Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch mir fällt es im Rahmen dieser Debatte schwer, zur üblichen Tagesordnung überzugehen, ohne etwas zur Ermordung von Yitzhak Rabin zu sagen.
Yitzhak Rabin war ein Mann, durchdrungen von der Vision zum Frieden, ein großer, ein mutiger Staatsmann, der in der Verbindung einer gesicherten Existenz seines Landes Israel mit dem Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser den Schlüssel zum Frieden sah. Ich fand es besonders beeindruckend, daß er noch vor wenigen Tagen direkt, unmittelbar und persönlich dafür plädiert hat, jetzt vor allen Dingen denjenigen zu helfen, die in einer wirtschaftlich und sozial schwächeren, zum Teil verzweifelten Situation sind, also jenen Menschen im Gazastreifen und in der Westbank.
Die große Lücke, die der Tod von Yitzhak Rabin reißt, zerstört hoffentlich nicht sein Lebenswerk. Der Friedensprozeß, der mit seinem und den Namen von Shimon Peres und Yassir Arafat untrennbar verbunden ist, ist eine große Chance für diese Region, für die Menschen, die dort leben und arbeiten. Er ist gerade für uns in Deutschland, aber auch für uns Europäer eine besondere Verpflichtung.
Wir sollten auch in Zukunft alles tun, um diesen Menschen auf einem friedlichen Weg zu helfen.
Ich fürchte, meine Damen und Herren, damit sind andere Fragen, die man durchaus auch gemeinsam behandeln könnte, nicht erreicht. Die Rede des Bundeskanzlers hat seine größte Stärke und zugleich seine größte Schwäche offenbart:
die Stärke, in geschichtlicher Dimension - jedenfalls scheinbar - und im Gefühl zu reden und zu argumentieren; die Schwäche, zur konkreten Lage in Deutschland nichts zu sagen, das Politik offenbaren würde - nichts.
Das kann man, meine Damen und Herren, an einer Reihe von Beispielen deutlich machen. Es hat sich ja in der wirtschaftlichen, in der sozialpolitischen, in der gesellschaftspolitischen Diskussion der Bundesrepublik Deutschland durch den Vorschlag des Vorsitzenden der IG Metall einiges wirklich grundlegend verändert. Wenn der Bundeskanzler sagt, er komme jetzt zu den Themen, die ihm wichtig seien, und als erstes sich selbst nennt,
dann ist das schon beachtlich.
Zu den Hauptproblemen unseres Landes - so zu den Fragen: Können wir den sozialen Frieden verteidigen? Läßt sich die Arbeitslosigkeit bekämpfen? Wie verbinden wir wirtschaftlichen Fortschritt mit sozialer Sicherheit? - Kommt außer ein paar wolkigen Formulierungen und einer ungewöhnlich selbstgefälligen Attitüde nichts Konkretes mehr - nichts mehr.
Ich will Ihnen das an zwei Beispielen deutlich machen, die in Ihrer Rede eine Rolle gespielt haben.
Sie haben davon gesprochen, es sei ein Skandal, daß
in Berlin deutsche Bauarbeiter keine Arbeit fänden.
Da haben Sie auch recht; es ist aber der Skandal Ih-
Rudolf Scharping
rer Politik, weil Sie immer noch nicht das Entsendegesetz verabschiedet haben.
Was sind Sie denn für ein Regierungschef, der sich hier in den Deutschen Bundestag stellt, die Ergebnisse seiner Politik beklagt, Umdenken anmahnt, ohne dann zu sagen, worin genau dieses Umdenken bestehen soll und was seine Regierung tut?
Sie haben doch die Mahnungen in den Wind geschlagen. Sie haben doch verhindert, daß auch auf den Baustellen gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt wird. Sie haben doch ein unzureichendes Gesetz vorgelegt.
Ich weiß sehr wohl, welche Risiken bestehen. Aber ein Risiko sollte nicht verschwiegen werden: Wenn Sie so weitermachen, dann wird das nicht nur die Bauarbeiter, nicht nur das Bauhauptgewerbe treffen, dann wird es auch andere Berufe treffen.
Ich will Ihnen eines sagen: Wer sich gegen eine vernünftige Gesetzgebung wehrt und dagegen, daß die deutsche Wirtschaft durch Innovation, Flexibilisierung und Forschung und Entwicklung wettbewerbsfähig bleibt, der wird am Ende das ernten, was Ergebnis Ihrer Politik ist, nämlich Auswanderung von Arbeitsplätzen und Einwanderung von Arbeitssuchenden mit Schaden für beide Seiten.
Dann reden Sie von Konsolidierung und davon, daß der Kurs der Konsolidierung fortgesetzt werde, uneingeschränkt.
Angesichts der Ergebnisse Ihrer Politik hört sich das fast bedrohlich an.
Verehrter Herr Bundeskanzler, es gehört schon entweder ein hohes Maß an Unkenntnis oder ein hohes Maß an Spekulation auf Unkenntnis dazu, angesichts Ihrer Haushaltspolitik von Konsolidierung zu reden.
Im Jahre 1990 hatte der Bund einschließlich seiner Schattenhaushalte 542 Milliarden DM Schulden. Ende 1996 wird es mit Ihrer Haushaltsplanung einen Schuldenberg von 1 378 Milliarden DM geben. Sie haben nicht nur die Zukunft dieses Landes verfehlt finanziert - zum großen Teil auf Pump, dann zu Lasten der Arbeitsplätze -, sondern Sie haben auch zusätzliche Schulden von 836 Milliarden DM in nur sieben Jahren aufgehäuft,
anderthalb mal soviel wie in den 40 Jahren der Geschichte der Bundesrepublik zuvor.
Angesichts dieser Zahlen von Konsolidierung zu reden ist dreist, wirklich dreist.
Die Zinsausgaben des Bundes betrugen 34,2 Milliarden DM im Jahre 1990. Im nächsten Jahr werden sie die 100-Milliarden-Grenze überschreiten. Und wenn es bei dem Trend, der sich jetzt abzeichnet, bleibt, dann werden wir schon im Jahre 1997 fast 28 Prozent unserer Steuereinnahmen nur für Zinsen ausgeben.
Mit dieser Politik erwürgen Sie die Gestaltungskraft der Politik, und Sie belasten die Arbeitsplätze zum Schaden unseres gemeinsamen Fortschritts.
Dann sagen Sie: Tja, müssen wir eben sparen! Wie üblich fällt Ihnen auf die allerdings sehr ernste Frage, ob sich sozialer Frieden unter dem Druck des globalen Wettbewerbes bewahren läßt, nur ein, etwas zum Sozialstaat zu sagen. Da reden Sie verschämt von einem „Umbau". Ist es „Umbau", arbeitslose Menschen noch stärker ins Abseits zu drängen? Ist es „Umbau", den Familien die finanziellen Hilfen zu kürzen?
- Ich rede von Ihren Vorstellungen. - Das hat mit „Umbau" überhaupt nichts zu tun.
Sie ruinieren den sozialen Frieden in einem Land - das will ich Ihnen dann doch noch etwas deutlicher sagen; denn es hilft ja nicht, sich darüber mit allgemeinen Floskeln hinwegzuretten -, in dem der Anteil der Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt von 1990 bis 1994 als einzigem Land in Europa gesunken ist. Ich rede vom Westen Deutschlands; auf die Sonderfragen des Osten Deutschlands will ich gleich zurückkommen. Wir sind das einzige Land, in dem der Anteil der Sozialausgaben gesunken ist. Sie reden von einem europäischen Vergleich und verschweigen, daß Großbritannien mittlerweile einen gleich hohen Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt hat. Sie verschweigen, daß Frankreich, Belgien, Italien, die Niederlande mittlerweile einen höheren Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt haben.
Nein, nicht der Sozialstaat, nicht der soziale Frieden, nicht die soziale Sicherheit sind zu teuer; Ihre Politik ist verfehlt, auf dem Rücken des sozialen Frie-
Rudolf Scharping
dens Politik zu formulieren und zu finanzieren, die dort nicht hingehört.
Der soziale Friede kann behauptet werden. Dafür brauchen wir aber mehr und zielbewußtes, das heißt an Beschäftigung und am Schutz der Umwelt orientiertes Wachstum.
Und wir brauchen eine Modernisierung des Sozialstaats.
Nun kann man die Frage stellen: Was tun Sie eigentlich dafür? Sie stellen sich hier hin und sagen: Wir brauchen eine neue Gründerwelle. Das hört sich gut an, vor allen Dingen an jenem Tag, an dem die Deutsche Presseagentur meldet, daß der Anstieg der Pleitenzahlen sich im Sommer unvermindert fortgesetzt hat.
Im Juli und August gab es 3 700 Insolvenzen mehr, davon 2 800 von Unternehmen. Besonders schlimm sind die Zahlen im Osten Deutschlands.
Wenn eine Regierung nicht in der Lage ist, Unternehmen des Handwerks, des Mittelstands, der Bauwirtschaft anständig mit Eigenkapital auszustatten,
dann ist das die unmittelbare Frucht Ihrer Politik. Da können Sie viele Gründerwellen fordern, wenn Sie noch nicht einmal in der Lage sind, die Pleiten mit zu verhindern, die jetzt eingetreten sind.
Wer eine moderne Wirtschaft will, leistungsfähig, intelligent in ihren Produkten, auf den Weltmärkten an der Spitze, der darf nicht die Frage stellen, ob wir billiger produzieren können als andere; er muß zuerst die Frage stellen, ob wir besser produzieren können als andere.
Es macht auch keinen Sinn, eine Politik immer weiter fortzusetzen, verehrter Herr Kollege Haussmann, die das Wachstum des Bruttosozialprodukts voranbringt, aber zugleich immer weniger Beschäftigung produziert, die den Konsum nicht bei den Privaten, sondern beim Staat immer weiter vorantreibt, ohne für die Zukunft wirksam Vorsorge zu treffen.
Meine Damen und Herren, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, es ist eine Binsenweisheit, daß produziert werden muß, bevor man verteilen kann.
Es ist aber genauso eine Binsenweisheit, daß der Politik die Frage gestellt wird: Unter welchen Bedingungen wird produziert, und wie sieht es mit der
Verteilung des gemeinsam Erwirtschafteten aus? Da beginnt die politische Gestaltung, und da ist bei Ihnen Mattscheibe. Da kommt überhaupt nichts.
Wenn wir für ein an Beschäftigung und Umwelt orientiertes Wachstum plädieren, wenn wir für eine intelligente, flexibel arbeitende und flexibel produzierende Wirtschaft plädieren, dann macht es wenig Sinn, eine Strategie zu verfolgen, wie das offenkundig die Ihre ist. Wenn man wirklich will, daß dieses Land Sozialpartnerschaft, Verantwortungsbewußtsein, Kreativität, Leistung der Arbeitnehmer herausfordert und fördert, anstatt sie immer wieder neu zu belasten,
dann darf man nicht eine Politik verfolgen, wie Sie das tun.
All die Stichworte, die hier mehrfach eine Rolle gespielt haben - Lohnfortzahlung, Kündigungsschutz, Einschränkung der Tarifautonomie -, sind am Ende primitive Konfliktstrategien, und Sie liegen damit weit hinter dem zurück, was Sozialdemokratie und Gewerkschaften zur wirtschaftlichen Modernisierung, zur Zukunft unseres Landes zu sagen haben.
Sie liegen übrigens auch weit hinter dem zurück, was die Praxis in den Unternehmen ist.
Vor allen Dingen würden wir alle gerne von Ihnen wissen, wie Sie auf das Angebot des Vorsitzenden der IG Metall reagieren. Sie haben es gelobt, Sie finden es positiv. Sorgen Sie mit dafür, daß die Politik, die zum Abdrängen von Arbeitslosen führt, beendet wird. Gehen Sie auf die Voraussetzungen ein, die Ihnen die wichtigen Gewerkschaften und auch die deutsche Sozialdemokratie nennen.
Sind Sie bereit, zu einem gemeinsamen Pakt für Beschäftigung zu kommen, oder wollen Sie Ihre Politik so fortsetzen wie bisher?
Wenn sich Wirtschaftspolitik in dem Affentheater der letzten Tage um den Ladenschluß erschöpft, kann ich nur sagen: Nichts kennzeichnet die „Fähigkeit" Ihrer Politik zur Gestaltung so sehr wie das.
Ein Affentheater ist es.
Ich füge ganz deutlich hinzu: Wenn Sie sich darüber beschweren, daß die Sozialversicherungsbeiträge so hoch seien, dann fangen Sie doch damit an, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß sie nicht steigen müssen. Sie können mit uns gerne über die Veränderung der Ladenschlußzeiten reden. Aber
Rudolf Scharping
dann seien Sie auch bereit, dafür zu sorgen, daß der Anreiz entfällt, im Handel und an anderer Stelle immer mehr Menschen ohne soziale Sicherheit zu beschäftigen.
Ein Land mit 4,5 Millionen Menschen, die ohne Sozialversicherung arbeiten, kann sozial nicht stabil bleiben.
Wir stimmen mit der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft überein, so unbedeutend sie selbst ist. Wir stimmen im Zweifel sogar mit Herrn Blüm überein; das ist schon ein bißchen wichtiger. Ich war aber gespannt darauf, was Sie, Herr Bundeskanzler, dazu meinen. Doch Sie sagten kein einziges Wort dazu. Wollen Sie gemeinsam mit vernünftigen Menschen
die Ausbeutung von Frauen im Handel endlich beenden und für anständige Teilzeitarbeitsplätze sorgen?
Sie kommen hierher, sprechen von einer Gründerwelle und sagen, man müsse mehr in Richtung Arbeitsplätze denken. Dann lassen Sie uns bitte in Richtung Arbeitsplätze denken. Mit Ihrer Politik wird vermutlich die Krankenversicherung - der Einigung im Krankenhausbereich zum Trotz - teurer, die Rentenversicherung ganz sicher.
Wir werden im nächsten Jahr einen Anstieg der Lohnnebenkosten zu verzeichnen haben, der fast alles zerstören wird, was mit dem Jahressteuergesetz erreicht worden ist.
Sie werden eine erneute Belastung der Arbeitsplätze und der Arbeitseinkommen festzustellen haben. Wenn Sie in der Lage sind, Ihre schöne Forderung umzusetzen - man hört häufig von Ihnen: Wir brauchen mehr Teilzeitarbeit; Sie haben als Beispiel immer die Niederlande erwähnt -, dann sorgen Sie doch dafür, daß aus den ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen gesicherte Teilzeitarbeit wird.
Dann gibt es mehr Beitragszahler.
Ich muß das aufgreifen, damit es jeder zur Kenntnis nehmen kann. Sie sagen, das sei schon längst geschehe. Der zahlenmäßige Anstieg dieser Beschäftigungsverhältnisse ist dramatisch geworden.
Wenn Sie Ihre Politik fortsetzen, wird er noch dramatischer werden, und zwar zu Lasten der betroffenen
Menschen und zu Lasten der Mitte der Gesellschaft,
die die steigende Belastung aus dieser verunglückten und falschen Politik finanzieren muß.
Wer hier von Gründerwelle und Arbeitsplätzen redet, der sollte zuerst und vor allen Dingen dafür sorgen, daß die Belastung der Arbeitsplätze mit jenen Finanzierungslasten, die bei den Arbeitsplätzen überhaupt nichts zu suchen haben, beendet wird. Da fehlt Ihnen der Mut; da fehlt Ihnen der Gestaltungswille; da sind Sie Gefangener einer Politik, die von Anfang an verfehlt war. So sehr Sie Umdenken anmahnen - das ist ein wunderschönes Wort, eine schöne Zielsetzung -, konkret findet nichts statt. Im Bereich der Teilzeitarbeit hätten Sie dazu eine gute Gelegenheit.
Ich will das an einem zweiten Beispiel deutlich machen, der Flexibilisierung. Herr Bundeskanzler, meine Damen und Herren, ich will gar nicht mehr in den Urherberstreit eintreten; der ist unfruchtbar. Sie sprechen davon, wie Flexibilisierung in der deutschen Wirtschaft aussehen könnte, wer sie zuerst gefordert hat usw. Sie haben Flexibilität im Bereich der sozialen Sicherheit gefordert.
Wir haben sie immer im Bereich der Arbeitsorganisation und der Verantwortung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gefordert. Überall da, wo sie existiert, sind die Ergebnisse gut.
Ich füge hinzu: Alle diese Fragen - Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Sicherung des Sozialstaates, internationale Wettbewerbsfähigkeit - sind in Europa gemeinsam besser zu beantworten, als wenn jedes Mitgliedsland der Europäischen Union das für sich allein täte. Das ist wahr.
Folglich wird man bei der Formulierung von Wirtschafts- und Sozialpolitik, von Haushalts- und Finanzpolitik immer darauf achten müssen, daß sie in einen europäischen Geleitzug passen, was Stabilität für die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt und das Geld bedeutet.
Da, Herr Bundeskanzler, ist mir etwas aufgefallen.
Sie haben gesagt, Sie wollten bestimmte Fragen nicht beantworten; das habe mit dem Stand der internationalen Verhandlungen zu tun.
Ich will Ihren im Zusammenhang mit unserer Großen Anfrage zur Wirtschafts- und Währungsunion eines sagen: Man kann über viele einzelne Fragen durchaus reden, man kann sogar einwenden, daß zu bestimmten Fragen eine Antwort detailliert, mit Festlegungen verbunden, zur Zeit noch nicht möglich ist.
Ich halte es aber für das Verständnis untereinander und für den Respekt vor dem Parlament abträglich,
Rudolf Scharping
wenn sich ein deutscher Bundeskanzler hier hinstellt und sagt, er wolle diese Fragen nicht beantworten.
So können wir nicht miteinander umgehen.
Dafür ist auch die Europäische Union zu wichtig. Wir halten unverändert daran fest, daß Europa geeinigt werden muß. Wir halten unverändert daran fest, daß Europa das beste Beispiel politischer Lernfähigkeit ist. Aus den europäischen Bürgerkriegen dieses Jahrhunderts haben gerade wir eine besonders bittere Erfahrung und gleichermaßen eine besonders fruchtbare Lehre gezogen.
Also ist gerade Deutschland verpflichtet, nie mehr Sonderwege zu gehen, fest in den westlichen Demokratien verankert zu bleiben und unauflöslich mit Europa verbunden zu sein.
Daraus folgt für uns zweierlei: Die europäische Integration ist zu vertiefen, die Union selbst zu erweitern. Diesen Maßstäben muß auch die Wirtschafts- und Währungsunion genügen. Darüber gibt es jetzt eine öffentliche Debatte; das ist auch gut so. Das ist schon deswegen gut, weil sich auf der Grundlage - ich sage ausdrücklich: auf der Grundlage - des Vertrages von Maastricht Fragen stellen und weil viele von uns die Sorge bewegt, daß wir die Vision eines gemeinsamen Europas in dem Verhakeln der Regierungen und in den bürokratischen Einzelheiten verlieren könnten. Als Wille ohne Vorstellung jedenfalls kann Europa nicht wachsen.
Wer ein Europa der Bürgerinnen und Bürger will, der wird für eine Stärkung des Parlamentes, für eine bessere demokratische Verankerung eintreten.
Das scheint aber nicht gerade das Herzensanliegen der Bundesregierung zu sein. Ein Bundeskanzler, der in wenigen Monaten zweimal in dieses Parlament kommt und sagt, ich bin Ihnen hier keine Rechenschaft schuldig, ich will Ihre Fragen nicht beantworten, der offenbart ein eigenartiges Verständnis von der offenen parlamentarischen und demokratischen Diskussion.
Wir wollen mit Blick auf Europa auch eine Stärkung und Verankerung von Bürgerrechten. Deshalb haben wir vorgeschlagen, sich auf eine Charta jener Bürgerrechte zu verständigen, die jedem Menschen in Europa zur Verfügung stehen. Deshalb mahnen wir eine gemeinsame Innen- und Sozialpolitik an, damit eingelöst werden kann, was in den politischen Zielen proklamiert wird.
Nach dem europäischen Binnenmarkt brauchen wir auch eine zielbewußte, jedenfalls in den Grundzügen gemeinsame Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik.
Wer von der gemeinsamen Währung redet, ohne von einer Verständigung auf wirtschaftliche, arbeitsmarktpolitische und beschäftigungspolitische Fortschritte zu reden, der entzieht der Währungsunion, die notwendig ist, einen wesentlichen Teil ihrer realwirtschaftlichen Grundlagen.
Das Ärgerliche ist: Daran war diese Bundesregierung beteiligt. Diese Bundesregierung hat - ich erinnere Sie an die Diskussion um das Weißbuch von Jacques Delors und der Europäischen Kommission - in diesem Bereich gemeinsam mit anderen gebremst, was an europäischem Fortschritt möglich gewesen wäre
und von einem klugen Europäer und Freund der Bundesrepublik Deutschland vorgeschlagen worden war. Sie wissen auch um die Enttäuschung, die daraus entstand.
Viel wichtiger aber ist, daß man im Denken und in den Herzen der Menschen Europa einen Sinn und eine Seele gibt. Dazu gehört auch gemeinsames Geld; dazu gehört, daß möglichst viele daran beteiligt sind. Dazu gehört, daß es einen gemeinsamen Willen zur Sicherung wirtschaftlicher Stärke und sozialer Stabilität gibt.
Deshalb sind uns die Kriterien der europäischen Währung, der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion wichtiger als die Zeitpläne. Ich verschweige nicht: Die Zeitpläne können eine förderliche disziplinierende Wirkung haben.
Ich bin damit allerdings angesichts des Verdachts der Lehrmeisterrolle Deutschlands sehr zurückhaltend.
Nun möchte ich Ihnen etwas zitieren:
Konvergenzmängel könnten daher die Stabilitätsorientierung, wenn nicht den Bestand der Währungsunion gefährden ... Angesichts dieser im Ganzen unbefriedigenden Entwicklung ist es besonders problematisch, daß die im Vertrag über die Europäische Union und in den einschlägigen Protokollen niedergelegten Konvergenzkriterien erhebliche Unschärfen aufweisen und demzufolge unterschiedliche Auslegungen zulassen. Hiervon sind tatsächlich alle Kriterien betroffen. Da sie jedoch ohnehin nicht besonders anspruchsvoll sind, muß im Interesse eines dauerhaften Erfolgs der Währungsunion jedem Versuch einer Aufweichung der Zugangsvoraussetzungen energisch entgegengetreten werden. Dies gilt um so mehr, als die Konvergenzprüfung großteils nur auf eine Momentaufnahme abstellt,
Rudolf Scharping
während ein befriedigendes Funktionieren der Währungsunion dauerhafte Konvergenzerfolge voraussetzt.
- Wenn Sie sagen, daß das nichts Neues sei, wenn Sie sagen, daß der Geschäftsbericht der Deutschen Bundesbank 1994 für Sie nichts Neues sei, dann verstehe ich überhaupt nicht mehr, warum Sie das Beharren der Sozialdemokratie auf einer Einhaltung der Stabilitätskriterien kritisieren und warum Sie kritisieren, daß diese dauerhaft gesichert werden müssen.
Denn das wird neu besprochen werden müssen. Maastricht, von dem man sagen kann, es sei der erste wichtige Durchbruch in Richtung auf eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungsunion, braucht eine Ergänzung. Es braucht eine Ergänzung in Form einer besseren Abstimmung der Haushalts- und Fiskalpolitik, es braucht eine bessere, dauerhaftere Sicherung der Stabilitätskriterien, als das bisher im Vertrag vorgesehen ist. Das braucht es auch, damit die Europäische Zentralbank nicht überfordert wird. Das braucht es auch, damit stabilitätskonforme Länder nach Inkrafttreten der Währungsunion nicht für weniger stabilitätskonformes Verhalten in anderen Ländern bestraft werden, entweder über die Märkte oder über die Geldpolitik.
Vor diesem Hintergrund sage ich Ihnen noch einmal: Wir werden mit Blick auf den Parlamentsvorbehalt und mit Blick auf die ratifizierten Verträge von Maastricht strikt darauf achten, daß die Konvergenzkriterien eingehalten werden, daß sich möglichst viele europäische Länder beteiligen, daß die Konvergenz- oder Stabilitätskriterien für Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Geld gleichermaßen wirksam sind und daß sie nicht nur für den Eintritt in die Währungsunion, sondern dauerhaft gelten.
Meine Damen und Herren, ich wiederhole: Es ist gut, daß diese Debatte entstanden ist, selbst wenn sie manche Töne hat, die weniger erfreulich sind. Aber sie ist notwendig.
Ich füge hinzu: Wenn wir nicht in einer offenen Diskussion die Bürgerinnen und Bürger davon überzeugen, daß gemeinsame Währung, gemeinsame Wirtschaft, gemeinsame Bewahrung des sozialen Friedens das Anliegen Europas sind, dann werden wir ihre Zustimmung nicht bekommen. Die Verständigung zwischen einzelnen Regierungen nutzt gar nichts, wenn die Bevölkerung nicht will und zustimmt.
Meine Damen und Herren, Politik in Europa, Integration in Europa ist eine Voraussetzung dafür, daß wir unsere Probleme besser lösen können, als wenn wir das alleine tun wollen. Das merkt man übrigens auch an der dramatischen Veränderung der Währungsrelationen. Dazu kein Wort von Ihnen, Herr Bundeskanzler, nicht ein einziges Wort, obwohl Ihre Finanzpolitik mit dazu beigetragen hat, daß sich die Währungsrelationen in erheblichem Umfang verändert haben, und zwar zum Schaden unserer Arbeitsplätze.
Herr Bundeskanzler, wer zu solchen Fragen im Zusammenhang mit dem europäischen Kontext nicht redet, der erzeugt einen vielleicht wohligen, vielleicht gefühligen, ganz sicher einen selbstgefälligen Nebel, aber nicht die Klarheit, die wir brauchen, um gemeinsam voranzukommen.
Das will ich Ihnen noch an einem anderen Beispiel deutlich machen: Die Steuerpolitik in Deutschland setzt ganz eindeutig falsche Prioritäten. Die hohe Verschuldung des Staates ist zu einem Instrument massiver Umverteilung geworden.
Die falsch organisierte Steuerbelastung wird zu einem immer größeren Risiko für wirtschaftlichen Fortschritt.
Es gibt einige Stichworte, bei denen ich gerne wissen würde, was der Bundeskanzler dazu sagt; denn auf das Wort des Finanzministers kann man sich erkennbar nicht mehr verlassen.
Eine Koalitionsvereinbarung besagt, Sie wollten die Gewerbekapitalsteuer abschaffen, die Steuern nach dem Gewerbeertrag senken und mittelfristig die Gewerbesteuer insgesamt abschaffen. In einem Brief des Bundesfinanzministers an die kommunalen Spitzenverbände steht, er wolle die Gewerbesteuer, aber in der Verfassung abgesichert. Ein Parlamentarischer Staatssekretär sagt im Deutschen Bundestag sogar, wie eine solche Formulierung aussehen könnte. Was gilt denn jetzt bei Ihnen?
Wollen Sie die Gewerbesteuer abschaffen, oder wollen Sie sie beibehalten?
Ich frage das deshalb, weil Sie dazu übergegangen sind, alle Probleme Ihrer Politik nach unten durchzureichen. Die Unfähigkeit, auf der Bundesebene Ordnung zu schaffen, ist durch diese Haushaltsberatungen so erschreckend deutlich bewiesen worden, daß man sich kaum noch daran freuen kann. Alle Zeitungen schreiben davon. Sie bewegen sich auf einem dünnen Eis, Sie täuschen einen soliden Haushalt vor,
Rudolf Scharping
Sie nehmen eine Kreditaufnahme vor, die nur dann ausreichen kann, wenn Ihre eigenartigen Privatisierungserlöse eintreten. Daß Sie die Gremien des Parlamentes damit beschäftigen, wegen 10 oder wieviel Millionen DM auch immer 140 Seiten - mit Folgen für die kommenden Jahre - zu studieren, aber auf einen Schlag, mit einem Wisch Papier 20 Milliarden DM scheinbar finanzieren, das ist in meinen Augen ein politischer Offenbarungseid.
Ein Finanzminister, Herr Kollege Waigel, der so mit Staatsfinanzen umgeht und glaubt, er könnte mit einem Wisch Papier - noch nicht einmal sorgfältig gerechnet; aber das nur nebenbei - ein Parlament zufriedenstellen, der kann das nur tun, weil er davon ausgeht: Ich habe innerhalb der Koalition vielleicht eine Mehrheit. Das geht ja auch gar nicht anders. Die Mitglieder dieser Koalition sind ja zur Zustimmung verpflichtet und müssen notfalls die eigene Desavouierung als eine besondere staatsmännische Tat noch bejubeln.
Denn das parlamentarische Bewußtsein ist so weit heruntergekommen, daß es sich ein Haushaltsausschuß mit seiner Mehrheit bieten läßt, mit einem Wisch von einer Seite 20 Milliarden DM Ausgaben erläutert zu bekommen, daß er es sich bieten läßt, daß die Mitglieder des Haushaltsausschusses und die Berichterstatter im Finanzministerium jede Information verweigert bekommen, während der Finanzminister gleichzeitig in Hintergrundgesprächen ausbreitet, was er dem Parlament nicht mitteilen will.
Meine Damen und Herren, dies ist die Folge einer Politik, die den Sozialdemokraten immer gesagt hat: Wenn ihr finanzielle und wirtschaftliche Risiken beschreibt, dann malt ihr schwarz; ihr spielt Kassandra. Als wir im Verlauf des Jahres gesagt haben, leider wird sich die wirtschaftliche Entwicklung abschwächen, da haben Sie erwidert: Jetzt sind wieder die Miesmacher am Werk. Als wir gesagt haben, die hohe Steuerbelastung der Arbeitseinkommen, des Mittelstands, des Handwerks - dort insbesondere die hohe Belastung durch Sozialversicherungsbeiträge - sei nicht notwendig, da haben Sie gesagt, wir seien daran ja selber schuld, wir seien diejenigen, welche . . . Als wir darauf hingewiesen haben, daß die Ziele des Jahreswirtschaftsberichts nicht eingehalten werden - das war im September, vor zwei Monaten -, da haben Sie gesagt: Miesmacherei, Schwarzmalerei, Kassandrarufe und weiß ich, was alles noch.
Nun kann man sich die Ziele des Jahreswirtschaftsberichts und die Realitäten, die - bedauerlicherweise - eintreten werden, ja ansehen. Sie haben eine Absenkung der Arbeitslosenzahlen versprochen. Im Oktober 1995 liegen die Arbeitslosenzahlen um 80 000 über dem Vorjahr. Im Februar waren wir noch auf dem Weg, um 260 000 unter den Zahlen des Vorjahres zu bleiben. Wie dramatisch soll eine Wende eigentlich sein? Und dann stellt sich der Bundeskanzler hin und sagt: Das ist leider etwas unbefriedigend, wir müssen mehr für die Menschen tun.
Sie haben sich, Herr Bundeskanzler, von der Vorstellung, die Menschen denunzieren zu können, sagen zu können, Deutschland sei ein kollektiver Freizeitpark, die Menschen lägen in der sozialen Hängematte, verabschiedet. Jetzt haben Sie eine neue Melodie drauf: Man muß für die Menschen etwas tun. Man darf sie nicht beiseite stehenlassen und dergleichen mehr. Das sagt der Chef einer Regierung, die gleichzeitig vorschlägt, die originäre Arbeitslosenhilfe abzuschaffen, die vorschlägt, die Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre zu begrenzen, die vorschlägt, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen erst nach zwölf Monaten Arbeitslosigkeit eintreten zu lassen usw. Herr Bundeskanzler, ich finde es empörend, wie Sie über die Ergebnisse und die Absichten Ihrer Politik hinwegreden!
Die Arbeitslosigkeit steigt, die Zahl der Erwerbstätigen sinkt. Das wirtschaftliche Wachstum erreicht in diesem Jahr, mit Folgen für alle weiteren Jahre - was übrigens Ihre gesamte Finanzplanung zur Makulatur macht -, leider nicht die Zahlen, die Sie uns vorgegaukelt haben. Das einzige, was übertroffen wird, ist das Ziel der Steigerung der Unternehmenseinkommen. Nichts gegen Gewinne! Im Gegenteil, wir brauchen sie.
Wir brauchen sie insbesondere für Investitionen. Dann aber sorgen Sie mit Ihrer Steuerpolitik dafür, daß es sich wieder lohnt, in Deutschland zu investieren!
Ich habe übrigens mit Interesse gehört, daß Herr Kollege Solms - er ist jetzt leider nicht da - gesagt hat, das sei alles Unsinn. Dann hat er mal nachgelesen - was ich übrigens den Mitgliedern der Bundesregierung auch empfehle - und dann gesagt, das sei ein durchaus diskussionsfähiger Ansatz.
Ich behaupte: Es wird hier so gehen wie in anderen Bereichen der Politik auch. Jahrelang haben wir darum gekämpft, daß Bestechungsgelder nicht von der Steuer abgesetzt werden können. Nach mehreren Jahren haben wir es erreicht. Jahrelang haben wir darum gekämpft, daß die Förderung des Eigentums an Wohnungen und Häusern unabhängig vom Einkommen, ohne Vorteil in der Progression, durchgesetzt wird. Jetzt haben wir es erreicht. Ich sage Ihnen voraus: Wir werden uns einige Jahre darum streiten, ob eine ökologische Modernisierung des Wirtschaftens notwendig und sinnvoll ist, und dann
Rudolf Scharping
werden wir es durchsetzen. Wir werden es durchsetzen!
Das ist nicht durchzusetzen mit einer Finanzpolitik, die eine enorme Pumpleistung jedes Jahr als Punktlandung verkauft. Das ist auch nicht durchzusetzen, Herr Bundeskanzler, mit einer Politik, die mit den „drei M" hantiert. Ich habe es schon in meiner eigenen Partei nicht sonderlich gern, wenn Kollegen auftreten und sagen: Man müßte mal! Das ist ein - leider auch bei uns - hier und da verbreiteter Bazillus. Aber von einem Regierungschef, der sich hier hinstellt und nach der Melodie singt „Ich verkünde ein gutes Gefühl, ich verbreite eine wohlige Selbstgefälligkeit" und im übrigen sagt „Man müßte mal", erwarte ich, daß er sich an den Kabinettstisch setzt und Herrn Rüttgers sagt, daß man die Ausbildungsinteressen der deutschen Studierenden nicht so rasieren kann wie er.
Von diesem erwarte ich auch, daß er sich an den Kabinettstisch setzt und sagt: Lieber Norbert Blüm, jetzt habe ich im Deutschen Bundestag geäußert, man dürfe die Arbeitslosen nicht zur Seite drängen und so kaltherzig mit ihnen umgehen. Setz einmal deine Politik durch! Ich korrigiere meine und helfe dir als Bundessozial- und -arbeitsminister - das ist ein Titel, den er nicht sonderlich verdient hat; aber gut - in Zukunft gegen Herrn Rexrodt und Herrn Waigel. - Ich bin einmal gespannt, wann das passieren wird.
Von einem Bundeskanzler, der hier herkommt und sagt „Ich bin für Konsolidierung, wir werden den Kurs fortsetzen", möchte ich gelegentlich auch einmal hören, daß er wenigstens in den Koalitionszirkeln seinen Finanzminister in die Mangel nimmt und ihm sagt: Wie kannst du mir aufschreiben, daß ich im Deutschen Bundestag von Konsolidierung reden soll, während du bei 40 000 Wohnungen und Privatisierungserlösen, die schon im letzten Jahr nicht erzielt werden konnten, Schein- und Luftbuchungen machst?
Von einem Bundeskanzler, der von der Innovationskraft der deutschen Wirtschaft redet und davon, daß jetzt die Hemmnisse beseitigt werden müssen, erwarte ich, daß er irgendwann einmal in dieses Parlament kommt und sagt: Paßt einmal auf: Genehmigungsverfahren werden verkürzt. Wir organisieren es jetzt so, daß Projektmanagement möglich ist. Wir begrenzen den Beamtenstatus auf strikt hoheitliche Aufgaben. Wir sorgen dafür, daß viele Einzelheiten in der Gesetzgebung geregelt werden.
Herr Bundeskanzler, pfeifen Sie doch mal, anstatt nur den Mund zu spitzen.
Kommen Sie doch nicht hierher oder auf den Bundesparteitag der CDU und sagen: Man müßte mal. Wenn Sie dies sagen, droht immer die Gefahr, daß die Leute nicht so ganz wollen. Das hat man auch auf Ihrem Parteitag gesehen: Es existiert in politischen Sachentscheidungen Angst vor den eigenen Mitgliedern und Angst vor der Gleichberechtigung der Frauen, obwohl der Bundeskanzler gesagt hat: Man müßte mal.
Ich rate also dringend dazu, nicht nur in den Deutschen Bundestag zu kommen und zu sagen: Man müßte mal. Herr Bundeskanzler, tun Sie endlich, was Sie ankündigen! Verbleiben Sie nicht in dieser nebeligen Selbstgefälligkeit!
Es mag Ihnen gefallen haben, daß Sie auf den Vorwurf des Buddha so reagieren konnten, wie Sie reagiert haben. Einverstanden, jeder sieht zu, wie er da am besten herauskommt.
Der Kollege Verheugen hat, so meine ich, heute morgen eine Rede gehalten, die saß.
Für mich gibt es zwei sichere Indizien, um festzustellen, ob etwas gesessen hat, ob Sie sich getroffen und zu Recht kritisiert fühlen:
Das eine Indiz ist das spontan losbrechende Gelächter des Kollegen Waigel nach der Methode: Wenn schon alles schlecht ist, dann muß wenigstens ich lachen.
Das andere Indiz basiert auf der Reaktion des Bundeskanzlers. Er signalisiert das immer dadurch, daß er sich betont lässig, betont freundlich zurücklehnt. Und wenn er dann ans Pult kommt - jeder Zwischenruf wird übrigens fast als Majestätsbeleidigung empfunden - müssen Mitglieder der CDU-Fraktion aufstehen und sagen: Stellt mal eure Gespräche ein, der Bundeskanzler spricht! Wie könnt ihr so unhöflich sein! -
Nein, ich will Ihnen einmal folgendes sagen: Ich habe nichts gegen Souveränität. Ich habe aber etwas gegen eine Form von Souveränität, die sich jeder Auseinandersetzung entzieht - und deshalb keine
Rudolf Scharping
mehr ist - und in völlige Selbstgefälligkeit umschlägt.
Wer dann - ich komme auf Ihre Stärken und Ihre Schwächen zurück - in Gefühl und Geschichte so stark ist, daß er für die Gegenwart des Landes wenig Interesse und wenig Gestaltungskraft aufbringt, wer in einer längeren Rede im Deutschen Bundestag fast nichts zur wirtschaftlichen Entwicklung, zur Entwicklung des Arbeitsmarktes, zur Finanzierung des Staates, zur Modernisierung und zum Abbau von Bürokratie sagt, dem sage ich noch einmal: So werden Sie die Politik für die Zukunft dieses Landes nicht wirklich machen können, so nicht!
Es ist leider eine Binsenweisheit:
Wer sich im Bundestag befindet und jede kritische Bemerkung, jeden kritischen Zwischenruf nach der Methode abbügelt „Der hat überhaupt keine Ahnung", der signalisiert nur eines: Es fehlen ihm schlicht die Argumente.
Also: Wir lassen Ihnen gerne die Stärke in Geschichte und Gefühl, aber wir fügen hinzu: Diese - wenn Sie so wollen - Stärke reicht nicht aus. Politik nach der Methode „Man müßte einmal" ist für die schwierigen Probleme, für die Herausforderungen der Zukunft unseres Landes unzureichend. Tun Sie endlich einmal etwas, anstatt immer nur davon zu reden!