Nein. - Wir haben damit die Chance, bei Flexibilisierungen im Blick auf die Maschinenlaufzeiten mehr Beschäftigungsmöglichkeiten zu finden.
Meine Damen und Herren, jetzt sagt die IG Metall - der Vorstand hat alles getan, um diesen 30-Stunden-Antrag nicht durchkommen zu lassen - genau das gleiche, was wir Ihnen seit Jahr und Tag erzählt haben. Und Sie haben dazwischengeschrien und erklärt, das sei soziale Demontage.
Wir brauchen mehr Flexibilität, das heißt mehr Freiräume für private Initiative. Es bleibt das Ziel, die Staatsquote zurückzuführen. Das bedeutet, meine Damen und Herren, daß Sie hier im Hause, aber noch mehr im Bundesrat eingeladen sind, Ihre Zustimmung dazu zu geben.
Wir werden die Konsolidierungspolitik fortsetzen. Was immer Sie hier sagen: Für mich ist entscheidend, was der Internationale Währungsfonds etwa zur Politik des Finanzministers sagt. Ich bin stolz darauf, daß Theo Waigel in den ganzen Jahren eine Politik ohne Populismus durchgesetzt hat. Die war gut für die Bundesrepublik Deutschland.
Durch das Jahressteuergesetz werden die Bürger um fast 20 Milliarden DM entlastet. Bei der Unter-
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
nehmensteuerreform mit dem Schwerpunkt Gewerbesteuerreform können Sie ja jetzt mitwirken. Sie sollten dabei vor allem mit dem Unsinn des alten sozialistischen Neidkomplexes aufhören, das sei ein Geschenk für die Reichen. Es ist ein Geschenk für die Arbeitslosen, wenn wir mehr Arbeitsplätze in Deutschland schaffen.
Deswegen ist es ganz wichtig, daß wir in der allernächsten Zeit - die Bundesregierung wird im Zusammenhang mit dem Jahreswirtschaftsbericht, der, glaube ich, im Februar in diesem Hohen Hause diskutiert wird, neue, eigene Vorschläge vorlegen - zu einem Gesamtprogramm kommen. Ich hoffe, daß es in den Gesprächen mit den Gewerkschaften und mit den Arbeitgebern gelingt, wenigstens in den wichtigsten Teilbereichen ein Stück Konsens zu erzielen. Ich kann die Sozialdemokratie nur einladen, dann nicht das, was gemacht werden muß, im Bundesrat zu bremsen, sondern der Zukunft eine Chance zu geben.
Des weiteren müssen wir im Prozeß des Umdenkens zu der Erkenntnis kommen, daß wir jetzt in einer sehr viel schärferen Konkurrenz stehen. Wenn wir in wenigen Tagen in die Volksrepublik China aufbrechen und ein ganz maßgeblicher Teil der Unternehmensführungen der Bundesrepublik Deutschland dabei vertreten ist, dann tun wir das doch wahrlich, um Märkte für die Zukunft zu sichern. Genau das müssen wir tun, und das werden wir auch tun.
Auch zu einer anderen Frage sollte sich die SPD einmal äußern. Ich habe in den letzten Wochen oft genug dazu gesprochen. Wenn Sie die Entwicklung der Arbeitsplatzsituation und die Entwicklung der Demographie in Deutschland betrachten, dann kommen Sie unschwer zu dem Ergebnis, daß wir auf traditionelle Weise nicht viele neue Arbeitsplätze werden gewinnen können.
Wir verlangen mit Recht den schlanken Staat. Wenn wir aber zu einem schlanken Staat kommen wollen, kann das nicht bedeuten, daß die Zahl der öffentlich Bediensteten dramatisch zunimmt. Vielmehr wird die Zahl der öffentlich Bediensteten eher reduziert werden, und zwar auf allen Ebenen.
Wir wissen zum zweiten, daß, wenn ich einmal den Telekommunikationsbereich ausnehme, in weiten Teilen der deutschen Großindustrie nicht in großer Zahl neue Arbeitsplätze geschaffen werden, daß die Strukturierung dieser Unternehmen zur Rationalisierung führt, damit sie international wettbewerbsfähig bleiben. Das heißt doch, daß wir in Deutschland jetzt einen neuen Anlauf für den Aufbau neuer Betriebe im mittelständischen Bereich nehmen müssen,
anders ausgedrückt: daß wir eine breite Gründungswelle brauchen, so wie wir sie in den fünfziger Jahren erreicht haben, eine neue Kultur der Selbständigkeit.
Denn die mittelständischen Unternehmen beschäftigen zwei Drittel aller Arbeitnehmer. Im letzten Jahr entfielen 90 Prozent des Beschäftigungszuwachses auf Wirtschaftszweige mit hohen Selbständigenquoten.
In Deutschland sind 8 Prozent aller Erwerbstätigen selbständig; im Durchschnitt unserer Nachbarn in der EU sind es 11 Prozent. Daran gemessen - das sehe ich als die wichtigste Hausaufgabe für die nächste Zeit an - fehlen uns in Deutschland rund 800 000 Selbständige.
Noch etwas halte ich für ganz wichtig: daß wir im Blick auf vielerlei Entwicklungen der Demographie vor einer großen Übergabewelle im mittelständischen Bereich stehen. In den nächsten fünf bis zehn Jahren werden rund 700 000 Betriebsinhaber im mittelständischen Bereich, darunter 200 000 Handwerker, ihren Betrieb aufgeben oder abgeben, weil sie keine Erben in der eigenen Familie haben. Meine Damen und Herren, es gibt eine totale Veränderung der gesellschaftlichen Struktur, wenn wir dagegen nicht das Notwendige tun. Das ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern nach meiner festen Überzeugung vor allem eine Frage des gesellschaftlichen Klimas in Deutschland.
Wenn, wie Jürgen Rüttgers ausgerechnet hat, rund 40 Prozent der berufstätigen Hochschulabsolventen im öffentlichen Dienst arbeiten, ist das eine Zahl, die absolut außerhalb der normalen Verhältnisse anderer Staaten und Länder liegt. Hier müssen wir, von der Bildungspolitik angefangen und bis in andere Bereiche hinein, vor allem aber durch Umdenken, der Selbständigkeit einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft einräumen.
Meine Damen und Herren, das heißt, daß wir uns alle - ich sage bewußt: alle - auch zu jenen Leistungseliten bekennen, die unsere Demokratie überhaupt erst zukunftsfähig machen. Ich spreche nicht von Eliten nach Geburt. Ich spreche von denen, die auf Grund ihrer eigenen Leistung in der Lage sind, etwas auf die Beine zu stellen,
die in allen Bereichen wirksam sind, nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im Bereich der Kirchen, im Bereich der Parteien, im Bereich der Bürgerinitiativen und Vereine. Wenn sich diese Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 1995 dazu durchringt, daß dieser Bereich mit Vorrang unterstützt wird, werden wir auch auf dem Arbeitsmarkt einen entscheidenden Beitrag leisten können, weil jede Neugründung - das zeigt die Statistik - bis zu vier neue Arbeitsplätze schafft. So muß ein Stück der Zukunft gestaltet werden.
Meine Damen und Herren, auch das möchte ich sagen, denn wir haben ja vor wenigen Wochen über das Thema „Fünf Jahre deutsche Einheit" diskutiert: Es ist fast auf den Tag sechs Jahre her - es war ja am 9. November 1989 -, daß Mauer und Stacheldraht gefallen sind. Natürlich sind die Emotionen dieser gro-
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
ßen Stunden und Tage bereits vergessen oder nur noch in der Erinnerung schwach vorhanden.
Wahr ist, daß in diesen sechs Jahren Gewaltiges geschehen ist. Viele haben damals die deutsche Einheit für eine Illusion gehalten. Es ist mir ja wohl erlaubt, daran zu erinnern, daß ich bei der Vorstellung des Zehn-Punkte-Programms am 29. November 1989 hier im Deutschen Bundestag auf viel Skepsis gestoßen bin. Gelegentlich - Herr Scharping, Sie haben das neulich wieder gesagt - wird die kritische Frage gestellt, warum ich dieses Programm nicht mit den anderen abgestimmt hätte. Wenn Sie es mir nicht glauben, dann lesen Sie bei Jacques Attali nach, wohin ich gekommen wäre, wenn ich damals in der Europäischen Union um Abstimmung nachgesucht hätte.
Wir haben vor vier Wochen gesagt: Die Bilanz nach fünf Jahren deutscher Einheit ist bei alledem, was noch zu tun ist, eindeutig positiv. Wir haben erfahren, daß dieser dramatische Wechsel gerade unseren Landsleuten in den neuen Ländern enorme Opfer abverlangt hat. Wir haben aber auch erfahren - das gehört ebenfalls ins Bild -, daß viele aus der alten Bundesrepublik und nicht zuletzt die Steuerzahler das Ganze mit einem ganz unglaublichen Engagement überhaupt erst möglich gemacht haben.
- Natürlich haben auch Spekulanten profitiert. Sie sind wohl ein solcher Übermensch, daß Sie dramatischste Veränderungen der Geschichte ohne jede Schwierigkeit bewältigen. Sie haben schlicht und einfach keine Ahnung vom Ablauf, wenn Sie solche Zwischenrufe machen.
Ich bin jedenfalls dankbar, daß sich durch die Hilfe vieler in vielen Funktionen und vielen Bereichen das Problem, wie wir mit der Hinterlassenschaft 40jähriger SED-Herrschaft, einer maroden Wirtschaft, einer veralteten Infrastruktur und einer geschundenen Umwelt, fertigwerden sollen, auf einem guten Weg befindet und daß wir Gott sei Dank gut vorangekommen sind.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird auch in den nächsten Jahren das Aufbauwerk Ost weiter unterstützen. Es kann gar keine Rede davon sein, daß jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, die Unterstützung abzubrechen. Die Menschen in den neuen Ländern brauchen unsere Unterstützung. Das ist ein Akt elementarster Solidarität.
Wenn ich dies alles zusammenfasse, so bin ich ganz sicher, daß wir die Herausforderungen, manche mit großen Schwierigkeiten - das sei eingeräumt -, annehmen und meistern können.
Wir werden unseren Beitrag zum Frieden in der Welt leisten. Ich bin dem Kollegen Riedl sehr, sehr dankbar - ich wünsche mir, daß das eine breite Öffentlichkeit findet -, daß er hier heute einmal die Zahlen vorgetragen hat, die zeigen, in welchem Umfang die Bundesrepublik Deutschland bei internationalen Organisationen ihre Pflicht ganz selbstverständlich erfüllt. Wir brauchen uns hier vor niemandem zu verstecken. Wir tun das, was wir für selbstverständlich und richtig halten. Aber man darf doch wenigstens sagen, daß wir es tun, wenn andere, Vergleichbare es nicht tun.
Wir werden ganz gewiß die Herausforderungen, die mit Blick auf das frühere Jugoslawien auf uns zukommen werden, annehmen. Die Herausforderungen werden, wenn es zum Friedensschluß kommt, von dem wir alle hoffen, daß er bald erfolgt, auch in materieller Unterstützung bestehen; das muß jetzt schon klar ausgesprochen werden. Ohne die Hilfe der Bundesrepublik Deutschland, teils direkt, teils über die Europäische Union, wird es dort keinen Aufbau geben.
Wir werden alles tun, um beim Bau des Hauses Europa Vorkämpfer zu sein, ohne daß wir unsere Überlegungen anderen aufzwingen. Wir werden vielmehr für unsere Ideen werben. Die Nachbarn in Mittel-, Ost- und Südosteuropa können sich darauf verlassen, daß die Deutschen ihre Partner und Freunde sind und daß wir unsere besondere historische Pflicht gegenüber Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Polen, um diese Länder einmal vor allem zu nennen, wahrnehmen.
Mit einem Wort, meine Damen und Herren: Bei aller Kritik bin ich froh, daß wir 1995 einmal mehr ein erfolgreiches Jahr hinter uns bringen können. Ich danke allen denen, die dabei geholfen haben.
Eines zu sagen sei mir persönlich noch zum Schluß erlaubt: Diejenigen, die sich weitere Zukunftsgedanken über den Inhaber des Kanzlersitzes machen, können ruhig schlafen. Wir werden unsere Pflicht tun, wie die ganzen Jahre, und es wird gutgehen.