Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Oppositionsparteien, darunter die PDS, haben spätestens nach dem Eingeständnis der neuen 20-MilliardenDeckungslücke vor drei Wochen erklärt, daß der Etat
von Herrn Waigel nicht seriös sei. Das läßt sich Einzeletat für Einzeletat und im folgenden für den Verkehrsetat auf drei Ebenen dokumentieren.
Ganz obenauf, Herr Wissmann, haben Sie die Parole gestellt: Vorrang Schiene. Das hat natürlich, wie meine Kollegin Dagmar Enkelmann in der ersten Lesung schon gesagt hat, bereits bei dem ursprünglichen Verkehrsetat nicht gestimmt, weil konsequent Äpfel mit Birnen verglichen wurden. Jetzt verantworten Sie in der zweiten und dritten Lesung einen erneut erheblich umgebauten Verkehrsetat. Es erfolgten Kürzungen in einem Ausmaß, daß der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel, laut „Handelsblatt" von einem „Federstrich im Bereich der Verkehrsinfrastruktur" sprach, mit dem „rund 40 000 Arbeitsplätze aufs Spiel gesetzt" würden.
Die „Deutsche Verkehrszeitung" bilanzierte am 31. Oktober, daß die gesamten Kürzungen im Verkehrsetat „von 2 Milliarden DM weniger als 1995 .. . bei der Bahn an Investitionsmitteln aus Bonn ... eingespart werden" sollen. Gleichzeitig stünden - so ebenfalls dieses Blatt - „für den Fernstraßenbau insgesamt 400 Millionen DM mehr, als im ursprünglichen Plan für 1996 vorgesehen, zur Verfügung".
Unsere Kollegin Elke Ferner hat den Griffel gespitzt und kommt zu dem Ergebnis: „Nur noch 4 Milliarden DM stehen für Neuinvestitionen in die Verbesserung der Schieneninfrastruktur zur Verfügung, für den Ausbau des Bundesfernstraßennetzes gibt es dagegen 8 Milliarden DM." Also: 1 : 2 „Vorrang Straße" bei den Investitionen und 1:0 „Vorrang Schiene" bei den Kürzungen. Mehr Investitionen in die Schiene soll es nur dann geben, wenn es noch mehr soziale Missetaten in diesem Bereich gibt, mehr Privatisierungen von Bahnwohnungen, noch mehr Belegschaftsabbau bei der Bahn und damit am Ende mehr Erwerbslose und steigende Mieten.
Eine solche Politik, Herr Wissmann, schlägt sich in der realen Verkehrsentwicklung nieder. In diesem Bundestag postulierte einmal ein Verkehrsminister: „Immer mehr Güter rollen über die attraktiv gewordene Schiene." Das war Georg Leber 1968.
Wie verlief die reale Entwicklung? Wir haben heute, im Jahre 1995, im vereinigten Deutschland ein Güterschienenverkehrsaufkommen von 59 Milliarden Tonnenkilometern, das sind 20 Prozent weniger als die Tonnenkilometerleistung im Jahr 1970 im wesentlich kleineren Westdeutschland. Auf der Straße erlebten wir jedoch im gleichen Zeitraum allein im Güterfernverkehr eine Verdreifachung der Transportleistung. Diese ständig zugunsten der Straße veränderte Verkehrsaufteilung wird auch mit dem 1996er Etat betrieben.
Dr. Winfried Wolf
Zur zweiten Ebene. Mit Ihrem Einzeletat, Herr Wissmann, werden gezielt Projekte finanziert, die sich nicht rechnen und die sich zum Teil als Investitionsruinen erweisen werden. Stichwort: Magnetbahn - dazu hat die Kollegin Kristin Heyne genug gesagt. Stichwort: Berlins Lehrter Zentralbahnhof - dazu wird hier noch viel zu sagen sein.
Stichwort: die 13,7 Milliarden DM teure Hochgeschwindigkeitsstrecke Nürnberg-Erfurt-Leipzig, mit der die weit preiswertere Alternative des Einsatzes von Neigetechnik und des Ausbaues bestehender Strecken gemieden, der Thüringer Wald zerschnitten und nebenbei, wie uns eben bestätigt wurde, mehrere Nebenstrecken in eben diesem Bereich ausgetrocknet und stillgelegt zu werden drohen, so Ilmenau-Großbreitenbach, Suhl-Schleusingen und Orlamünde-Pößneck.
Doch greifen wir uns hier das neueste Lieblingsprojekt von Verkehrsminister Wissmann heraus: „Stuttgart 21". Stuttgarts Hauptbahnhof soll ein „Tuning" bekommen und für 5 Milliarden DM wie ein Opel Manta tiefergelegt werden, genau 12 Meter unter Normalnull. Begründet wird das unter anderem mit „Kapazitätsengpässen im jetzigen Kopfbahnhof" und mit „Zeitersparnissen". Damit, Herr Wissmann, verdummen Sie unseren gemeinsamen Volksstamm der Schwäbinnen und Schwaben.
Es freut mich, daß das kleine Buch, das unter anderem auch von mir zu „Stuttgart 21" soeben vorgelegt wurde, bereits beim Bahn-Vorstand eifrig diskutiert und studiert wird. Der heutigen Ausgabe der Ulmer „Südwestpresse" können Sie meine Stellungnahme dazu auch in Kurzfassung entnehmen. Sie lautet:
Die Zeitgewinne, die angeblich mit „Stuttgart 21" verbunden sind, bewegen sich im Bereich von 0 bis 3 Minuten - dann, wenn beim Vergleich nicht der jetzige Zustand, sondern korrekterweise ein optimierter Kopfbahnhof gewählt wird.
Was die Behauptung in bezug auf die Kapazitätsengpässe anbetrifft, so hat Ihr CDU-Parteifreund, gleichzeitig Mitautor unseres Buchs, Andreas Kleber, belegt: Im Jahre 1963, im ausgehenden Dampfeisenbahnzeitalter, gab es im Stuttgarter Kopfbahnhof noch 663 Zugbewegungen werktäglich. Heute sind es noch gut ein Drittel. Das heißt: Mehr als die Hälfte der Kapazitäten müßte frei sein. Ihr Ministerium hat dies soeben in Beantwortung meiner Kleinen Anfrage bestätigt. Dennoch sollen unter dem Stuttgarter Hauptbahnhof 5 Milliarden DM vergraben und in Beton gegossen werden, darunter Mittel aus dem Fonds des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes.
Dritte und letzte Ebene: So gut wie alle Verkehrsprojekte im Wissmannschen Etat laufen auf vorgebliche Zeitersparnisse hinaus: Transrapid, Telematik, Hochgeschwindigkeit. Der Aufwand wird aber
immer disproportionaler. Die „Süddeutsche Zei- tung" konstatierte für die Hochgeschwindigkeitsstrecke München-Nürnberg: „Jede Minute kostet
1,5 Milliarden". Die Kollegin Kristin Heyne nannte soeben noch krassere Zahlen: mehr Geld für wenige Sekunden Zeitgewinne.
Nun ist es im realen Leben so, daß die Durchschnittsgeschwindigkeit in vielen Bereichen eher sinkt: Der schnelle Jet wird in Warteschleifen, das High-Tech-Auto im Stau und der Transrapid durch Langsamfahrt vom Stadtrand ins Zentrum entzaubert und entschleunigt. Es verhält sich wie beim Katalysator: Zuerst werden viele Gifte bzw. viel Geschwindigkeit produziert. Dann wird mit viel Aufwand gefiltert bzw. ausgebremst.
Dabei geht es auch einfacher, vor allem umweltfreundlich und, nebenbei gesagt, preiswerter. Um dies von der passenden Stelle gesagt zu bekommen, sollten Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Christenpartei und sehr geehrter christlich-sozialer Kollege Kalb, bei Misereor anrufen. Dort liegt druckfrisch die heute bereits in der Umweltdebatte diskutierte Studie „Zukunftsfähiges Deutschland" vor.
Ein zentraler Aspekt darin ist die Forderung nach einer Entschleunigung der Gesellschaft. Das Prinzip des „immer schneller" wird von Misereor als zerstörerisch und umweltunverträglich kritisiert. Jede weitere Inanspruchnahme von Verkehrsflächen müsse, so die Studie, gestoppt werden. Auch müßten Straßen teilweise zurückgebaut oder in Fahrrad- und Schienenwege umgewidmet werden.
Doch was dokumentiert statt dessen der Verkehrsetat? Im Haushalt 1996 sind allein im Fernstraßenbereich Neubauvorhaben mit einer Gesamtlänge von, wenn wir richtig gezählt haben, 2 899 Kilometern vorgesehen. Zusammengerechnet mit dem Straßenausbau sind es sogar 4 943 Kilometer, die aus- bzw. neuzubauen sind.
Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident Burkhard Hirsch! Wie einigen von Ihnen aus meiner letzten Rede im Plenarsaal zum Thema Magnetbahn erinnerlich, ist die russische Bezeichnung für diejenigen, welche in Sachen Verkehrsbetonpolitik die Mehrheitsauffassung durchsetzen, mit der Würde dieses Hauses nicht vereinbar. Der entsprechende Ordnungsruf, den ich hier entgegennehmen mußte, soll natürlich unkommentiert bleiben.
Ich möchte jedoch am Ende meiner Rede den Verkehrsplaner Walter Molt zitieren, der schrieb:
Der Beton, der sich über die Landschaft ergießt, hat sich längst in den Köpfen der für Verkehr Verantwortlichen festgesetzt.
Zu ergänzen ist hier nur: Aus einer solchen Betonpolitik besteht das bröselnde Mengengerüst des Verkehrsetats 1996.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat nun der Bundesminister für Verkehr, Matthias Wissmann.