Rede von
Günter
Verheugen
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unsere heutige Debatte wird von dem Mord an dem israelischen Ministerpräsidenten Rabin überschattet. Viele von uns haben Yitzhak Rabin persönlich gekannt und wegen seiner mutigen und konsequenten Politik bewundert.
Es wird heute noch genug Gelegenheit geben, uns zu streiten. Aber ich halte es für notwendig, mit einem Thema zu beginnen, das uns nicht nur im Deutschen Bundestag verbindet, sondern alle Menschen, die für Frieden und Versöhnung eintreten.
Der fanatische Mörder konnte Yitzhak Rabins Leben vernichten, aber nicht sein Lebenswerk.
Daß das wahr bleibt, ist unsere über die Tage der Trauer hinausreichende Verantwortung. Wir müssen deshalb den Friedensprozeß im Nahen Osten auch in der Zukunft mit allen unseren Kräften unterstützen.
Beifall bei der SPD, beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)
Für uns Deutsche geht es dabei um mehr als Hilfe bei der Beilegung eines beliebigen Konflikts. Der Frieden im Nahen Osten wird mehr sein als ein Interessenausgleich zwischen Israelis und Palästinensern. Er ist eine Existenzbedingung für den Staat Israel, und das geht uns Deutsche direkt und unmittelbar an.
Deshalb kann uns der Mord an Ministerpräsident Rabin in unserer Entschlossenheit nur bestärken, die deutsch-israelische Freundschaft als ein besonders kostbares Gut zu pflegen und zu bewahren.
Meine Damen und Herren, schrecklicher Haß, blind wütende Gewalt, entfesselter Fanatismus - das ist eine Realität in dieser Welt. Die Folgen haben wir jetzt in Israel erlebt. Seit Jahren erleben wir sie in unserer Nachbarschaft, im ehemaligen Jugoslawien. Zum erstenmal seit langer Zeit besteht jetzt Hoffnung, daß das Morden, Vertreiben und Plündern ein Ende findet und daß eine tragfähige Friedensregelung gefunden wird.
In dieser Situation sehe ich keinen Sinn darin, noch einmal lange die Frage zu erörtern, wer wann was vielleicht falsch gemacht hat. Jetzt geht es um etwas viel Wichtigeres: Was können wir tun, um dem Frieden auch im ehemaligen Jugoslawien eine Heimat zu geben? Ich hoffe, daß wir vom Bundeskanzler und vom Außenminister dazu heute mehr hören als eine allgemeine Bestätigung der deutschen Verantwortung und konkrete Aussagen vielleicht nur zu einer möglichen Beteiligung am militärischen Teil der Umsetzung eines Friedensplans.
Aus der Sicht der SPD-Bundestagsfraktion kommt es jetzt darauf an, vorausschauende Lösungen zu finden, die nicht nur Bosnien für den Augenblick Frieden bringen, sondern die gesamte Region stabilisieren und keine Konfliktherde übriglassen.
Ich weiß, daß das ein anspruchsvolles Ziel ist. Aber wenn wir es nicht wenigstens ernsthaft versuchen, werden wir mitverantwortlich für neues Blutvergießen und neue Gewalt. Ich unterscheide deshalb zwischen humanitärer Hilfe, Wiederaufbauhilfe für Kriegsgebiete und Aufbauhilfe für die gesamte Region.
Humanitäre Hilfe muß überall dort geleistet werden, wo die Menschen ihrer bedürfen, ganz egal, wer sie sind und wo sie sind.
Für den Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten Gebiete sind zuerst die Konfliktparteien selbst verantwortlich. Wir sollten ihnen großzügig helfen, aber nicht ohne Bedingungen.
Solche sind: demokratische Strukturen, Schutz von Minderheiten, Rüstungsverminderung und Gewaltverzicht.
Die politische und wirtschaftliche Stabilisierung der gesamten Region reicht über das ehemalige Jugoslawien hinaus. Aufbauhilfe für die Region bis hin zur Eröffnung einer realistischen europäischen Perspektive verlangt grenzüberschreitende Kooperation, Vertrauensbildung und Abbau von Spannungsursachen. Wir wissen aus der Zeit der erfolgreichen Entspannungspolitik, daß ein solcher Weg möglich ist. Erfahrungen können genutzt werden. Gerade hier kann der deutsche Beitrag besonders ins Gewicht fallen.
Die deutsche und europäische Politik sollte in dem in Gang gekommenen Friedensprozeß auf Ausgrenzungen verzichten. Wir wollen nicht den einen für gut und den anderen für böse erklären, sondern an einem gemeinsamen Neubeginn aller mitwirken. Dazu gehört auch die Bereitschaft, Serbien-Montenegro wieder einen Platz in der internationalen Gemeinschaft zu geben und entsprechend den Fortschritten des Friedensprozesses auch die Beziehungen zu diesem Land, bei dem ein Schlüssel für den Frieden in der Region liegt, wieder zu entwickeln. Die Zeit kann schnell kommen, wo auch Belgrad die Hand gereicht werden sollte. Es gibt gute Zeichen dafür, daß sie angenommen würde.
Günter Verheugen
Meine Damen und Herren, die Hoffnung auf Frieden im ehemaligen Jugoslawien erspart uns nicht eine bittere Frage: Warum konnte dieser Krieg nicht früher gestoppt werden? Vor allem aber: Was muß geschehen, damit sich eine solche Tragödie nicht wiederholt? Europa - das hat sich gezeigt - hat nicht das Maß an Einheit und den Entwicklungsstand seiner Institutionen, die es wirklich handlungsfähig gemacht hätten. Die Vereinten Nationen sind in ihrer politischen und militärischen Handlungsfähigkeit begrenzt. Dennoch wäre es falsch, das Engagement der Vereinten Nationen als Fehlschlag abzutun.
Hunderttausende Menschen verdanken dem Handeln der Vereinten Nationen ihr Leben. Die Friedensgespräche sind in Gang gekommen, nachdem es unter Führung der USA zu einem massiven militärischen Eingreifen gekommen war. Aber kann und darf das unser einziges Konfliktlösungsmodell sein? Nein. Wenn der Bosnienkonflikt eines deutlich gemacht hat, dann dies: Wir brauchen in Europa und in der Welt starke, handlungsfähige Systeme gemeinsamer Sicherheit, denen die Verantwortung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit obliegt und die sie zuverlässig wahrnehmen.
Davon sind wir weit entfernt. Ich weiß auch nicht, ob es in absehbarer Zeit erreichbar ist. Aber es kann ein großes gemeinsames Ziel der deutschen und der europäischen Außenpolitik sein, solche Systeme zu schaffen. Wir brauchen Instanzen in Europa und in der Welt, die die Legitimation und die Fähigkeit haben, die Ursachen von Spannung und Gewalt vorbeugend zu bekämpfen, Krisen mit politischen Mitteln zu entschärfen und als letzte und äußerste Möglichkeit Verstöße gegen das Gewaltverbot zu ahnden.
Die Satzung der Vereinten Nationen sieht das alles vor. Sie sieht auch Regionalorganisationen vor, die einen Teil ihrer Verantwortung übernehmen können. Für mich beantwortet sich die oft gestellte Frage nach der deutschen Verantwortung in der Welt so: Unser Land sollte mit seinem ganzen Gewicht und mit seinem ganzen Einfluß darauf hinwirken, daß die Vereinten Nationen so handeln können, wie es in ihrer Charta steht, und daß in Europa eine Sicherheitsgemeinschaft entsteht, die die Konfliktbewältigung zur gemeinsamen Aufgabe aller europäischen Staaten macht.
Was ein System kollektiver Sicherheit in seiner Verantwortung tut, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, das muß jedes Mitglied eines solchen Systems im konkreten Einzelfall unterstützen können, wobei Art und Ausmaß der Unterstützung selbstverständlich der Entscheidung in eigener, nationaler Verantwortung überlassen bleiben.
Meine Damen und Herren, die Lösung, die sich für das ehemalige Jugoslawien anbahnt, daß nämlich die NATO in einer noch zu regelnden Verbindung mit anderen Staaten das tut, was eigentlich die UNO oder eine europäische Sicherheitsgemeinschaft tun müßte, ist aus dem Zwang widriger Umstände geboren und kein auf Dauer tragfähiges Modell.
Ich kann Ihnen leicht ein Dutzend Konflikte in der Welt aufzählen, wo es so nicht funktionieren würde. Nicht einmal in Europa könnte es überall so gehen. Die NATO ist für eine solche Aufgabe nicht geschaffen. Sie würde auf Dauer daran zerbrechen. Wohl aber kann die NATO eine wichtige Rolle spielen, wenn es um die Entwicklung eines europäischen Sicherheitssystems geht. Sie würde in einem solchen System nicht überflüssig, sondern könnte es als transatlantische Klammer sinnvoll ergänzen.
Im Augenblick haben wir kein stabiles Sicherheitssystem, das ganz Europa umfaßt. Wir haben nur Bruchstücke. Bis jetzt kann ich nicht erkennen, wie die Bundesregierung aus den vorhandenen Einzelteilen NATO, OSZE, WEU, GASP, Partnerschaft für den Frieden usw. ein sinnvolles Ganzes schaffen will. Da wird an allen möglichen Ecken gewerkelt, aber ein Bauplan ist nicht zu erkennen.
So entsteht dieser Eindruck eines heillosen Gewurstels, eines sich irgendwie Durchmogelns, das so kennzeichnend für die Außenpolitik dieser Regierung ist.
Die verschiedenen Systeme sinnvoll aufeinander zu beziehen, sie anzupassen und zu verändern, wo es nötig ist, damit sie sich zu einem Ganzen fügen, das ist die große außenpolitische Aufgabe von heute.
Für mich ganz und gar unverständlich, werden vor allem die Chancen nicht genutzt, die in einem Ausbau der OSZE liegen. Der OSZE fehlt das völkerrechtliche Fundament. Wir wollen, daß dieses Fundament geschaffen und dann Schritt für Schritt eine europäische Friedensgemeinschaft entwickelt wird.
Die Europäische Union befindet sich in einer schwierigen Phase. Lassen Sie mich zunächst sagen, daß für uns Sozialdemokraten die europäische Einheit die alles entscheidende Konstante der deutschen Politik überhaupt ist.
Daran darf es keinen Zweifel geben. Es ist kein Zweifel an Europa und an unserem festen Willen zur deutschen Integration in Europa, wenn man angesichts der jetzt nahe herangerückten Termine an die Bedingungen der Währungsunion erinnert. Die schrillen Reaktionen aus dem Regierungslager auf die Hinweise des SPD-Vorsitzenden auf die Modalitäten der Währungsunion waren ganz und gar unangebracht.
Günter Verheugen
Daß die Einhaltung der Stabilitätskriterien wichtiger ist als der Zeitplan, haben Sie, Herr Bundeskanzler, als erster gesagt. Das ist längst Allgemeingut in der deutschen Politik. Wir haben 1992 während der Maastricht-Debatte den Parlamentsvorbehalt durchgesetzt.
- Ja, gegen Sie, Herr Waigel. - Wir wollen, daß der Bundestag die Verantwortung dafür übernimmt, daß die gemeinsame europäische Währung keinen Verlust an Währungsstabilität bedeuten wird.
Der CDU-Parteitag war nicht nur wegen der Ref ormen, denen er sich verweigert hat, interessant; er hat in diesem Punkt etwas beschlossen, was hier zitiert werden muß. Ich zitiere den CDU-Parteitagsbeschluß:
Voraussetzung für eine gemeinsame europäische Währung bleibt die dauerhafte Erfüllung der strengen Stabilitätskriterien des Maastrichter Vertrages. Die Sicherung einer dauerhaft integrierten Wirtschafts- und Finanzpolitik der Mitgliedstaaten im europäischen Währungsgebiet ist Voraussetzung für eine funktionierende Währungsunion.
Wenn diese Worte einen Sinn haben, dann bedeuten sie, daß Maastricht nachgebessert werden muß; denn so steht es nicht im Vertrag.
Wir haben seinerzeit kritisiert, daß das nicht im Vertrag steht.
- Auf diesen Zwischenruf, Herr Irmer, habe ich gewartet. Ich habe genau hier hingeschrieben: „Zwischenruf Irmer: Warum haben Sie zugestimmt?".
Herr Irmer, wie sähe Europa heute aus, wenn der von dieser Regierung ausgehandelte und unterschriebene Vertrag an Deutschland und in Deutschland an der SPD gescheitert wäre? Das ist der Grund gewesen: Aus staatspolitischer Verantwortung haben wir diesem Vertrag zugestimmt.
- Da lachen Sie. Ihre Regierung, Herr Bundeskanzler, war damals nicht einmal in der Lage, die verfassungsmäßigen Voraussetzungen für die Ratifizierung des Vertrags zu schaffen. Diese Arbeit haben wir für Sie gemacht.
Aber jetzt will ich etwas von Ihnen wissen, Herr Bundeskanzler und CDU-Vorsitzender: Wann und wie wollen Sie diese Forderung Ihres Parteitages unseren Partnern in der Europäischen Union präsentieren? Soll das Gegenstand der Regierungskonferenz werden? Ich würde es begrüßen. Aber was machen Sie, wenn Sie diese Nachbesserung nicht erreichen? Kommt dann die Währungsunion nicht? Sie haben den Vertrag abgeschlossen. Jetzt wollen Sie ihn anders.
Ich könnte jetzt etwas zu Populismus und D-MarkNationalismus anmerken, aber ich unterlasse das, weil die Frage zu ernst ist und weil diese Debatte endlich in und mit der deutschen Öffentlichkeit geführt werden muß. Wo denn sonst, wenn nicht hier?
Unsere Aufgabe ist es, die Deutschen davon zu überzeugen, daß die Währungsunion kommen muß, wenn die Bedingungen stimmen. Ich glaube nicht, daß die Deutschen davon schon überzeugt sind.
Lassen Sie mich zum Schluß noch eines sagen: Natürlich muß die Europapolitik Gegenstand der Debatte in Deutschland sein. Wir haben sie nicht zu oft, sondern zu selten geführt.
Europa braucht Europäer, und die gewinnt man durch Überzeugungsarbeit und nicht durch Gezerre hinter verschlossenen Türen.
Zur Diskussion steht heute die Gesamtpolitik der Bundesregierung. Wenn man Ihnen, Herr Bundeskanzler, außen- und sicherheitspolitisch noch zugute halten kann, daß es eine Reihe von großen Fragen gibt, auf die noch niemand eine endgültige Antwort hat, und selbst Sie eine neue Weltordnung nicht im Alleingang schaffen können,
so sieht Ihre innenpolitische Bilanz heute schlimmer aus denn je. Das kann man nach 13 Jahren Regierung Kohl mit Bestimmtheit sagen:
Ihre Politik hinterläßt tiefe Spuren der Beschädigung
in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen. Nach Ihnen wird einer lange Zeit schwer aufräumen müssen.
In der alles entscheidenden Frage der Beschäftigungspolitik sind Sie ein Kanzler der Untätigkeit.
Die Wurzel fast allen nationalen Übels bei uns ist die zu hohe Arbeitslosigkeit. Die jüngsten Zahlen von Ende Oktober zeigen: Die Arbeitslosigkeit liegt, mit steigender Tendenz, über der des Vorjahres. Sie kostet jetzt 130 Milliarden DM im Jahr. Das Hauptziel
Günter Verheugen
der Regierungspolitik müßte sein: Arbeitsplätze, Arbeitsplätze und noch einmal Arbeitsplätze.
Aber Sie überlassen das Problem dem Selbstlauf der Wirtschaft. Die ist an ihren Kosten und Erträgen interessiert. Ich stelle das nur fest; das ist ja nun einmal so. Für eine aktive Beschäftigungspolitik zu sorgen wäre Ihre Aufgabe.
Ungenutzte Möglichkeiten gibt es zuhauf: regionale Strukturpolitik, mehr Forschung, mehr Qualifizierung, ökologischer Umbau. Das alles könnten Sie tun oder wenigstens fördern. Statt dessen kommen Sie uns mit dem Ladenschluß, der - so wie Sie es jetzt angelegt haben - beschäftigungspolitisch zu nichts anderem führen wird als einer uferlosen Vermehrung der 580-Mark-Jobs zu Lasten ordentlicher Teilzeitarbeitsverhältnisse.
Viel redet diese Regierung von der Globalisierung der Märkte und der damit verbundenen Risiken. Dagegen müßten Sie auf die Innovationsfähigkeit unserer Volkswirtschaft setzen, auf das Potential unserer Wissenschaftler und Techniker. Aber hier sind Sie ein Kanzler des Stillstands, der in sich ruht wie ein chinesischer Buddha.
- Es gefällt Ihnen?
Deutschland fällt als Forschungsstandort zurück. Sie haben Kapazitäten zerstört, statt neue zu entwikkeln. In unserem Land stecken große Kräfte. Aber Sie bringen es nicht fertig, sie freizusetzen.