolfgang CDU/CSU 10. 11. 95 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur dritten Beratung des Entwurfs des Haushaltsgesetzes 1996 - Drucksachen 13/2000, 13/2593, 13/2627, 13/2630 - (Drucksache 13/2972) Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unserer Fraktion ist beim Mißbilligungsantrag der SPD auf Drucksache 13/2972 ein Abstimmungsfehler unterlaufen, den ich als Haushaltsobmann auf meine Kappe nehme. Wir haben versehentlich mit Nein gestimmt, obwohl ich in meiner Rede die Zustimmung angekündigt hatte. Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zu Zusatztagesordnungspunkt 3 (Arbeitslosenhilfe-Reformgestz - AlhiRG) Heinz Schemken (CDU/CSU): In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Arbeitslosenhilfebezieher und die Bezugsdauer erheblich angestiegen. Der mit der Dauer der Arbeitslosigkeit regelmäßig zunehmende Verlust von beruflicher Qualifikation erschwert die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen in das Arbeitsleben. Es hat sich ein Sockel von Arbeitslosenhilfebeziehern gebildet, der die Arbeitslosenhilfe nicht nur vorübergehend, sondern immer häufiger mehr als zehn Jahre in Anspruch nimmt. Im geltenden Recht gewährleisten Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe den Schutz vor den finanziellen Folgen der Arbeitslosigkeit. Der vorliegende Gesetzentwuf zur Reform des Rechts der Arbeitslosenhilfe enthält die im wesentlichen notwendigen strukturellen Änderungen: Erstens. Der Anspruch auf die Arbeitslosenhilfe setzt voraus, daß der Arbeitslose ein Jahr gearbeitet und im Anschluß daran Arbeitslosengeld bezogen hat. Arbeitslose, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, haben den Anspruch auf Sozialhilfe. Diese unterschiedliche Behandlung muß bei einer Langzeitarbeitslosigkeit mehr oder weniger als Zufall gesehen werden. Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe sind deshalb stärker aufeinander abzustimmen und systemgerechter abzugrenzen. Dieses Ziel könnte durch eine Befristung der Arbeitslosenhilfe erreicht werden. Der Entwurf sieht dies eben nicht vor. Er beruht vielmehr auf der Abwägung, daß es besser ist, durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen langjährigen Arbeitslosen, die auch einen Verlust von beruflicher Qualifikation haben, einen Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen. Da die Nachfrage nach Arbeitsplätzen das Angebot weit übersteigt, kann dieses Ziel erreicht werden: durch eine Verbesserung der bestehenen Beschäftigungsmöglichkeiten in Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung und produktiven Arbeitsförderung, durch Erschließen neuer Beschäftigungsmöglichkeiten, die gegenwärtig z. B. vielfach durch ausländische Saisonarbeitnehmer genutzt werden, dabei mit einer finanziellen Anreizleistung, durch das Angebot von Tätigkeiten und Maßnahmen, die zur Wiedereingliederung oder Verbesserung der Vermittlungsaussichten beitragen und dies durch finanzielle Absicherung und Weiterzahlung der Arbeitslosenhilfe, durch die Beseitigung von bestehenden Hindernissen für den Versuch von Arbeitlosen, ihren Lebensunterhalt durch eine selbständige Erwerbstätigkeit zu bestreiten. Zweitens. Mit dem geltenden Recht können diese Ansätze nicht verwirklicht werden. Es ist verwaltungsaufwendig und wegen des weiten Beurteilungsspielraums in der Höhe des Arbeitslosengeldes nicht hilfreich. Der Entwurf sieht deshalb vor, daß die Neufestsetzung und Anpassung an die Entwicklung der Bruttoarbeitsentgelte jährlich erfolgt und an die Stelle der individuellen Neufestsetzung ein pauschaler Ansatz tritt. Drittens. Da die Nachfrage nach Arbeitsplätzen das Angebot übersteigt, kann die Arbeitsbereitschaft von Arbeitslosenhilfebeziehern vielfach nicht überprüft werden. Arbeitslosenhilfe können deshalb auch Personen beziehen, die keine Arbeit suchen. Sie nehmen die Arbeitslosenhilfe mißbräuchlich in Anspruch. Viertens. Die Arbeitslosenhilfe ist eine aus Steuermitteln des Bundes finanzierte staatliche Fürsorgeleistung. Der Arbeitslose erhält sie, soweit er seinen Lebensunterhalt nicht auf andere Weise bestreiten kann. Die Arbeitslosenhilfe soll deshalb ruhen, wenn der Arbeitslose voraussichtlich die Voraussetzungen einer Rente wegen Alters erfüllt, diese aber nicht beantragt. Fünftens. Das geltende Recht bietet dem Ehegatten des Arbeitslosenhilfebeziehers vielfach keinen Anreiz, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, weil das Einkommen bei der Arbeitslosenhilfe angerechnet wird. Wie in der Sozialhilfe soll deshalb durch einen zusätzlichen Freibetrag ein entsprechender finanzieller Anreiz für den Ehegatten geschaffen werden. Sechstens. Der vorliegende Entwurf setzt bei der Reform der Arbeitslosenhilfe folgende Schwerpunkte: Erhöhung des Anteils von Arbeitslosenhilfebeziehern an Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung und der produktiven Arbeitsförderung - §§ 242s, 249h AFG -, Einführung von Trainingsmaßnahmen für Arbeitslosenhilfebezieher unter Weiterzahlung der Arbeitslosenhilfe, Erschließung zumutbarer Beschäftigungsmöglichkeiten durch Einführung einer Arbeitnehmerhilfe - über 60 Prozent der Arbeitslosenhilfeempfänger sind unter 45 Jahre alt - Verlängerung der Fristen, innerhalb deren ein Arbeitsloser eine selbständige Tätigkeit ohne Nachteile bei der Arbeitslosenhilfe ausüben kann, Verlängerung der Fristen, innerhalb deren ein Arbeitsloser sein Recht auf Arbeitslosenhilfe nicht verliert, wenn er wegen der Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nicht bedürftig war, pauschalierende und weniger verwaltungsaufwendige jährliche Anpassung des für die Arbeitslosenhilfe maßgeblichen Arbeitsentgelts, Begrenzung der Arbeitslosenhilfe bis zu dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitslose frühestens eine Altersrente beanspruchen kann. Natürlich wird durch diese Gesetzgebung auch der Bundeshaushalt entlastet; dies ist erforderlich, um Spielräume für arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitische Maßnahmen zu schaffen. Birgit Schnieber-Jastram (CDU/CSU): Eines, glaube ich, ist in diesem Hause unstrittig: Die Sozialversicherungssysteme Arbeitslosenversicherung, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe müssen effektiver als bisher miteinander kooperieren und aufeinander abgestimmt werden. Aber diese Forderung ist nur sinnvoll, wenn eine Reform der einzelnen Systeme - eben auch der Arbeitslosenhilfe - akzeptiert wird. Man muß den Mund nicht nur spitzen, sondern auch pfeifen. Die Voraussetzungen des Bezuges dieser Sozialleistung haben sich geändert: Arbeitslosenhilfe ist leider nicht mehr nur eine Übergangsleistung bei einem kurzfristigen Verlust des Arbeitsplatzes, sondern sie wird mehr und mehr zu einer Dauerleistung. Über die Ursachen dieser Entwicklung kann man sich streiten, das Faktum jedoch bleibt bestehen: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen und ihr Verbleib in der Arbeitslosenhilfe nehmen zu. Wie soll die Sozialpolitik auf diese Entwicklung reagieren? Soll weiterhin ein reines Versorgungssystem aufrecht erhalten werden, oder können den Langzeitarbeitslosen, denen in ihrer Gesamtheit hier niemand den Arbeitswillen abspricht, nicht auch Perspektiven auf eine Beschäftigung eröffnet werden? Ich denke, das wäre ein vernünftiger Weg. Ich möchte einige Punkte des Gesetzentwurfes der Koalition besonders hervorheben: So sollen in Zukunft mit geringen Ausnahmen nur noch Langzeitarbeitslose in die Allgemeinen Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung zugewiesen werden können. Außerdem werden Trainingsmaßnahmen für Arbeitslose eingeführt, die ihnen nicht nur bei der Bewerbung helfen sollen sondern unter Umständen auch ihre Eignung und Begabung für eine neue Tätigkeit aufzeigen, insgesamt ihre „Professionalität" verbessern sollen. Eine weitere geplante Maßnahme, die ich für sinnvoll halte, sind Zuschüsse an jüngere Arbeitslosenhilfeempfänger, die sich für befristete und nicht gerade hoch dotierte Beschäftigungen zur Verfügung stellen. Wer etwa bei der Ernte mitarbeitet, erhält 25 DM täglich als Zuschlag zu seinem Entgelt. Wenn man bedenkt, daß ein beträchtlicher Anteil der Arbeitslosenhilfebezieher zu einer solchen Tätigkeit in der Lage ist, ist dieses Angebot - ich möchte die Freiwilligkeit unterstreichen wünschenswert und erfreulich. Wer in diesem Zusammenhang von „Arbeitsdienst" redet, zeigt nicht nur sein historisches Unverständnis, sondern offenbart auch nationalen Hochmut nach dem Motto: „Ein Deutscher bückt sich nicht vor einer Erdbeere." Hunderttausende ausländischer Arbeitnehmer kennen diese Scheu nicht und sind sich für Erntearbeiten in Deutschland nicht zu schade. Außerdem möchte ich in diesem Zusammenhang an einen Satz von Willy Brandt erinnern, der zutreffend bemerkte, daß das Sozialstaatsangebot „nicht nur Pflichten des Gemeinwesens gegenüber dem Bürger, sondern auch soziale Verpflichtungen der Bürger im Verhältnis zum Staat" beinhaltet. Liebe Kollegen von der SPD, ich interpretiere in dem heutigen Zusammenhang die Worte ihres ExVorsitzenden so: Wer Hilfe vom Gemeinwesen erhält, der soll sich nach seinen Möglichkeiten auch bemühen, diese Hilfe nicht mehr oder in geringerem Umfang zu benötigen. Nur für den Fall, daß Sie mir vorwerfen sollten, ich würde Sie auf alte Kamellen von vorgestern festnageln, möchte ich auf Äußerungen des Hamburger Bürgermeisters, Ihres Parteifreundes Henning Voscherau, hinweisen. Der forderte in einem Interview vor knapp einer Woche die Abschaffung „überkommener Zumutbarkeitsgrenzen" und erklärte, es könne nicht Sache des einzelnen sein, sich zwischen Arbeit und „einem Einkommen aus der Tasche des Steuerzahlers" zu entscheiden. Ist das, liebe Kollegen von der SPD, ein Anschlag auf den Sozialstaat? Ich habe die meines Erachtens positiven Aspekte des vorliegenden Gesetzentwurfes hervorgehoben und möchte nun einige Sätze zu einer Neuregelung sagen, der ich - und auch einige meiner Fraktionskollegen - nicht ganz ohne Bedenken zustimmen kann: Geplant ist, die Minderung der beruflichen Qualifikation dadurch auszugleichen, daß das Bemessungsentgelt um fünf Prozent gekürzt wird, bis der durchschnittliche Tariflohn der untersten Gruppe erreicht ist. Tatsächlich ist eine Kürzung der Arbeitslosenhilfe, die ja im Vergleich zum Arbeitslosengeld bereits reduziert ist, nicht unproblematisch. Dies gilt um so mehr, wenn es sich um eine pauschale Kürzung handelt. Das individuelle Schicksal verliert an Bedeutung, die eigenen Anstrengungen, der Notlage zu entkommen, können nicht gewürdigt werden. Dies begründet auch mein Bedenken gegen die Vorlage. Die Kürzung der Arbeitslosenhilfe nach drei Jahren wegen der Abnahme beruflicher Qualifikation ist ja bekanntlich geltendes Recht; die Durchsetzung wurde wiederholt vom Bundesrechnungshof angemahnt. Es ist aber wichtig, daß ältere Arbeitslose, die nur noch geringe Vermittlungschancen haben, nicht das Gefühl bekommen, bestraft zu werden. Gerade sie müssen im Gegenteil eine besondere Förderung erfahren. Andererseits war eine Regelung, die alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen hatte, nur sehr schwer in die Praxis umzusetzen. Bereits bei der alten Regelung endete die Neufestlegung der Arbeitslosenhilfe häufig vor dem Sozialgericht. Eindeutige gesetzliche Regelungen sind hier wohl tatsächlich nötig, um Rechtsklarheit zu erhalten und Ungerechtigkeiten vorzubeugen. Wie gesagt, nicht allen Einzelpunkten der Novellierung stimme ich aus vollem Herzen zu. Ich akzeptiere die aus meiner Sicht problematischen Abschnitte als Notwendigkeit, auf die nicht nur der Sparzwang hinweist. Auch eine Anpassung an den geänderten Charakter der Arbeitslosenhilfe als „Massenleistung" macht eine Reform in der vorgeschlagenen Art nötig. Insofern kann ich den Gesetzentwurf der Koalition als Gesamtpaket mit gutem Gewissen als gelungen bezeichnen. Abschließend möchte ich den Kollegen von der SPD, deren Kriegsgeheul von sozialem Kahlschlag und „menschlicher Sauerei" (Ottmar Schreiner) in den letzten Wochen wieder lauter geworden ist, in Erinnerung rufen: Es sind eure Engel, die den Teufel an die Wand malen. Unter Ihrer Ägide wurden die ersten einschneidenden Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe geplant, nämlich eine Senkung der Arbeitslosenhilfe und eine Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien. Damals, im März 1981, titelte der „Spiegel" sogar: „Sozialleistungen werden eingesammelt". Ihr Parteifreund Hans Matthöfer erklärte, „von einer Phase des Ausbaus sozialer Leistungen" sei nun - 1981 - „in eine Phase gesunden Abwägens von sozialer Sicherung und Eigenverantwortung überzugehen". Was damals richtig war, ist auch heute gültig. Insofern sollten auch die Kollegen von der SPD den vorliegenden Entwurf, der jene Forderung des Abwägens erfüllt, als das sehen, was er ist: Eine Sicherungsmaßnahme im Sozialstaat. Adolf Ostertag (SPD): Heute vor einer Woche hat der Bundesarbeitsminister auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall das „Bündnis für Arbeit" als „bedeutsamen Beitrag" bezeichnet und angeboten: Laßt uns auf dem Boden der Vorschläge von Klaus Zwickel, nicht auf der Höhe abstrakter Diskussionen, sondern im Rahmen ganz konkreter Projekte zusammenarbeiten, wo es geht. Vorgestern hat der Kanzler auch lobende Worte gefunden. Ich bezweifle aber, ob Sie dieses Angebot der IG Metall wirklich gelesen haben und auch ernst nehmen. Wörtlich heißt es da: „Dieses Bündnis verpflichtet die Bundesregierung, die Arbeitgeber und auch uns zur Einhaltung ... Wenn die Bundesregierung verbindlich erklärt, bei der Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes auf die Kürzung des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe zu verzichten und die Sozialhilfekriterien nicht zu verschlechtern", nur dann wird es ein „Bündnis für Arbeit" geben. Einen Tag nach diesem Angebot hat das Kabinett unter Leitung des Bundesarbeitsministers den Gesetzentwurf mit dem irreführenden Etikett „Reform des Rechts der Arbeitslosenhilfe" - besser: „Arbeitslosenbekämpfungsgesetz" - beschlossen. Darin stehen genau die Verschlechterungen, die das angebotene „Bündnis für Arbeit" unmöglich machen. Herr Bundesarbeitsminister, was ist mit den „ganz konkreten Projekten" ? Gehört dieser Entwurf dazu? Meine Damen und Herren, dieses Beispiel zeigt erneut, wie diese Regierung schönfärberisch redet und gleichzeitig eiskalt ihre Politik des sozialen Ausgrenzens weitertreibt. Sie bekämpfen doch die Arbeitslosen statt die Massenarbeitslosigkeit. Sie wälzen die sozialen Risiken einseitig auf die Beitragszahler ab; Sie ruinieren die Finanzen der Gemeinden in unverantwortlicher Weise. Damit hat diese Regierung den Konsens, der für einen Sozialstaat unerläßlich ist, längst verlassen. Und jetzt kommt gleich ein dreifacher Salto zur weiteren Demontage der Arbeitsmarktpolitik: Erstens. Mit den aktuellen Änderungen im Bereich des Asylbewerberleistungsgesetzes werden 35 000 Personen aus der originären Arbeitslosenhilfe in die Sozialhilfe abgeschoben, und die Arbeitslosigkeit wird weiter kommunalisiert und statistisch verkleinert. Der Bund stiehlt sich aus seiner Verantwortung. Zweitens. Mit den angekündigten Veränderungen im AFG, die den wohlklingenden Namen „Arbeitsförderungs-Reformgesetz" erhalten sollen, wird das Instrumentarium der aktiven Arbeitsmarktpolitik weiter demontiert. Es wird eine Pseudoreform werden, die wieder der Finanzminister diktiert. Drittens. Auch mit dem sogenannten Arbeitslosenhilfe„reform"gesetz, das wir heute beraten müssen, setzt diese Bundesregierung ihre Strategie des Sozialabbaus und der Ausgrenzung konsequent fort. Die Arbeitslosenhilfe soll weiter auf das Sozialhilfeniveau gedrückt werden. Die Ausgliederung aus dem AFG ist der erste Schritt zur generellen Abschaffung. Für viele Arbeitslose und ihre Familien werden diese gesetzgeberischen Untaten zum Salto mortale. Mit Ihren Vorschlägen zur Arbeitslosenhilfe wird sich die finanzielle und soziale Lage der Arbeitslosen verschärfen, von dem psychischen Druck einmal ganz zu schweigen. Erstens. Sie behaupten, mit den vorgeschlagenen Regelungen eine bessere Integration der Arbeitslosenhilfempfänger zu ermöglichen. In Wahrheit geht es Ihnen nur um Kostenverschiebung. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund spricht von „Flickschusterei zu Lasten der Kommunen". Die Stadt Frankfurt wird Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz einlegen. Das wurde mit den CDU-Stimmen beschlossen. Durch den Gesetzentwurf wollen Sie den Bund in Milliardenhöhe entlasten auf Kosten der Arbeitslosenhilfeempfänger, der Sozialhilfeempfänger sowie der beitragsfinanzierten Arbeitsmarktpolitik. Zweitens. Sie wollen den Anteil von Arbeitslosenhilfebeziehern in Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung und der produktiven Arbeitsförderung erhöhen. In diese Maßnahmen dürfen allerdings nur noch Bezieher von Arbeitslosenhilfe einbezogen werden. Diese Maßnahmen werden aus Beitragsmitteln finanziert. Der Bund entlastet sich somit, indem er sich bei den Beitragszahlern „bedient". Darüber hinaus bringt dies auch arbeitsmarktpolitisch nichts, da erst nach einer Verfestigung der Arbeitslosigkeit die Teilnahme an einer derartigen Maßnahme möglich ist. Statt zügiger Eingliederung von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt wird ein Abgleiten von Arbeitslosengeldempfängern in die Arbeitslosenhilfe programmiert. Drittens. Mit den vorgesehenen Trainingsmaßnahmen bei gleichzeitigem Bezug von Arbeitslosenhilfe sollen die Wiedereingliederungschancen verbessert werden. In erster Linie geht es aber darum, die Arbeitsbereitschaft zu testen. Bei einer Verweigerung gibt's Sperrzeit. Damit können die Empfänger von Arbeitslosenhilfe aus dem Leistungsbezug gedrängt werden. Von den Kosten für diese Trainingsmaßnahmen verabschiedet sich der Bund, den Beitragszahlern werden sie aufgehalst. Viertens. Ältere Arbeitslose sollen gezwungen werden, zum frühestmöglichen Termin Rente wegen Alters zu beantragen. Dies würde bei den Betroffenen zu niedrigeren Renten führen, da sich der Zeitraum der Beitragszahlung verkürzt. Falls sich die Bundesregierung mit den von ihr geplanten Abschlägen durchsetzt, würden die Renten noch weiter gekürzt. Fünftens. Die Bundesregierung will das für die Berechnung der Arbeitslosenhilfe maßgebliche Arbeitsentgelt jährlich pauschal um 5 Prozent senken. Als Untergrenze sollen 50 Prozent der Bezugsgröße nach § 18 SGB IV festgelegt werden. In Westdeutschland sind das zur Zeit 2 030 DM, in Ostdeutschland 1 645 DM brutto monatlich. Arbeitslosenhilfeempfänger und -empfängerinnen im Westen würden danach wöchentlich 215 DM, im Osten 174 DM (Leistungsklasse C) erhalten. Als Konsequenz ist einmal eine deutlich stärkere Belastung der Sozialhilfe zu erwarten und zum anderen ein verstärkter Druck auf die Arbeitslosen, gering entlohnte Arbeit zu akzeptieren. Sechstens. Eingeführt werden soll eine sogenannte „Arbeitnehmerhilfe" in Höhe von 25 DM täglich. Dadurch leistet die Bundesregierung einem staatlich geförderten Niedriglohnsektor Vorschub. Der Druck auf Arbeitslose, niedrig bezahlte Beschäftigung - möglicherweise unter Tarif - anzunehmen, wird erhöht. Die Tatsache, daß jede Arbeit angenommen werden muß, führt zu einer Dequalifizierung und zu einer Fehlsteuerung von Arbeitskräften. Zusammenfassend heißt das: Diese Bundesregierung zieht sich mit diesem Gesetzentwurf immer weiter von einer sinnvollen Arbeitsmarktpolitik zurück. Die Erwerbslosen werden mehr und mehr zum Sündenbock der Nation gemacht. Die Folgen sind eine weitere Verarmung der Arbeitslosen und eine weiter um sich greifende Kommunalisierung der Massenarbeitslosigkeit. Konkret in Zahlen heißt das: Auf Kosten der Beitragszahler und Kommunen will der Bund seinen Haushalt um insgesamt 3,4 Milliarden DM im Jahr 1996 beziehungsweise 3,8 Milliarden DM in den folgenden Jahren entlasten. Diese Politik steht im krassen Widerspruch zu den ständigen Versprechungen des Bundesarbeitsministers, die Beitragszahler zu entlasten. Seit 13 Jahren könnte diese Regierung was tun - sie redet aber nur und macht das Gegenteil. Ihre Vorschläge zur Arbeitslosenhilfe werden von allen gesellschaftlich wichtigen Gruppen, den Kirchen, den Gewerkschaften, dem Städte- und Gemeindebund, vielen Arbeitgebern und auch vom Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Arbeit abgelehnt. Deshalb fordere ich auch namens der SPD-Bundestagsfraktion die Bundesregierung nachdrücklich auf, den Entwurf zurückzuziehen und auch die originäre Arbeitslosenhilfe beizubehalten. Meine Damen und Herren, wir brauchen ein „Bündnis für Arbeit" und ein „Bündnis gegen Arbeitslosigkeit". Im Gegensatz zur Bundesregierung wollen wir Sozialdemokraten, daß die Mittel für die Arbeitsmarktpolitik produktiv eingesetzt werden und ein einheitliches AFG erhalten bleibt. Ich verweise auf unseren Entwurf eines Arbeits- und Strukturförderungsgesetzes, das wir am 22. Juni des Jahres erstmals beraten haben. Unsere Vorstellungen decken sich mit den Forderungen der Gewerkschaften, Sozialverbände, Kirchen und Wissenschaftlern. Meine Damen und Herren, zu Recht wird Klaus Zwickel jetzt viel gelobt. Vorgestern hat der Kanzler aufgefordert, den IG-Metall-Vorsitzenden vollständig zu zitieren. Ich empfehle dem Kanzler, das Grundsatzreferat vollständig zu lesen. Da steht auch: Bundeskanzler Helmut Kohl hat in seiner Regierungserklärung von 1994 davon gesprochen, in der laufenden Legislaturperiode drei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Weder drei Millionen Arbeitsplätze noch blühende Landschaften wurden bislang geschaffen. Bundeskanzler Kohl verspricht vieles, hält jedoch wenig. Ich fürchte, das bleibt auch so. Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn sich eine unbefangene Zuhörerin - sollte es sie denn an einem Freitag nachmittag um diese Uhrzeit noch geben - diese Debatte anhört, muß sie glauben, daß hier von ganz unterschiedlichen Gesetzen die Rede ist. Der Kollege Schreiner spricht - und da hat er meine volle Zustimmung - vom Arbeitslosenbekämpfungsgesetz. CDU und FDP behaupten, es ginge um Hilfen für Langzeitarbeitslose, darum, den Ausgegrenzten und sozial Schwachen dieser Gesellschaft die Hand zu reichen. Schade, daß das nichts als blanke Rhetorik ist. Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, tun genau das Gegenteil von dem, was Sie hier behaupten. Was Sie hier vorlegen, ist und bleibt soziale Demontage. Kern des Gesetzentwurfs ist die Verschärfung von Kontrollen gegenüber den Erwerbslosen, das weitere Abdrängen der Betroffenen in Armut und Billiglohnsektor. Die versprochenen zusätzlichen Maßnahmen für Langzeitarbeitslose sind eben keine zusätzlichen - dafür haben Sie der Bundesanstalt ja auch gar kein Geld zur Verfügung gestellt -, sondern gehen zu Lasten anderer Erwerbsloser. Wenn Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, die Zugangsvoraussetzung für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen von sechs auf zwölf Monate erhöhen, produzieren Sie neue Langzeitarbeitslose. Wenn Sie nicht wirklich neue Maßnahmen ergreifen, mehr Angebote an aktiver Arbeitsmarktpolitik machen, führt das zu einem Verdrängungswettbewerb zwischen denjenigen, die unsere Unterstützung dringend brauchen. Dem Bundeshaushalt für 1996, der heute von Ihnen hier verabschiedet worden ist, liegt die sogenannte Arbeitslosenhilfereform schon zugrunde, obwohl wir den Gesetzentwurf der Regierung heute zum ersten Mal im Parlament beraten. Das macht deutlich, worum es eigentlich geht: nicht um sinnvolle Sozial- und Arbeitspolitik im Konzept, sondern um das Verschieben von Kostenstellen weg vom Bundeshaushalt. Belastet werden sozial Schwache, die wirklich keine Mark entbehren können, nämlich die betroffenen Arbeitslosenhilfebezieher und -bezieherinnen, belastet wird die Arbeitslosenversicherung und auch die Rentenversicherung, belastet werden die Kommunen. Die Kommunen müssen bluten: durch die Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe, mit der die Leute gleich an die Sozialhilfe durchgereicht werden , mit der Steigerung der ergänzenden Sozialhilfe, mit der Produktion neuer Langzeitarbeitsloser. Dieses Faktum können Sie auch nicht dadurch verdecken, daß Sie völlig sachfremd einen Teil Ihrer gesetzlichen Änderungen ins Asylbewerberleistungsgesetz abgeschoben haben. Für so dumm können Sie den Deutschen Städtetag doch nicht ernstlich halten! Ich hoffe, daß Sie mit dem Versuch gründlich auf die Nase fallen, in Ihrem ausländerfeindlichen Asylbewerberleistungsgesetz eine Rechnung aufzumachen, die den Kommunen die neuen Belastungen als finanzielle Erleichterungen verkaufen soll und die Haushaltsdruck gegen politischen Anstand ausspielen will. Die durchschnittliche Arbeitslosenhilfe reicht schon jetzt kaum zum Leben. Viele - fast ein Viertel - beziehen weniger als 600 DM im Monat. Sie leben in oder am Rande der Armut. Genau diese Verarmung wollen Sie jetzt noch beschleunigen: Sie konstruieren eine Rutschbahn in Armut und Billiglohnsektor. Die jetztige ist Ihnen, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, offensichtlich noch nicht steil genug -5 Prozent jährlich sollen die Bemessungsentgelte automatisch abgesenkt werden. Den Vorwurf „Marktwert", Herr Minister, werden Sie sich damit nicht mehr einhandeln; denn mit Markt hat ein Absenkungsautomatismus nichts mehr zu schaffen. Allerdings hat er auch nichts mehr zu tun mit einer Versicherungsleistung, die die Arbeitslosenhilfe bisher gewesen ist. Denn zum Wesen der Erwerbslosigkeit, dem Risiko, gegen das die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich versichern, gehört doch gerade, die eigene Arbeitskraft nicht verkaufen zu können, zur Zeit nicht gebraucht zu werden und „überschüssig" zu sein. Die Ausgrenzung von Millionen Menschen aus der Erwerbsarbeit zur Waffe zu machen und gegen die Betroffenen zu wenden ist schon abenteuerlich. Mit dieser automatischen Abwertung hebeln Sie den Charakter der Arbeitslosenhilfe als Versicherungsleistung, auf die Anspruch besteht, weiter aus und verändern ihren Charakter hin zur Sozialhilfe. Sie verschärfen den Druck auf die Arbeitslosenhilfebezieher, jede Arbeit unter jeder Bedingung anzunehmen. Perspektiven bieten Sie ihnen keine, sondern hier wird lediglich die Situation der Schwäche ausgenutzt, um das Angebot an Billiglohnarbeitskräften zu vergrößern. Das gilt für die Ernteeinsätze genauso wie für die Trainingsmaßnahmen für ALH-Bezieher, die der Gesetzentwurf vorsieht. Bei entsprechender Ausgestaltung könnte ja z. B. ein Bewerbungstraining zumindest eine sinnvolle Förderung im Einzelfall darstellen. Aber darum geht es nicht, das steht erfrischend offen in der Begründung. Die Trainingsmaßnahmen dienen der Einsparung von Haushaltsmitteln, sie sollen die Arbeitsbereitschaft überprüfen und Leistungsmißbrauch feststellen. Sie sind also vor allem Instrument der Kontrolle und eine Schikane gegen Erwerbslose, keineswegs ein Instrument zur Integration in den Arbeitsmarkt. Und hier, so muß ich sagen, macht mir eines wirklich Sorgen: Der ganze Gesetzentwurf spricht immer wieder von Mißbrauchsvermeidung, von schärferen Kontrollen gegenüber den Erwerbslosen. Das gilt genauso für die entsprechenden Passagen im Asylbewerberleistungsgesetz. Sie erwecken in der Öffentlichkeit den Eindruck, als wollten die Menschen die Allgemeinheit betrügen, als wollten sie nicht arbeiten, als bräuchten sie, wie Herr Schäuble das am Mittwoch in der Haushaltsberatung wieder gesagt hat, Anreize zur Arbeit. Angesichts von zirka 6 Millionen fehlenden Erwerbsarbeitsplätzen ist diese Unterstellung doch offensichtlich absurd. Sie öffnen Tür und Tor für eine Mißbrauchskampagne, die jetzt schon in Teilen der Presse begonnen hat. Das bedeutet Stammtischneid auf das angeblich goldene Leben der ALH-Bezieher, auf die, die auf unsere Kosten leben. Für die Betroffenen heißt das neben der schweren Belastung, aus dem Erwerbsleben ausgegrenzt zu sein, außerdem noch Diffamierung und Entmutigung. Für das gesellschaftliche Klima ist das ein weiterer Schritt hin zu Entsolidarisierung und Ellbogengesellschaft. Wir werden alles tun, um solchen Diffamierungen entgegenzutreten. Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Die Gesetzesänderungen im Arbeitsförderungsgesetz, die wir heute beschließen, sind Teil der Haushaltsgesetzgebung. Sie betreffen die Arbeitslosenhilfeempfänger. Da durch die vorgesehenen Änderungen 1,3 Milliarden DM gespart werden sollen, ist schnell erklärlich, daß diese Sparvorschläge in der öffentlichen Diskussion sehr polemisch erörtert werden. Manchem Sozialpolitiker fällt es schwer, die von Finanzen diktierte Sozialpolitik hier im Bundestag zu verteidigen. Allemal ist es leichter, mit grünem Feldgetöse oder kirchlicher Berufsentrüstung vom Leder zu ziehen, als sich die Mühe zu machen, die Vorschriften genauer anzusehen und zu bewerten. Bezieher von Arbeitslosenhilfe erhalten ihr Geld auf der Grundlage ihres letzten Nettogehaltes. Sie bekommen es zur Hälfte unbegrenzt - was einmalig ist, wenn Sie einmal europäische Nachbarländer zum Vergleich heranziehen - und erleben jährlich die Anpassung an die Steigerungen der Bruttoentgelte. Schon nach geltendem Recht ist die Bemessungsgrundlage nicht statisch, über alle Jahre hinweg auf derselben Höhe. Auch heute werden in einem Zeitraum von drei Jahren die Beträge „unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles" neu festgesetzt. In die Praxis ist diese Vorschrift aber kaum umgesetzt worden. Jetzt soll die Bemessungsgrundlage - kurz: der letzte Lohn - jährlich um 5 Prozent gekürzt werden, herunter bis zum niedrigsten Tariflohn der entsprechenden Branche. Daß also jemand, der 600 DM Arbeitslosenhilfe bekommt, diese gekürzt bekommt, wie gestern Redner von der SPD behauptet haben, stimmt nicht. Im Grunde ist es doch schwierig zu begründen, warum jemand, der seit längerem aus dem Arbeitsprozeß herausgefallen ist, immer noch fiktiv auf der selben Lohnstufe die Unterstützungsleistung erhalten soll. Es zeigt sich eben, daß das Fürsorgesystem des Bundes - nichts anderes ist ja das Arbeitslosenhilferecht -, orientiert am einmal verdienten Lohn, in innere Widersprüche gerät. Der Absenkung auf der einen Seite stehen nun aber auch verstärkte Hilfen auf der anderen gegenüber. Eine Verbesserung sehe ich darin, daß den Empfängern von Arbeitslosenhilfe Trainingsmaßnahmen angeboten werden können, daß das Instrument der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ihnen mehr als jetzt zugedacht wird. Damit entwickelt sich die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zu einem Angebot gerade für den Personenkreis, der länger arbeitslos ist. Daß die in solchen Maßnahmen Beschäftigten dann gleich wieder Ansprüche erwerben und unter Umständen wieder Arbeitslosengeld bekommen können, gehört zu den Fragwürdigkeiten dieses Instruments. Es macht aber durchaus Sinn aus sozialpolitischer Sicht, AB-Maßnahmen auf Arbeitslosenhilfeempfänger zu konzentrieren. Bedenken habe ich bei dieser Operation eher, was die Finanzierung angeht. Sparen tut der Finanzminister, zahlen müssen die Beitragszahler. Denn AB-Maßnahmen werden von den Beiträgen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer gezahlt. Die über diesen Weg erzielten Einsparungen sind also keine Kürzungen am Unterhalt der Arbeitslosenhilfeempfänger, im Gegenteil eher eine Verstärkung der Hilfen, sie gehen aber zu Lasten der Lohnzusatzkosten. Das widerspricht ganz klar den Absichten der Koalition, die Lohnzusatzkosten zu senken - was auch in der Koalitionsvereinbarung steht. Also, Herr Minister Blüm, von dieser Bürde hat Sie das vorliegende Gesetz nicht befreit. Aus dieser Verantwortung können wir Sie auch nicht entlassen. Setzen Sie Ihre Hoffnungen nicht auf Theo Waigel, bringen Sie selbst Sparvorschläge ein, die dem Ziel „Senkung der Lohnnebenkosten" dienen. Jede Veränderung im Bereich der Arbeitslosenhilfe wird von den Kommunen besonders kritisch beäugt. Sie sorgen sich um zusätzliche Belastungen in der Sozialhilfe. Diese Befürchtungen entzünden sich zur Zeit insbesondere an der Absenkung der Bemessungsgrundlage der Arbeitslosenhilfe sowie an der Streichung der originären Arbeitslosenhilfe, die an anderer Stelle im Asylbewerberleistungsgesetz vorgesehen ist. Ich möchte feststellen, daß ich diese Befürchtungen diesmal für unbegründet halte. Geringfügigen Mehrbelastungen durch die Reform der Arbeitslosenhilfe stehen deutliche Entlastungen der Kommunen durch die Novellierung des Sozialhilfegesetzes und des Asylbewerberleistungsgesetzes gegenüber. Voraussetzung ist allerdings, daß die Länder diesen Entlastungen im Bundesrat auch zustimmen. Daher sollten die Städte und Gemeinden ihr Klagelied weniger an den Bund als vielmehr an ihre jeweiligen Landesregierungen richten. Diese stehen für die kommunalen Haushalte nämlich in erster Linie in der Verantwortung. Meine Damen und Herren, bei näherer Betrachtung halte ich die hier zu beschließende Gesetzesänderung für sozial vertretbar. Der Absenkung auf der einen Seite stehen verstärkte Hilfen auf der anderen gegenüber. Die Belastung der Beitragzahler bleibt bedenklich. Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Freitag nachmittag - der übliche Zeitpunkt, dieselbe bekannte Runde, gemütlich eigentlich, wenn da nicht diese Themen wären. Woche für Woche werden unter diesen Bedingungen - unter faktischem Ausschluß der Öffentlichkeit - Beschlüsse gefaßt, die das Sozialsystem fortgesetzt aushöhlen. Nun das neueste Elaborat aus dem Hause Blüm: Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz. Ein Blick in die Zielsetzung legt die Vermutung nahe: Der Arbeitsminister hat es geschafft, endlich ist der Kreis quadriert. Da heißt es, Fallzahlen und Bezugsdauer der Arbeitslosenhilfe seien „erheblich gestiegen", mit „der Dauer der Arbeitslosigkeit entstehe ein regelmäßiger Verlust an beruflicher Qualifikation", und das erschwere die Wiedereingliederung; deshalb verbessere die Bundesregierung die bestehenden Möglichkeiten, schaffe zusätzliche, verbessere die Vermittlungsaussichten, erleichtere die Selbständigkeit usw. usw. So viele Wohltaten! Und das Tollste: Diese Aktivitäten für Arbeitslose kosten nicht nur nichts, sie entlasten den Bundeshaushalt auch noch um 2,1 Milliarden DM. Fürwahr, ein Glanzstück - ein Glanzstück nicht der arbeitsmarktpolitischen Intelligenz der Bundesregierung, sondern ein Glanzstück ihrer demagogischen Entsorgungssprache: Die Sorgen der Menschen werden durch Sprachregelungen beseitigt. Gestern, Herr Minister, haben Sie uns dafür wieder ein bemerkenswertes Beispiel geliefert. Sie fragten uns, was wir denn dagegen hätten, wenn endlich auch mal die Langzeitarbeitslosen von der Arbeitsförderung profitierten. Sie wissen natürlich, daß wir dagegen gar nichts haben, uns allerdings fragen, warum Sie nicht längst mehr getan haben, sondern warten, bis die Zahl der Langzeitarbeitslosen auf fast eine Million angewachsen ist. Und auch das Sonderprogramm gegen Langzeitarbeitslosigkeit haben Sie ja nicht freiwillig wiederaufgelegt. Jetzt sollen Arbeitslosenhilfebezieher verstärkt in § 240h-Maßnahmen. Wie soll das gehen, wenn doch heute schon klar ist, daß z. B. die Mittel für die BVS für 1996 gesenkt sind und dort 25 000 bis 28 000 Stellen zur Disposition stehen? Aber in diesem Gesetz geht es ja im Kern auch um etwas ganz anderes: Dieses Gesetz ist ein rüdes Sparprogramm auf Kosten der Arbeitslosenhilfebezieher/ Innen. Um 5 % soll ihre Arbeitslosenhilfe jährlich runtergestuft werden. Ihr Qualifizierungsgerede soll ja nur den Rauchvorhang für diese Ihre eigentliche Absicht abgeben, Ihre Absicht nämlich: ausgerechnet die Leistungen für Langzeitarbeitslose zu kürzen, um Ihren Chaoshaushalt zu sanieren. Sie wollen weg von der Arbeitslosenhilfe als Dauerleistung, einer Leistung, die Arbeitslose auch für den Fall des dauerhaften Verlustes der Beschäftigung sozial sichern soll. Und weil Sie davon weg wollen, Herr Blüm, gehen Sie landauf, landab mit Ihrem arbeitslosen DiplomIngenieur hausieren. Selbst die IG-Metall-Delegierten haben Sie damit veralbert. Das kommt gar nicht gut an; da helfen Ihnen auch 40 Jahre als Metaller nichts. Zurück zu Ihrem Diplom-Ingenieur also, der nach einem Einkommen von 8 000 DM nunmehr seit 20 Jahren eine üppige Arbeitslosenhilfe kassiert und sich in der sozialen Hängematte ausruht. Für dieses so trefflich demagogisch einzusetzende Einzelbeispiel sollen nun 950 000 Arbeitslosenhilfeempfänger bestraft werden. Das ist soziale Brunnenvergiftung übelster Art. So schafft man ein gesellschaftliches Klima, in dem ein angeblich seriöses Wochenjournal mit Stories „Zum süßen Leben der Sozialschmarotzer" aufmacht und vor allem kritisiert, „daß 90 Prozent der Bundesbürger das soziale Netz ... in Anspruch nehmen". Haben wir uns also schon so weit von der Sozialen Marktwirtschaft verabschiedet, daß diejenigen zu Schmarotzern erklärt werden, die den Sozialstaat beim Wort nehmen? Und Sie machen da noch mit! Wie sieht es wirklich aus? Die maximale Arbeitslosenhilfe beträgt 1995 im günstigsten Fall - verheiratet, ein Kind - 2 740 DM im Monat. Den Anteil derjenigen, die Arbeitslosenhilfe in dieser Höhe bekommen, weiß nicht mal Ihre eigene Statistik auszuweisen, so klein ist er. Aber wir brauchen gar nicht so hoch zu gehen. Nehmen wir nur diejenigen, die Arbeitslosenhilfe nach einem Bruttogehalt oberhalb der Bezugsgröße der Sozialversicherung - 4 060 DM in 1995 - erhalten. Im Februar 1995 waren das 14 Prozent, im günstigsten Fall sind das 1 557 DM im Monat; davon kann eine dreiköpfige Familie nachweislich nicht leben. Diese Familie „entlasten" Sie mit Ihren Kürzungsabsichten nun noch um 67 DM im Monat. Aber 86 Prozent bekommen eben noch weniger Geld. Im August 1995 erhielten 75 Prozent der Männer und 93 Prozent der Frauen in der Bundesre- publik Beträge noch unterhalb der Sozialhilfeschwelle. Jede Kürzung der Arbeitslosenhilfe erhöht die Sozialhilfeausgaben und damit die Belastung der Kommunen in unverantwortlicher Weise. Selbst die an sich gute Idee der verstärkten Arbeitsförderung für Arbeitslosenhilfebezieher ist ja nichts anderes als eine Kostenabwälzung auf die Bundesanstalt. Wann begreifen Sie endlich, daß sich fehlende Jobs nicht durch höheren Druck auf Arbeitslose schaffen lassen? Lassen Sie mich mit einem Zitat aus den keinerlei Sympathien für die PDS verdächtigen „Lübecker Nachrichten" vom 4. November schließen: Um 3,4 Milliarden Mark kürzt das Kabinett bei der Arbeitslosenhilfe, der zungenfertige Blüm aber münzt das ganz als Anstrengung für mehr Beschäftigung um - fürwahr ein echter Verpackungskünstler. Ich hoffe nur, die Betroffenen lassen sich nicht länger einpacken. Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Zur Zeit gibt es in Deutschland mehr als 900 000 Bezieher von Arbeitslosenhilfe. Ihre Zahl nimmt ebenso zu wie die Bezugsdauer der Leistung. Tatsache ist auch: Mit jedem Jahr der Arbeitslosigkeit nimmt die berufliche Qualifikation des Arbeitslosenhilfebeziehers ab. Das erschwert eine Wiedereingliederung in das Arbeitsleben. Ein weiterer Punkt, der uns zum Handeln veranlaßt hat: Die unterschiedliche Behandlung von Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfebeziehern nach langjähriger Arbeitslosigkeit ist unverständlich und mutet willkürlich an. Wer einmal, wenn auch nur kurze Zeit, erwerbstätig war, bezieht den Rest seines Lebens Arbeitslosenhilfe. Der Arbeitslose, der nicht mit dem Erwerbsleben in Kontakt war, bekommt im gleichen Fall Sozialhilfe. Darum wollen und müssen wir das Recht der Arbeitslosenhilfe reformieren. Um was geht es uns bei der Reform? Drei Gesichtspunkte stehen im Vordergrund. Erstens. Wir wollen Arbeitslosenhilfebeziehern, und zwar insbesondere den Langzeitarbeitslosen, Brücken aus der Arbeitslosigkeit in den ersten Arbeitsmarkt bauen. Sie sollen vom Leistungsbezug unabhängig werden. Zweitens. Wir wollen den Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung verbessern. Drittens. Wir wollen Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe stärker aufeinander abstimmen. Wir wollen vor allem durch Arbeitsmarktmaßnahmen die Qualifikation der Arbeitslosenhilfebezieher erhalten und verbessern. Sie sollen fit für den allgemeinen Arbeitsmarkt gemacht werden. Wir müssen die Zugbrücken zur Festung der Arbeitswelt herunterlassen. Wir müssen eine intelligente Arbeitsmarktpolitik betreiben, die den Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt auch tatsächlich ermöglicht. Unser Reformvorschlag zur Verbesserung der Lage der Arbeitslosen enthält folgende Maßnahmen. Erstens. Wir konzentrieren die Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf langzeitarbeitslose Bezieher von Arbeitslosenhilfe. Das sind Personen, die es nachweislich schwerer als andere haben, aus eigenen Kräften in den regulären Arbeitsmarkt zurückzukommen, und denen wir deshalb besonders helfen müssen. Künftig werden in ABM in der Regel nur noch Arbeitslose gefördert, die 12 Monate arbeitslos waren. Diese Maßnahme fördert die Benachteiligten und verbessert die Chancen der beruflichen Integration. Zweitens. Wir werden Arbeitslosenhilfebeziehern Arbeitstrainingsmaßnahmen anbieten. Dadurch soll die Eignung des Arbeitslosen für bestimmte Tätigkeiten festgestellt, der Erwerb zusätzlicher Qualifikationen gefördert und Unterstützung bei Bewerbungen geleistet werden. Der Arbeitslose erhält während der Trainingsmaßnahmen weiterhin Arbeitslosenhilfe. Drittens. Wir werden jüngeren Arbeitslosenhilfebeziehern eine Arbeitnehmerhilfe anbieten, um ihnen die Aufnahme einer befristeten Beschäftigung, insbesondere im Bereich der Saisonarbeiten, zu ermöglichen. Seit einigen Jahren besteht die paradoxe Situation, daß derartige Tätigkeiten trotz hoher Arbeitslosigkeit im Inland von einer großen Zahl ausländischer Arbeitnehmer verrichtet werden. So werden zur Zeit jährlich etwa 150 000 Arbeitserlaubnisse an ausländische Arbeitnehmer erteilt. Es ist vor diesem Hintergrund nicht einzusehen, weshalb nicht auch jüngere inländische Arbeitslose derartige Saisonarbeiten durchführen können. Die Bundesanstalt für Arbeit zahlt daher künftig als Arbeitsanreiz zusätzlich zum Arbeitslohn 25 DM pro Tag - und zwar ohne Anrechnung auf die Arbeitslosenhilfe. Viertens. Wir erleichtern Arbeitslosenhilfebeziehern die Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit. Nach der bisherigen Rechtslage gilt: Der Arbeitslose, der bei dem Versuch gescheitert ist, seinen Lebensunterhalt länger als ein Jahr aus einer selbständigen Erwerbstätigkeit zu bestreiten, hat keinen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe. Unser Gesetzentwurf sieht vor: Arbeitslosenhilfebezieher sollen eine selbständige Tätigkeit aufnehmen und fast drei Jahre ausüben können, ohne das Recht auf erneute Inanspruchnahme der Leistung zu verlieren. Fünftens. Wir wollen die Subsidiarität der bedürftigkeitsabhängigen Arbeitslosenhilfe stärken. Der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe soll begrenzt werden, wenn der Arbeitslose eine Altersrente beanspruchen könnte oder wenn er die Voraussetzungen für eine solche Altersrente in absehbarer Zeit erfüllt. Denn die aus Steuermitteln des Bundes finanzierte Arbeitslosenhilfe ist eine gegenüber der Versicherungsrente nachrangige Fürsorgeleistung. Es ist nicht einzusehen, weshalb jemand, der Anspruch auf eine Versicherungsleistung hat, statt dessen die ihr gegenüber subsidiäre Arbeitslosenhilfe beanspruchen kann. Lassen Sie mich schließlich auf die geplanten Änderungen bei der Bemessung der Arbeitslosenhilfe eingehen. Dazu hat es in den letzten Wochen ja viel Kritik und noch mehr Polemik gegeben - auch in diesem Hohen Hause. Worum geht es eigentlich? Das Bemessungsentgelt für die Arbeitslosenhilfe soll entsprechend der Dynamisierung der Bruttoarbeitsentgelte steigen. Gleichzeitig soll der Qualifikationsverlust, der mit der zunehmenden Dauer der Arbeitslosigkeit unbestreitbar verbunden ist, jedes Jahr durch einen pauschalierten Abschlag vom Bemessungsentgelt in Höhe von 5 Prozent berücksichtigt werden. Da die Dynamisierung in der Regel zu einer Erhöhung der Bruttoarbeitsentgelte führt, wird die reale Minderung des neuen Bemessungsentgelts tatsächlich geringer sein als 5 Prozent. An zwei Gesichtspunkte möchte ich in diesem Zusammenhang nochmals erinnern, um insbesondere der Gedächtnisschwäche der Opposition auf die Beine zu helfen: Das neue Bemessungsentgelt darf eine Grenze nicht unterschreiten, die sich an der untersten Tariflohngruppe orientiert, denn unter der niedrigsten Tarifgruppe kann niemand Geld verdienen. Die Arbeitslosenhilfe im Anschluß an Arbeitslosengeld wird weiterhin unbefristet gezahlt. Eine Befristung der Arbeitslosenhilfe ist - anders als Sie, Herr Scharping, vorgestern wahrheitswidrig behauptet haben - vom Tisch. Unser Vorschlag ist im übrigen keine revolutionäre Neuerung. Denn bereits das geltende Recht sieht vor, daß die Entwicklung der beruflichen Leistungsfähigkeit alle drei Jahre berücksichtigt wird. Wir machen lediglich das geltende Recht praktikabel. Die bisherige Regelung ist schwer handhabbar. Sie kann zu willkürlichen Ergebnissen führen und ist in der Vergangenheit so gut wie nie umgesetzt worden. Das hat auch der Bundesrechnungshof beanstandet. Wer, wie die Opposition, unsere Reformvorschläge als „Etikettenschwindel", als „Bestrafung der Arbeitslosen" oder als „primitive Konfliktstrategie auf dem Rücken der Arbeitnehmer" bezeichnet, der hat gar nicht begriffen, um was es eigentlich geht. Wir finanzieren nicht Arbeitlosigkeit, wir finanzieren Rückkehrhilfen in den regulären Arbeitsmarkt. Wenn es gelingt, die Arbeitslosen wieder in Arbeit zu bringen, dann wird dadurch automatisch Geld gespart. So erzielen wir durch die Maßnahmen zur Rückkehr der Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt einen Einspareffekt von 1,5 Milliarden DM im Bundeshaushalt. Die Leistungsempfänger verlieren dadurch keine einzige Mark. Sie stehen sich sogar besser, weil sie eine neue Arbeit erhalten oder weil sie in ABM ein höheres Entgelt bekommen. Das Gesamtpaket zur Reform der Arbeitslosenhilfe wird 1996 zu einer Entlastung des Bundeshaushalts in Höhe von 3,4 Milliarden DM führen. Davon entfallen 2,1 Milliarden DM auf das ArbeitslosenhilfeReformgesetz, 1,3 Milliarden DM auf die im Asylbewerberleistungsgesetz vorgesehenen Maßnahmen. Die Entlastung wird - anders als die Opposition glauben machen will - nur zu einem geringeren Teil durch eine Begrenzung von Leistungen erzielt: Gerade einmal 300 Millionen DM werden durch die geplante Änderung bei der Neubemessung der Arbeitslosenhilfe eingespart. Das sind noch nicht einmal 10 Prozent der Mittel zur Verbesserung der Eingliederung von Langzeitarbeitslosen in den allgemeinen Arbeitsmarkt, wie wir sie im ArbeitslosenhilfeReformgesetz und Asylbewerberleistungsgesetz bereitstellen. 600 Millionen DM werden durch die Streichung der originären Arbeitslosenhilfe eingespart. Der überwiegende Teil der Entlastung wird durch strukturelle Änderungen der Arbeitslosenhilfe erreicht werden, bei denen die Wiedereingliederung der Arbeitslosenhilfebezieher in den allgemeinen Arbeitsmarkt im Vordergrund steht. Deshalb appelliere ich an Sie: Lesen Sie den Entwurf zum Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz aufmerksam. Sie werden dann feststellen, daß dieses weniger ein Spargesetz als ein konstruktiver Beitrag zur Verbesserung der Lage von Langzeitarbeitslosen ist. Lassen Sie uns darüber unvoreingenommen diskutieren. Anlage 4 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 690. Sitzung am 3. November 1995 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß § 77 Abs. 2 GG nicht zu stellen: - Viertes Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (4. SGB V-Änderungsgesetz - 4. SGB V-ÄndG) - Gesetz zu der Vereinbarung vom 21. Juni 1994 zur Durchführung des Abkommens vom 5. März 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Chile über Rentenversicherung - Gesetz zu dem Abkommen vom 15. März 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Litauen über die gegenseitige Hilfeleistung bei Katastrophen oder schweren Unglücksfällen - Gesetz zu dem Vertrag vom 2. April 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Belarus über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Gesetz zu dem Vertrag vom 12. November 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Estland über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Gesetz zu dem Vertrag vom 24. September 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Jamaika über die gegenseitige Förderung und den Schutz von Kapitalanlagen - Gesetz zu dem Vertrag vom 20. April 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Lettland über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Gesetz zu dem Vertrag vom 26. Juni 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Mongolischen Volksrepublik über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Gesetz zu dem Vertrag vom 15. Februar 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Ukraine über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen Die Gruppe der PDS hat mit Schreiben vom 8. November 1995 folgende Vorlagen zurückgezogen: - Antrag: Überarbeitung der Eckpunkte zur Regulierung der Telekommunikation - Drucksache 13/1224 - - Antrag: Erstattung eines Berichtes der Bundesregierung zur „Lage der Nation" und zur Durchsetzung des Einigungsvertrages anläßlich des fünften Jahrestages der staatlichen Vereingung am 3. Oktober 1995 - Drucksache 13/2227 - Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Innenausschuß Drucksachen 13/1360, 13/1616 Nr. 2 Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksachen 13/1070, 13/1233 Nr. 1.4 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EU-Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zu Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat: Innenausschuß Drucksache 13/1614, Nr. 1.6 Drucksache 13/1614, Nr. 1.8 Drucksache 13/2306, Nr. 2.33 Drucksache 13/2306, Nr. 2.85 Haushaltsausschuß Drucksache 13/2306, Nr. 2.37 Ausschuß für Wirtschaft Drucksache 13/1614, Nr. 1.4, 13/2306 (Berichtigung) Drucksache 13/2306, Nr. 1.10 Drucksache 13/2306, Nr. 2.2 Drucksache 13/2306, Nr. 2.3 Drucksache 13/2306, Nr. 2.6 Drucksache 13/2306, Nr. 2.7 Drucksache 13/2306, Nr. 2.11 Drucksache 13/2306, Nr. 2.12 Drucksache 13/2306, Nr. 2.21 Drucksache 13/2306, Nr. 2.28 Drucksache 13/2306, Nr. 2.46 Drucksache 13/2306, Nr. 2.47 Drucksache 13/2306, Nr. 2.56 Drucksache 13/2306, Nr. 2.59 Drucksache 13/2306, Nr. 2.70 Drucksache 13/2306, Nr. 2.75 Drucksache 13/2306, Nr. 2.84 Drucksache 13/2306, Nr. 2.92 Drucksache 13/2306, Nr. 2.93 Drucksache 13/2306, Nr. 2.104 Drucksache 13/2306, Nr. 2.105 Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Drucksache 13/1442, Nr. 2.1 Drucksache 13/1799, Nr. 2.5 bis 2.8 Ausschuß für Verkehr Drucksache 13/2306, Nr. 1.13 Drucksache 13/2306, Nr. 2.18 Ausschuß für Post und Telekommunikation Drucksache 13/2306, Nr. 2.20 Drucksache 13/2306, Nr. 2.23 Drucksache 13/2306, Nr. 2.31 Drucksache 13/2306, Nr. 2.83 Drucksache 13/2306, Nr. 2.101 Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Drucksache 13/1614, Nr. 1.1 Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 13/1338, Nr. 1.2 Drucksache 13/1614, Nr. 1.5 Drucksache 13/1898, Nr. 1.1 Drucksache 13/1898, Nr. 1.2 Drucksache 13/2306, Nr. 1.2 Drucksache 13/2306, Nr. 2.74 Drucksache 13/2306, Nr. 2.102
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    Rede von Helmut Wieczorek


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende einer arbeitsreichen Beratungswoche haben wir heute in dritter Lesung über den Bundeshaushalt 1996 zu entscheiden. Das ist für den Haushaltsausschußvorsitzenden eine Gelegenheit, dem Plenum zu berichten und auch seine Meinung zu dem vorliegenden Gesetzeswerk deutlich zu machen.
    Damit Sie die Inhalte und Akzente meiner folgenden Ausführungen richtig einordnen und bewerten können, erlauben Sie mir den Hinweis, daß ich meine Aufgabe als Ausschußvorsitzender darin sehe, neutral den Ablauf der Sitzungen zu steuern und als Bindeglied oder Klammer zwischen Koalition und Opposition zu fungieren, um zielgerichtet nach gemeinsamem Dialog zu vertretbaren Ergebnissen zu kommen.

    (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Wir bestätigen, daß du das machst!)

    Diese administrative Neutralität kann jedoch nicht mit politischer Indifferenz im Sinne von Parteilosigkeit gleichgesetzt werden. Haben Sie deshalb Verständnis dafür, daß ich aus meinem Herzen im folgenden keine Mördergrube mache.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.])

    Die Beratungen des zweiten Bundeshaushaltes innerhalb weniger Monate stellt an alle Ausschußmitglieder hohe Anforderungen. Denn, wie wir alle wissen, gehen den Sitzungen im Ausschuß vielerlei Zeit und arbeitsintensive Vorberatungen auf Berichterstatterebene voraus. Ich stelle mit großer Befriedigung fest, daß sich alle Berichterstatter ihrer Aufgabe mit großem Einsatzwillen und zwischenzeitlich immer mehr erworbenem Fachwissen gestellt haben und die vielfältigen Diskussionen im Ausschuß in fairer und sachlicher Weise geführt haben.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Mein Dank gilt in diesem Zusammenhang besonders den Obleuten Adolf Roth, Karl Diller, Oswald Metzger, Dr. Wolfgang Weng, Frau Dr. Luft sowie meinem Stellvertreter Kurt J. Rossmanith und dem Vertreter der CSU, Bartholomäus Kalb.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Mein Dank gilt allerdings auch den Mitarbeitern des Sekretariates, die uns in hervorragender Weise zugearbeitet haben.

    (Beifall im ganzen Hause)

    In diesem Zusammenhang erlaube ich mir, unserem Kollegen Dr. Schnell zum Geburtstag zu gratulieren. Er wird heute 42 Jahre alt. Er ist trotz seines Geburtstages hier.

    (Beifall)

    Zu meinem Bedauern hat sich die Flut der Änderungsanträge, die noch nach Abschluß der Berichterstattergespräche durch die Arbeitsgruppen der Fraktionen eingebracht wurden, nicht reduziert. Sie hat sich im Gegenteil von 450 Anträgen auf über 600 erhöht. Dieses - ich will einmal sagen - Übersteuern der Berichterstatter durch die Arbeitsgruppen schmälert die Reputation der Berichterstatter innerhalb der eigenen Fraktion und muß demotivierend wirken. Insgesamt ist dies der Sache nicht dienlich. Ich hielte es für sehr viel vorteilhafter, wenn die Fraktionen die Weichen vor den Berichterstattergesprächen stellten.
    In diesem Zusammenhang möchte ich mir noch einmal den Appell erlauben, in Zukunft im Ausschuß wieder wirkliche Beratungen zu ermöglichen, bei denen jeder das Gefühl hat, sachlich begründete Veränderungen vornehmen zu können. Im Augenblick scheint es mir nach wie vor durch die starren Festlegungen in den Koalitionsabsprachen Einschränkungen zu geben, die die Bewegungsfreiheit der einzelnen Kolleginnen und Kollegen stark beeinträchtigen.

    (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Wir haben es auch unter uns schwer!)

    - Ich glaube, daß Sie es unter sich schwer haben, Kollege Weng; man merkt das regelmäßig. Darum will ich Ihren Zwischenruf ausdrücklich bestätigen.
    Meine Damen und Herren, der Beratungsablauf gestaltete sich auch in diesem Jahr, obwohl ein engerer Zeitrahmen vorgegeben war, sehr zügig, bis die Einzelplanberatungen durch einen bemerkenswerten Vorgang jäh in Gefahr gerieten, zur Makulatur zu werden.
    Ich darf zurückblenden: Der Bundesminister der Finanzen hat am 29. September 1996 vor der eigenen Fraktion und vor der Presse als Hiobsbotschaft Steuermindereinnahmen für den Bund in Höhe von 10 Milliarden DM für die Haushalte 1995 und 1996 in Aussicht gestellt. Letztlich hat sich allerdings eine Größenordnung von 20 Milliarden DM für den Bund allein im Jahre 1996 herausgestellt.
    Herr Minister, ich kritisiere nicht, daß Sie zu diesem Zeitpunkt das Ergebnis noch nicht veröffentlichter Daten des Arbeitskreises Steuerschätzung vorweggenommen haben. Ich halte es aber für skandalös, daß der Finanzminister eine formelle Information des Haushaltsausschusses über die neuesten Eckdaten für nicht erforderlich hielt und erst auf Antrag des Obmanns der SPD-Fraktion den Ausschußmitgliedern mündlich Rede und Antwort stand.

    (Beifall bei der SPD Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Das hat er zuvor schon hier im Deutschen Bundestag gemacht!)

    Die Aussagen, die dann kamen, waren global und unpräzise.
    Daß sich der zuständige beamtete Staatssekretär im Vorfeld sogar weigerte, den Berichterstattern zum Einzelplan 32 und 60, die genau dafür zuständig waren, Auskunft auf deren konkrete Fragen zu geben - denn das ist ihr Recht -, halte ich für eine

    Helmut Wieczorek (Duisburg)

    Mißachtung des Parlaments. Wir müssen diesen Vorgang rügen.

    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Nach der offiziellen Bekanntgabe des Steuerschätzungsergebnisses am 19. Oktober 1995 stellte sich zwar der Bundesfinanzminister noch vor der Bereinigungssitzung erneut den Fragen der Ausschußmitglieder, konnte die gesamte Opposition aber auf der Grundlage der hinlänglich bekannten Tischvorlage - ich stehe hier als Ausschußvorsitzender; darum möchte ich diese Bezeichnung wählen - nicht von der Seriosität seiner Deckungsvorschläge überzeugen.

    (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Es gab keine Nachfragen!)

    Auf der Grundlage einer somit insgesamt unsoliden und unredlichen Regierungsvorlage weiterzuberaten verbot sich von selbst.

    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Die Opposition zog daraus den konsequenten Schluß, an der von der Koalition weitergeführten Ausschußberatung nicht weiter teilzunehmen, um somit ein Signal zu setzen.

    (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Das war falsch und ein einmaliger Vorgang!)

    Herr Minister, es liegt in der Natur eines auf Schätzungen beruhenden Haushaltsentwurfes, daß dieser keine Punktlandung garantieren kann. Abweichungen aber in einer Größenordnung von 2,5 bis 3 Prozent, die den BMF zu drastischen Maßnahmen wie einer Haushaltssperre veranlassen, um die plafondierte Neuverschuldung in 1995 von knapp 49 Milliarden DM zu halten, erlauben es, eine kritische Hinterfragung vorzunehmen.
    Völlig zu Recht wurde im Haushaltsausschuß die Frage gestellt, welchen Sinn eigentlich ins einzelne gehende, dem haushaltspolitischen Konsolidierungswunsch folgende Detailberatungen von Tausenden von Titeln noch haben sollen, wenn deren Geschäftsgrundlage durch plötzlich auftretende Mindereinnahmen in Höhe von 20 Milliarden DM weggewischt wird.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Als konkrete Forderung aus diesem bemerkenswerten Vorgang könnte sich ergeben, daß der Arbeitskreis Steuerschätzung zukünftig seine Daten und Fakten noch vor Beginn der Beratungen dem Haushaltsausschuß vorzulegen hat, um zumindest diesem Expertengremium von Anfang an die Chance eines fundierten Nachsteuerns und Rettens zu geben.

    (Beifall des Abg. Karl Diller [SPD])

    Denn Herr dieses Verfahrens ist zu diesem Zeitpunkt
    - darauf lege ich großen Wert - nicht der BMF oder
    die Bundesregierung, sondern ausschließlich das Parlament.
    Meine Damen und Herren, wenn man alle Vorgänge Revue passieren läßt, die sich in der Zeit vom 29. September bis zum 19. Oktober abgespielt haben, dann drängt sich einfach die Frage auf: Wie ehrlich sind eigentlich die Informationen der Regierung an das Parlament?

    (Zuruf von der SPD: Das ist wahr!)

    Gelegentlich muß man nämlich nicht nur die Solidität, sondern gar die Redlichkeit in Zweifel ziehen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Denn, Herr Minister, unredlich handeln Sie auch dann schon, wenn Sie das Instrument der gobalen Minderausgabe, das eigentlich als parlamentarischer Rettungsanker für unvorhergesehene Entwicklungen im Staatshaushalt vorgesehen war, als ein Regierungsinstrument einsetzen, das künstlich einen Haushaltsausgleich vorgaukelt und dem Parlament die Möglichkeit anderweitiger Korrekturen nimmt.
    Bei diesem Haushalt war wieder bereits im Regierungsentwurf im Einzelplan 30 eine globale Minderausgabe vorgesehen. Herr Rüttgers, ich habe eben Ihre Rede sehr aufmerksam verfolgt. Daß Sie es sich gefallen lassen, daß in diesem Einzelplan 100 Millionen DM globale Minderausgabe angesetzt werden, kann keiner nachvollziehen, der sich mit Haushaltstechnik und mit Haushaltsabsichten beschäftigt.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

    Hier, meine Damen und Herren von allen Seiten des Parlamentes, gibt es den Versuch der Regierung, die Budgethoheit des Parlaments ganz eindeutig zu unterminieren und bestehende Grundsätze der Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit in Frage zu stellen. Ein solches Vorgehen, Herr Bundeskanzler, ist unredlich; denn es verstößt gegen den Geist der Haushaltsordnung.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, Redlichkeit in der Politik ist die Voraussetzung für Glaubwürdigkeit der Aussage und Glaubwürdigkeit der Person. Wenn man die Debatte in dieser Woche nochmals an sich vorüberziehen läßt, dann wird sehr deutlich, daß alle Kolleginnen und Kollegen versucht haben, hier vor der Öffentlichkeit eine gute Figur zu machen und ihre Politik gut zu verkaufen. Ich glaube, den meisten ist das auch gelungen.
    Solche Debatten aber, wie wir sie in dieser Woche hier führen, sind eigentlich die Ausnahme. Ich verfolge mit großer Sorge die zunehmende Politikverdrossenheit der Menschen in unserem Lande, insbesondere der jungen Menschen. Die Bürgerinnen und Bürger reagieren sehr empfindlich und haben ein viel besseres Erinnerungsvermögen, als die Politiker oft glauben. Gerade in Zusammenhang beispiels-

    Helmut Wieczorek (Duisburg)

    weise mit der Zusammenführung der beiden deutschen Staaten sind in der Rückschau die Aussagen der Politik und die Wirklichkeit oft meilenweit auseinander gewesen. Nehmen wir nur einmal das Thema der Staatsverschuldung und ihrer Ursachen. Verharmlosend wurden die Wirtschaftskraft und das Vermögen der ehemaligen DDR so dargestellt, als ob die Staatsverschuldung im Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft kurzfristig durch Realisierung des volkseigenen Vermögens der DDR wieder ausgeglichen werden könnte.

    (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wohl wahr!)

    Zur nächsten Fehldarstellung - oder sollte man fragen: War es eine bewußte Unredlichkeit? - kam es, als die Regierung erklärte, die Finanzierung der deutschen Einheit werde durch das Wirtschaftswachstum ermöglicht. Ich nenne ferner die Fiktion, die Bundesrepublik sei das einzige Land in Europa, das die Kriterien des Vertrages von Maastricht aus eigener Kraft erfüllen könnte, und die Volkswirtschaft sei so stark, weil möglicherweise der Staat die Voraussetzungen geschaffen habe, wobei natürlich verschwiegen wird, daß die Staatsverschuldung der Bundesrepublik Deutschland viel später begonnen hat als die aller anderen Staaten Europas und daß wir uns durch zwei Währungsreformen als Staat entschuldet haben und die Lasten zweier Weltkriege auf den Bürger in direkter Form abgewälzt haben, was andere Staaten in dieser Form nicht gemacht haben, die sie in ihren Staatshaushalten mitschleppen mußten.
    Ist es redlich, Herr Minister, zu sagen: Wir wollen eine Unternehmensteuerreform, und dabei den Eindruck zu erwecken, daß wir uns dies finanziell erlauben können? Stöhnen wir nicht gleichzeitig darüber, daß wir die Aufgaben, die wir uns vorgenommen haben, als Staat nicht erfüllen können?
    Wenn Sie von Investitionshemmnissen reden, frage ich Sie: Ist es redlich, die Kosten der Einheit über die sozialen Sicherungssysteme, die sich in der Tat in den Lohnnebenkosten bei den Unternehmen widerspiegeln, erwirtschaften zu wollen?

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

    Herr Waigel, ist es wirklich redlich, einem überzogenen Außenwert der D-Mark das Wort zu reden, wohl wissend, daß man nur mit den Gefühlen der Menschen spielt und in Wirklichkeit die Rationalisierungsanstrengungen der Wirtschaft zunichte macht? Wir wissen doch ganz genau - zumindest sollten es alle wissen -, daß die Exportpreise sofort wieder in Schieflage geraten, wenn die Überbewertung der D-Mark fortgesetzt wird.
    Zu politischer Redlichkeit gehört, sich nicht nur das auszusuchen, was man gerade für die eigene politische Argumentation braucht, sondern auch das zumindest zu erwähnen, was insgesamt in einen solchen Themenkreis gehört.
    Ist es wirklich redlich, Herr Finanzminister, unabhängig von der augenblicklich akuten, hier ausreichend diskutierten Veränderung der Einnahmeansätze den Menschen vorzugaukeln, wir müßten nur den Gürtel ein wenig enger schnallen und alles würde besser? Sie und wir wissen doch ganz genau, daß das System unserer Finanzverteilung und der Aufbringung unserer Finanzmittel für den Staat, der nur eine Relaisstation für Finanztransfers sein darf, in erheblicher Weise in Unordnung gekommen ist und die Aufgabenverteilung zwischen den Gebietskörperschaften sowie die damit verbundene Finanzverteilung nicht mehr stimmen. Wissen wir nicht alle ganz genau, daß die Struktur unserer Finanzen und auch unserer Finanzverfassung nicht für das neue, große Deutschland gemacht sind? Trauen wir uns eigentlich noch zu, wirkliche Reformen, auch eine Finanzreform, anzugehen?
    Ich habe das Gefühl, die Regierung bastelt weiter, wurstelt sich so durch und hofft, daß das dann irgend jemand vernünftig regeln wird. So werden wir aber nicht die Voraussetzungen für blühende Landschaften in Ost und West im nächsten Jahrhundert schaffen.

    (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Was mir weiter große Sorgen macht, ist die zunehmende Sprachlosigkeit der einzelnen unterschiedlichen Kräfte untereinander. Ich meine nicht, daß wir etwa nicht mehr miteinander reden können. Geschwafelt wird meiner Ansicht nach genug.

    (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Da hat er recht!)

    Aber wirkliche Ansätze zu Veränderungen, die eine Seite erdacht hat oder bei denen einzelne Kollegen das ihnen zustehende Recht praktiziert haben, eigene Gedanken zu haben und zu veröffentlichen, werden sofort mit populistischen Totschlagargumenten vom Tisch gewischt. Dabei sind wir oft weder bereit noch in der Lage, zuzuhören und in eine Diskussion zum Wohle der Menschen einzutreten. Statt dessen führen wir oft nur aus populistischen Gründen Diskussionen unter dem Motto: Ich muß die öffentliche Meinung beeinflussen.
    Die hingehaltenen Mikrophone von Journalisten führen gelegentlich zu spontanen Äußerungen, die unter Umständen eine gutgemeinte und Sachlichkeit erheischende Stellungnahme ausschließen. Ich denke im Moment nicht nur an die Ministerpräsidenten, die, wenn sie sich über die Diäten des Bundestages unterhalten, immer den Eindruck erwecken, selbst glaubwürdig und ehrlich sein zu wollen,

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

    und im Rahmen der Diskussion unsere Überlegungen als verfassungswidrig und deutlich überzogen bezeichnen, obwohl ihre eigenen Gehälter an das öffentliche Besoldungsrecht gekoppelt und deutlich höher sind als die von Bundestagsabgeordneten.

    (Beifall bei der SPD)

    Was mir in diesem Zusammenhang Sorge macht - das sage ich sehr offen -, ist die Unehrlichkeit - oder

    Helmut Wieczorek (Duisburg)

    sollte man vielleicht besser sagen: die Verlogenheit? -, mit der man hier miteinander umgeht.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Auch meine ganz private Meinung in diesem Zusammenhang ist sehr schnell dargestellt. Ich glaube, wenn wir die Rentenformel von 1997 an als Bezugsgröße wählen und sie auch in Zukunft weiterschreiben würden, wäre die Debatte um unsere Diäten sehr schnell ausgestanden, ohne daß wir dann noch deutlichere Abstriche machen müßten als bisher.
    Die Frage, wie weit Kritiker unseres Systems das System des eigenen Vorteils wegen kritisieren, möchte ich nicht untersuchen, sondern nur der Vollständigkeit halber ansprechen. Denn unredlich handelt auch ein Journalist, der politische Zusammenhänge genau kennt und trotzdem reißerische Überschriften wählt, um einen Artikel zu verkaufen, und sich dann bei Ossi an der Bar damit entschuldigt, er habe nur so gehandelt, weil auch die anderen das so machten.

    (Beifall bei der SPD und der F.D.P.)

    Ich ermahne Sie, zu logischen und ehrlichen Schlußfolgerungen zurückzukehren, die sich aus der Ableitung der Grunddaten ergeben, anstatt wie jetzt populistisch die politische Meinung und leider auch die politische Entscheidung nach der veröffentlichten Meinung zu richten.
    In diesem Zusammenhang müssen wir uns auch darüber unterhalten und vielleicht auch klar werden, wieweit wir wirklich in unserem Denken im System noch reformfähig sind. Mir macht es große Sorgen, daß wir eine Generation von Schnellschußpolitikern auf allen Seiten des Parlamentes haben, die jeden Gedanken, egal mit wieviel Aufwand er erarbeitet und formuliert wurde, sofort erfassen können, um ihn abzulehnen, weil er nicht in das eigene vorgefaßte Bild, das selten vorurteilsfrei ist, paßt.
    Sicherlich haben wir nicht mehr die großen Themen, die sich aus der Blockbildung der Welt ergeben haben und die es Konrad Adenauer mit der Aussöhnung nach Westen und Willy Brandt mit der Aussöhnung nach Osten ermöglicht haben, die Parlamentarier auf große Politikfelder zu führen und in der Sachauseinandersetzung auch den persönlichen Erfolg zu ermöglichen.
    Wir haben heute andere Probleme in unserem Lande, die jedoch von uns genauso große Phantasie und Innovation erfordern und die nicht mit dem Computer im Abgeordnetenbüro zu lösen sind, bei denen auch nicht die Mitarbeiter und die parlamentarischen Hilfskräfte die Fragen und Antworten bestimmen können.
    Wir sind alle persönlich gefragt und herausgefordert, wenn es darum geht, mit den Herausforderungen unserer Zeit fertig zu werden. Die Massenarbeitslosigkeit ist die Ursache für die Probleme im Staat und die Ursache für die Einschränkung des finanziellen Spielraums zur Politikgestaltung. Die Frage, auf die ich noch keine Antwort weiß und auch
    noch keine gehört habe, ist die: Auf welche Weise wollen wir den technischen Produktivitätsfortschritt mit anderen Aufgaben zur Beschäftigung von Menschen kompensieren und bewältigen?
    Ob solche Fragen mit dem Instrumentarium der Bundesanstalt für Arbeit und der dieser Institution zugrunde liegenden Grundphilosophie gelöst werden können, wage ich zu bezweifeln. Müssen wir nicht auch zur Kenntnis nehmen, daß das Heil nicht nur im zweiten Arbeitsmarkt liegen kann und daß auch die Flucht in die Dienstleistungsgesellschaft nur sehr begrenzt möglich ist?
    Der Dienstleistende erbringt eine volkswirtschaftlich zwar berechenbare, aber nicht unbedingt ver-mehrbare Wertschöpfung. Wenn wir nicht in dem primären Wertschöpfungsbereich die Voraussetzungen schaffen, werden uns auch die Mittel für den dienenden Bereich und damit den ergänzenden Bereich nicht zur Verfügung stehen.
    Darum müssen wir in der Politik die Voraussetzungen dafür schaffen, daß wir den Wertschöpfungsanteil der Arbeit deutlich erhöhen, wobei Aus- und Weiterbildung ein zentrales Anliegen bleiben und die Motivation der für dieses Ziel arbeitenden Menschen gesteigert werden muß.
    Unser Ziel muß es sein, mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Arbeitslosigkeit und der Bezug von Arbeitslosenunterstützung darf nicht die Regel sein, sondern muß die Ausnahme bleiben. Wir müssen uns ein neues gesellschaftliches Klima zugunsten von Innovation und technischem Fortschritt schaffen.
    Eine moderne Wirtschaftspolitik heißt auch Flexibilisierung der Wirtschaft und Entlastung des Faktors Arbeit von Steuern und Abgaben. Dabei wollen wir Sozialdemokraten keinesfalls unserer Verpflichtung zum Sozialstaat untreu werden. Im Gegenteil: Der Standort Deutschland ist mit Lohnverzicht allein, so wie die Bundesregierung es gern darstellt, nicht zu sichern.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

    Gedrückte Arbeitskosten können gefährdete Arbeitsplätze nur für eine Weile über die Runden retten. Gute Wirtschaftspolitik sorgt statt dessen von vornherein dafür, daß neue, sichere und gutbezahlte Arbeitsplätze geschaffen werden. Das kann sowohl durch die Stärkung von Forschung, Bildung und Wissenschaft geschehen, aber ebenso durch eine innovative Industriepolitik, die neue Zukunftsmärkte erschließt.
    Die Mittelstandspolitik muß sicherlich künftig ein größeres Gewicht haben, weil der wirtschaftliche Mittelstand und das Handwerk der Motor für Beschäftigung, Innovation und technischen Fortschritt sind.

    Helmut Wieczorek (Duisburg)

    Ich hoffe sehr, daß wir alle gemeinsam die Kraft finden und es uns gelingt, die Gestaltung des Haushaltes wieder enger in den parlamentarischen Raum zu ziehen,

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    daß wir der Regierung den ihr zukommenden Platz im Beratungsverfahren und in unserem Selbstbewußtsein zuweisen können, der ihr zukommt. Die Haushälter und wir alle müssen wieder lernen, ein distanzierteres Verhältnis zur Regierung zu bekommen, sich nicht als Erfüllungsgehilfe, aber auch nicht als Bremsklotz der Regierungspolitik zu erweisen. Lassen Sie uns gemeinsam versuchen, nicht mit der Elle der Mittelmäßigkeit beurteilt zu werden, sondern selbstbewußt und ohne Arroganz unsere Aufgaben zu erfüllen.
    Ich danke Ihnen sehr.

    (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS)



Rede von Hans Klein
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Herr Kollege HansPeter Repnik, Sie haben das Wort.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Hans-Peter Repnik


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Haushalt des Bundes für 1996, den wir heute beschließen werden, setzt ein Stabilitätssignal. Mit den Eckdaten dieses Budgets tun wir alles, um die Maastricht-Kriterien einzuhalten. Wir erfüllen von unserer Seite die schärfsten, die präzisesten Stabilitätskriterien, die je von der Politik, von der Wirtschaft und von der Nationalökonomie definiert worden sind.
    Verehrter Herr Kollege Wieczorek, ich möchte mich ausdrücklich für meine Fraktion für Ihr Mitwirken an dem Zustandekommen dieses Haushalts als Vorsitzender des Ausschusses bedanken. Ich bedanke mich auch für die außerordentlich sachliche und seriöse Rede, die Sie hier gehalten haben. Es wäre schön, wenn Sie beispielgebend für Ihre Fraktion bei zukünftigen Haushaltsberatungen wären.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ob der Waigel das so sieht!)

    Meine Damen und Herren, in diesem Haushalt mußten enorme Veränderungen berücksichtigt werden. Im laufenden Jahr 1995 muß schon der neue Finanzausgleich mit erheblichen Belastungen für den Bund verkraftet werden. Das sind Zuweisungen und Steuerverzichte in Höhe von gut 44 Milliarden DM. Ausfälle aus dem föderalen Konsolidierungsprogramm, aus Steuererleichterungsmaßnahmen, die diese Koalition beschlossen hat, schlagen sich hier bereits nieder.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ganz nebenbei darf ich vielleicht der SPD eine Information vermitteln. Die von der SPD-Finanzpolitik zugrunde gerichteten Länder Bremen und Saarland bekommen aus diesen Zuweisungen jährlich rund 3,4 Milliarden DM Nothilfe. Was uns besorgt, nicht nur im Hinblick auf die Finanzsituation in Niedersachsen, sondern im Hinblick auf das, was möglicherweise auf den Bund zukommt: Der nächste Aspirant für solch ein Nothilfeverfahren, Niedersachsen, steht bereits vor der Tür.

    (Bundesminister Dr. Theodor Waigel [CDU/ CSU]: Das kommt überhaupt nicht in Frage!)

    - Sehr verehrter Herr Finanzminister, Sie sagen, es kommt überhaupt nicht in Frage, drum sage ich, es besorgt mich.

    (Zuruf des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

    Ein Blick, Kollege Fischer, in die „FAZ" von dieser Woche begründet diese Sorge. Ich darf zitieren. In der „FAZ" steht, als Ministerpräsident Schröder im Jahre 1990 die CDU/F.D.P.-Regierung mit einer rotgrünen Koalition abgelöst habe, habe das Land in 40 Jahren knapp 40 Milliarden DM Schulden angehäuft. Ende des kommenden Jahres, also innerhalb von nur 6 Jahren, werde sich dieser Betrag um 20 Milliarden DM erhöht haben. Innerhalb von 6 Jahren - eine verhängnisvolle Entwicklung!

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Verheerend! Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

    Und es ist keine kurzfristige, nicht vorhersehbare Entwicklung. Ein renommiertes Wirtschaftsforschungsinstitut hat folgendes festgestellt: Niedersachsen hat seit 1990 den höchsten Personalzuwachs im öffentlichen Dienst, die höchste Neuverschuldung und die niedrigste Investitionsquote aller Länder.

    (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Beschäftigen Sie sich doch einmal mit Ihrem Problem!)

    Mehreinnahmen von 10 Milliarden DM in diesem Bereich, Rücklagen, Ersparnisse der vorherigen Regierung von 1,5 Milliarden DM, wurden hier verbraucht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, was hätten wir alles mit diesen Geldern im Hinblick auf Zukunftsprojekte anfangen können!
    In dem Haushalt 1996, den wir heute verabschieden, sind wieder 44 Milliarden DM aufzufangen. Ich weiß sehr wohl, daß das eine große Aufgabe ist. Mindereinnahmen aus dem Jahressteuergesetz, die wir gewollt haben, reduzierte Einnahmeerwartungen, Wegfall des Kohlepfennigs, Arbeitsmarkt und Bundeseisenbahnvermögen sind die Stichworte. Daß diese Integration gelang, ist eine Leistung, auf die die Haushälter der Koalition und der Finanzminister wahrlich stolz sein können.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, politisches Gestalten mit vollen Kassen wäre schön. Nur, jetzt ist verantwortliches Gestalten mit knappen Mitteln nötig. Dieser Haushalt ist der Beleg für die Mög-

    Hans-Peter Repnik
    lichkeit und die Kunst solch verantwortlichen Gestaltens.
    Die SPD - das kann ich Ihnen nicht ersparen - hat dies immer noch nicht begriffen. Ich nehme mir nur einmal den Entschließungsantrag vor, den die SPD hier zur Beratung vorgelegt hat, und lenke Ihre geschätzte Aufmerksamkeit, Frau Matthäus-Maier, auf einige wenige Punkte. Insoweit werde ich auch begründen, weshalb wir diesen Entschließungsantrag ablehnen müssen. Auf Seite 5 dieses Entschließungsantrages sprechen Sie davon, daß Ihnen eine Konsolidierungsperspektive fehle, und sagen gleichzeitig auf Seite 6: „Nicht alles, was wünschenswert ist, ist finanzierbar".

    (Zuruf von der SPD: Das ist doch richtig!)

    - Ja, da stimme ich Ihnen zu. Nur, ich habe den Antrag sorgfältig gelesen und die Beratungen in dieser Woche ebenfalls sorgfältig verfolgt. Sie haben in keinem einzigen Punkt seriöse Einsparungsvorschläge vorgelegt. Gleichzeitig fordern Sie im selben Antrag, in dem Sie die Staatsverschuldung geißeln, auf der Seite 1 Mehrausgaben beim sozialen Wohnungsbau, im Forschungsbereich, beim Wohngeld, beim Erziehungsgeld, beim Wehrsold, beim BAföG, bei der beruflichen Bildung usw. Das alles sind zusätzliche Forderungen, ohne daß Sie dafür eine Deckung vorgelegt hätten.

    (Ina Albowitz [F.D.P.]: Vollkaskomentalität!)

    Schon deshalb ist Ihr Antrag nicht zustimmungsfähig.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sagen Sie doch einmal, welche kostenwirksamen Anträge wir hier gestellt haben!)

    Verehrte Frau Kollegin Matthäus-Maier, ich komme auf Seite 6 Ihres Antrages zurück, um einen anderen Widerspruch deutlich zu machen. Sie sagen:
    Wir brauchen einen modernen, innovativen Staat, der sich auf die wesentlichen Aufgaben konzentriert.
    Prima gebrüllt, eine ganz hervorragende Geschichte, der wir zustimmen! Nehme ich dann aber das Papier zur Hand, das Sie eine Woche früher in Ihrer Fraktion beraten und verabschiedet haben, dann lese ich dort auf Seite 2:
    Der Trugschluß konservativer und wirtschaftsliberaler Ideologien liegt in dem Glauben, sie könnten die Gesellschaft dadurch stärken, daß sie den Staat und seine Gestaltungsfähigkeit schwächen.
    Ja, was wollen Sie nun eigentlich? Wollen Sie weniger Staat, wollen Sie einen schlankeren Staat, oder haben Sie die Sorge, daß mit solchen Maßnahmen einmal mehr Ihre Politik konterkariert wird?

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr gute Frage!)

    Ich möchte ein drittes Beispiel herausgreifen. Sie schreiben auf Seite 8:
    Durch eine gerechtere Finanzierung der aktiven Arbeitsmarktpolitik sollen die Sozialversicherungsbeiträge gesenkt, Arbeitnehmer und Unternehmer entlastet und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit verbessert werden.
    Sie bleiben auch hier die Antwort schuldig, wie Sie diese Senkung vornehmen wollen und wer sie finanzieren soll.

    (Widerspruch von der SPD)

    Vielmehr machen Sie eine ganz einfache Milchmädchenrechnung auf,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wie immer!)

    indem Sie sagen: Wir nehmen das aus dem Topf der Solidarversicherung heraus und finanzieren es über die Steuern. Das heißt, die Staatsquote bleibt erhalten, die Steuern können nicht gesenkt werden, und wir haben nicht die dringend benötigte Entlastung für die Arbeitnehmer und die Unternehmer. Ein Verschiebebahnhof ohne ein konkretes positives Ergebnis!

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wenn ich bei der Seite 8 Ihres Entschließungsantrages bin, dann will ich einen letzten Grund von vielen, die ich hinzufügen könnte, dafür liefern, weshalb dieser Antrag von uns abgelehnt werden muß. Sie schreiben völlig zu Recht:
    Bemühungen um einen deutlichen Anstieg der Beschäftigung ist Vorrang einzuräumen.
    Dem stimmen wir zu.
    Ein wesentliches Element dazu ist die Stärkung der Kaufkraft der unteren Einkommensschichten durch Entlastung bei Steuern und Abgaben.

    (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ja! Bravo! Müssen Sie auch zustimmen!)

    Verehrte Frau Matthäus-Maier, die Beratungen zum Jahressteuergesetz 1996 liegen wenige Wochen zurück.

    (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Die waren sehr erfolgreich für uns!)

    Die Koalition hat im Zusammenhang mit dem Jahressteuergesetz 1996 vorgeschlagen, eine Entlastung in der Größenordnung von 23 Milliarden DM vorzunehmen. Und was hat die SPD mit ihrer Mehrheit im Bundesrat gemacht,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Abgelehnt!)

    und was haben Sie im Vermittlungsverfahren gemacht? Sie haben gesagt: Wir sind nicht in der Lage, diese Steuerermäßigung weiterzugeben, weil das Saarland und Niedersachsen nicht in der Lage sind, die Steuerausfälle in ihren Haushalten zu verkraften. Aus 23 Milliarden DM Steuererleichterungen wurden 19 Milliarden DM. 4 Milliarden DM haben Sie den Bürgern vorenthalten!

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Auch deshalb lehnen wir diesen Antrag ab.


    Hans-Peter Repnik
    Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Kollege Wieczorek - ich stimme ihm ausdrücklich zu - hat auch in dieser Debatte Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit eingefordert. Nur, verehrter Kollege Wieczorek, was Sie von der Regierung und von der Mehrheit der Koalition hier eingefordert haben, gilt natürlich auch für die SPD. Sie haben nirgendwo eine vernünftige Deckung angeboten. Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit fehlen bei der Opposition. Sie haben eine Bringschuld, die Sie nicht eingelöst haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sprüche in Programmen und in Anträgen sind das eine; die verhängnisvollen Folgen Ihrer Politik dort, wo Sie Verantwortung tragen, sind das andere.

    (Karl Diller [SPD]: Gucken Sie sich mal Herrn Waigel an!)

    - Hören Sie mir bitte zu! - Sprüche in Programmen sind das eine; verantwortliche Politik dort, wo Sie Verantwortung tragen, ist das andere. Verantwortung tragen Sie zum Beispiel - ich kann es Ihnen nicht ersparen, noch einmal auf Niedersachsen hinzuweisen - in Hannover, dem Sitz des früheren Chefökonomen der SPD. Dieser hat in einem Interview einen Ausspruch getan, den ich gern zitieren möchte; er könnte von Theo Waigel stammen, unserem Finanzminister.

    (Zuruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD])

    - Nein. Ich werde auf den Widerspruch aufmerksam machen, Kollege Schmidt.