Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn möchte ich einige kurze Ausführungen über die Zukunft des Sozialstaats machen, und anschließend möchte ich gezielt auf einige Probleme unseres Sozialhaushalts im Einzelplan 11 eingehen.
Die Debatte um den Sozialstaat, das heißt, um seinen Abbau oder um seinen Umbau, wird zur Zeit, wie mir scheint, häufig in einer ritualisierten Form geführt, nämlich mit Schlagworten, die nicht weiterhelfen und die höchstens die Politikverdrossenheit verstärken werden. Viele Unternehmer, verstärkt von der F.D.P. und Teilen der CDU/CSU, bringen gebetsmühlenartig ihre Klagen vor: die Löhne seien zu hoch, die Arbeitszeit zu kurz, die Gesetzgebung zu kompliziert und wir hätten zu viele Feiertage. SPD, Gewerkschaften, die Wohlfahrtsverbände und Teile der Kirchen weisen diese pauschalen Vorwürfe dann meist ebenso pauschal zurück und verweisen in der Regel auf Fehler des Managements und auf die Verantwortung der Tarifparteien.
Klaus Zwickel von der IG Metall, der in diesem Raum schon oft zitiert worden ist, hat dieses Ritual durchbrochen und einen Denkanstoß gegeben. Ich denke, man sollte aber die ganze Rede Zwickels zur Kenntnis nehmen und sich nicht nur die Teile heraussuchen, die einem passen.
Was die Debatte um den Sozialstaat häufig so einseitig erscheinen läßt, ist die Tatsache, daß es dabei fast immer nur um die zugegebenermaßen hohen Kosten des Sozialstaats geht. Von den Kritikern des Sozialstaats wird jedoch niemals thematisiert, was wir in Deutschland dem modernen Sozialstaat auch verdanken. Ich bin fest überzeugt, daß ein funktionierender Sozialstaat die Grundvoraussetzung einer stabilen Demokratie ist.
Ohne unser ausgefeiltes System der sozialen Sicherung hätten wir heute in Deutschland angesichts der hohen Arbeitslosigkeit vermutlich Zustände wie in der Endphase der Weimarer Republik, nämlich fortgesetzte Regierungswechsel und die Reps als Massenpartei in den Parlamenten.
Natürlich müssen wir den Sozialstaat reformieren, wenn wir ihn auch in Zukunft erhalten wollen. Die Zukunft der Arbeit zu sichern heißt für den Staat einerseits, die Rahmenbedingungen für die Entstehung neuer Arbeitsplätze in der Wirtschaft zu schaffen und andererseits, die Folgen der Arbeitslosigkeit dort, wo sie nicht zu verhindern ist, abzumildern. Konkret heißt das - ich knüpfe an das an, was der Kollege Schwanhold gesagt hat -: Wir brauchen eine Stärkung des Mittelstands, der im Unterschied zur Großindustrie die meisten Innovationen und die meisten Arbeits- und Ausbildungsplätze bietet. Der Mittelstand braucht Steuererleichterungen, Steuervereinfachungen und den Transfer von Technologie- und Risikokapital.
- So ist es.
Wir brauchen ausreichend Ausbildungsplätze und auch eine verbesserte Qualität der Ausbildung. Nach Aussagen des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, Jagoda, ist die deutsche Wirtschaft ihrer Zusage, mehr Ausbildungsplätze in diesem Jahr anzubieten, bisher nicht nachgekommen.
Nicht auszubilden, aber möglichst viele Mitarbeiter auf Kosten der Rentenversicherung in den Vorruhestand zu schicken und anschließend über Facharbeitermangel zu jammern, so wie die Großindustrie das tut, ist kein Ausweg aus der Krise.
Wir brauchen, liebe Kollegin Albowitz, ein kreatives Management - übrigens auch in der Politik -, das Mitarbeiter auch in der Politik zu motivieren versteht und das nicht an Produkten festhält, die heute andere viel billiger und genau so gut wie wir herstel-
Dr. Konstanze Wegner
len. Wir brauchen ganz gewiß eine intelligente Neuverteilung und Flexibilisierung der Arbeit. Wir brauchen die Nutzbarmachung des kreativen Potentials, das Frauen in unserer Gesellschaft darstellen, auch und gerade in der Wirtschaft.
Angesichts der Massenarbeitslosigkeit muß es aber auch eine aktive Arbeitsmarktpolitik des Staates geben, wie es zum Beispiel die SPD in ihrem großen Entwurf für ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz dargestellt hat. Die staatliche Arbeitsmarktpolitik muß die staatlichen Mittel nicht nach dem Stop-
and-go-Prinzip, sondern geregelt und verläßlich zur Verfügung stellen. Über den wirksamsten Einsatz dieser Mittel muß dann dezentral, das heißt vor Ort mit den Verantwortlichen und möglichst noch unter Bündelung der Ressourcen, entschieden werden.
Ich glaube durchaus: Viele Arbeitnehmer in diesem Land wären zu weiteren Einschränkungen bereit - viele haben sie schon hinnehmen müssen, das wird immer vergessen -,
wenn dadurch ihre Arbeitsplätze wirklich langfristig gesichert würden. Für den Standort Deutschland ist meines Erachtens die entscheidende Frage, ob diejenigen, die in diesen Bereichen Verantwortung tragen, endlich einmal bereit sind, auf die eingefahrenen Rituale zu verzichten und sich der Probleme unvoreingenommen anzunehmen. Zwickel hat hier den Anfang gemacht.
Wie sehen nun die Antworten der Regierung auf die sozial- und gesellschaftspolitischen Fragen und Herausforderungen aus? Die Regierungsparteien geben dem Bildungs- und Forschungsministerium einen neuen, einen hochtrabenden Namen, „Zukunftsministerium", und einen neuen, allerdings etwas bläßlichen Minister, aber sie geben ihm kaum mehr Geld. Unter Flexibilisierung verstehen Sie einseitig die Ausweitung der Samstags- und Sonntagsarbeit. Damit erschweren Sie die Bedingungen für ein Familienleben, das Sie doch sonst in Ihren Sonntagsreden so hochhalten.
Die CDU verhindert in ihrer eigenen Partei durch reaktionäre Beschlüsse die Anwendung sinnvoller Gleichstellungsmaßnahmen für Frauen, wie die Einführung der Quote, und Sie zementieren damit die männliche Vorherrschaft in Ihrer eigenen Partei und in der Politik insgesamt.
Was tut die Regierung eigentlich, um die vielbeklagten Kosten des Sozialstaats zu senken? Sie lassen - es wurde in der Debatte zum Wirtschaftshaushalt gesagt - seit Jahren zu, daß die Kosten der Einheit wesentlich über die Sozialversicherungssysteme finanziert werden, und Sie erhöhen damit die beklagten Lohnnebenkosten der Arbeit.
Ein weiterer Punkt. Nach Ansicht von Fachleuten könnte mehr Prävention im Bereich berufsbedingter Krankheiten jährlich Milliarden einsparen. Die hierzu vorgesehenen Mittel im Sozialhaushalt fließen jedoch kaum ab. Hier muß der Bundesminister aktiver werden. Es genügt nicht, daß man die Schuld immer nur auf die Länder schiebt.
Bevor ich mich einigen Schwerpunkten des Etats zuwende, möchte ich mich beim Ministerium für das zügige Übersenden der angeforderten Unterlagen und bei meinen Mitberichterstattern und Mitberichterstatterinnen für die kollegiale Zusammenarbeit bedanken.
Zurück zur Arbeitsmarktpolitik. Von der Schönfärberei und den Fehlplanungen, die Waigels Haushaltsentwurf 1996 charakterisieren, war und ist auch der Einzelplan 11 in hohem Maße betroffen. Man kann sagen, Blüm ist sozusagen das Opfer von Waigels und Rexrodts falschen Zahlen geworden.
- Hören Sie nur bis zu Ende zu! - Dank rosiger, aber krottenfalscher Arbeitsmarktprognosen sollte die Bundesanstalt für Arbeit für 1996 ohne Zuschüsse auskommen, und der Ansatz für die Arbeitslosenhilfe mit 14,8 Milliarden DM war viel zu niedrig angesetzt. Sie haben das, Kollege Austermann, zwar in der Schlußphase der Beratungen korrigiert
- das weiß ich; ich hatte Ihre Anträge gesehen -,
aber ob die entsprechenden Aufstockungen ausreichen werden, steht in den Sternen. Ihr hehres Einsparziel von 10 Milliarden DM im Sozialetat haben Sie jedenfalls weit verfehlt.
Mit dem neuen Gesetz zur Reform der Arbeitslosenhilfe werden sich meine Kolleginnen und Kollegen aus dem Bereich der Sozialpolitik noch im einzelnen auseinandersetzen. Der Kern der sogenannten Reform, mit der die Regierung insgesamt 3,4 Milliarden DM einsparen will, ist eine Bestrafung der Betroffenen und eine weitere Belastung der Gemeinden.
Als Beweis für den angeblichen Mißbrauch der Arbeitslosenhilfe führt der Arbeitsminister immer den Ingenieur an, der angeblich schon seit 20 Jahren Arbeitslosenhilfe erhält. Eine Anfrage der Grünen hat nun ergeben, daß es in Deutschland ganze elf Personen gibt, auf die das zutrifft. Es sind zehn Männer und eine Frau. Unter diesen befindet sich offen-
Dr. Konstanze Wegner
bar auch Blüms Lieblingsingenieur, mit dem das ganze Vorhaben begründet wird.
- Da müßt ihr ihn selber fragen.
Wie sehen denn nun die konkreten Zahlen aus? Der monatliche Durchschnittsbetrag der Arbeitslosenhilfe betrug im ersten Quartal 1995 984 DM in den alten und 776 DM in den neuen Bundesländern. Fast 25 Prozent der Frauen in Westdeutschland, die Arbeitslosenhilfe beziehen müssen, erhalten weniger als 600 DM; in Ostdeutschland liegt der Anteil bei 31 Prozent.
Was sollen wir hier eigentlich noch einsparen? Ich glaube, daß eine Politik, die hier noch etwas wegnehmen will, in der Tat jeden Bezug zur Realität verloren hat.
Darüber hinaus legen Sie mit diesem Verschiebemanöver zu Lasten der Kommunen die Axt an die Wurzel der kommunalen Selbstverwaltung. Wie sollen denn die Kommunen ihre Pflichtaufgaben erfüllen und darüber hinaus noch weitere freiwillige Leistungen zur Steigerung der Lebensqualität in den Städten erbringen, wenn die Sozialhilfekosten derart explodieren? Sie explodieren nicht nur wegen der wachsenden Armut in unserem Lande, sondern vor allem deshalb, weil in erster Linie der Bund, bisweilen aber auch die Länder die Sozialhilfe fortgesetzt mit neuen wesensfremden Aufgaben belasten, für die sie eigentlich überhaupt nicht gedacht war, nämlich mit Kosten der Langzeitarbeitslosigkeit, mit Kosten für Bürgerkriegsflüchtlinge, mit Kosten für Pflege. Ich frage Sie: Wo bleibt Ihre gesamtstaatliche Verantwortung? Die haben Sie nämlich auch!
Die Bundesanstalt für Arbeit befindet sich mit ihrer Organisationsreform „Arbeitsamt 2000" auf dem richtigen Weg. Sie sollte ihn zügig weitergehen trotz des Beharrungsvermögens vieler großer Abteilungen, die es in derartigen Großunternehmen immer gibt. Einvernehmlich haben die Berichterstatter den Baustopp für neue Arbeitsämter aufgehoben, weil er vor Ort vielfach zu Unzuträglichkeiten und überteuerten Ersatzlösungen geführt hat.
- Jawohl, es war unsere Initiative. Aber es ist einvernehmlich getragen worden, und ich bin froh, daß es so ist.
Die etwas unglücklich formulierte Empfehlung des Bundesrechnungshofs, Arbeitsämter unter 200 Beschäftigten in sogenannte Nebenstellen umzuwandeln, hat viel Unruhe an der Basis ausgelöst. Sie ist vom Rechnungsprüfungsausschuß vernünftig interpretiert und anwendbar gemacht worden. Unnötige Verwaltungswasserköpfe sollen demnach entfallen. Das Serviceangebot vor Ort soll aber dezentraler und kundennäher ausgestaltet werden.
Insgesamt sehe ich die Arbeit des Präsidenten Jagoda, soweit ich sie von außen beurteilen kann, durchaus positiv. Er bemüht sich nicht, vorhandene Mißstände zu vertuschen, sondern er bemüht sich, sie aufzuklären und, wo er kann, abzustellen. - Hier dürfen Sie ruhig einmal klatschen; das ist ein Mann Ihrer Richtung!
Im Einzelplan 11 ist fast alles gesetzlich festgelegt. Viel Spielraum für Umschichtungen besteht nicht.
Handlungsbedarf, der mit geringen Mitteln zu befriedigen wäre, sehe ich im Bereich der Aussiedler. Diese Gruppe, die ja von den Regierungsparteien jahrzehntelang zur Rückkehr ins deutsche Vaterland ermuntert wurde und dort zunächst auch mit guten sozialen Leistungen empfangen wurde, droht jetzt ins soziale Abseits zu geraten. Die sozialen Leistungen wurden stark gekürzt, und der Sprachunterricht wurde auf sechs Monate beschränkt. Die Beherrschung der Landessprache ist aber die zentrale Voraussetzung für erfolgreiche Integration. Deshalb sollten die Sprachkurse wieder auf acht Monate verlängert und ihre Qualität verbessert werden.
Das Institut für deutsche Sprache in Mannheim hat dazu entsprechende vernünftige Vorschläge unterbreitet.
Auch für Ausländer soll und muß der Sprachunterricht aus den gleichen Gründen weitergeführt werden. Die Tatsache, daß die Koalition den Vertrag mit dem Sprachverband, der gute Arbeit geleistet hat, statt wie bisher für zehn jetzt nur noch für vier Jahre verlängern will,
darf nicht der Einstieg in den Ausstieg aus der Sprachförderung sein.
- Das hätte ich gerne im Protokoll gehabt.
Wer an den Integrationsleistungen zu sehr spart, drängt die betroffenen Menschen in ein Randgruppendasein und schafft damit sozialen Sprengstoff für die Zukunft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Minister Blüm hat als Motto des Entwurfs des Sozialhaushalts den Satz „Sparen und gestalten" gewählt. Mit dem Sparen wurde es nichts Rechtes. Die Regierung mußte unter dem Druck der Realität wieder draufsatteln, und das Gestalten erweist sich vornehmlich als Verschiebemanöver zu Lasten der Schwächsten in unserer Gesellschaft. Auch in diesem Einzelplan bleiben zahlreiche Haushaltsrisiken. Das wahre Motto dieses Haushaltsplans lautet also nicht „Sparen und gestal-
Dr. Konstanze Wegner
ten", sondern „Löcher stopfen und Gesellschaft spalten". Einem solchen Haushalt können wir nicht zustimmen.
Ich danke Ihnen.