Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Gerhardt, auch ich fürchte, das wird eine Schlüsselentscheidung des Parlaments sein. Wir können uns an andere, ähnliche Schlüsselentscheidungen erinnern, z. B. an die Bewilligung der Kriegskredite 1914. Hoffentlich wird diese Schlüsselentscheidung nicht solche Folgen haben.
Die große Mehrheit dieses Hauses feiert heute den 40. Jahrestag der Gründung der Bundeswehr. Aber ich und die Fraktion, für die ich hier spreche, können sich diesen Festreden nicht anschließen.
- Ja, keine Fraktion, ich weiß. Für mich sind wir eine Fraktion. Ihre Geschäftsordnungstricks, die uns benachteiligen, interessieren mich nicht.
Fast 90 % der heutigen Mitglieder des Hauses waren damals, als die Wiederbewaffnung Deutschlands beschlossen wurde, höchstens Teenager oder noch jünger. Sie sind alle - ob sie nun in der Bundesrepublik oder in der DDR erwachsen geworden sind - in einem politischen Umfeld, in einem politischen Klima herangereift, das vom kalten Krieg geprägt war, von der Vorstellung, daß die militärische Auseinandersetzung mit der Sowjetunion unvermeidlich oder doch nur durch die Politik der militärischen Stärke zu verhindern sei. Aber sie sind meistens nicht genug herangereift, um dieses Geschichtsbild einmal zu hinterfragen.
Ich will gar nicht bestreiten, daß die Sowjetunion mit ihrer Politik nach dem Sieg über Hitler-Deutschland viel Anlaß geliefert hatte, diese Einschätzung der Lage in Europa mit anscheinend unwiderleglichen Argumenten zu untermauern. Wer wie ich damals und noch heute die Lage anders einschätzte, galt bestenfalls als nützlicher Idiot, wenn nicht gar als Schlimmeres. Aber ich habe sie anders eingeschätzt, nicht weil ich gegenüber der Sowjetunion
Heinrich Graf von Einsiedel
blauäugig gewesen wäre, sondern weil ich sie besser kannte.
Die Unterwerfung der durch die Rote Armee unter ungeheuren Blutopfern auf beiden Seiten von der Hitler-Wehrmacht befreiten Länder zu Satellitenstaaten der Sowjetunion war aus der Angst geboren, aus einem tiefsitzenden Unterlegenheitsgefühl, aus dem Schock, daß der Vernichtungsfeldzug der Wehrmacht gegen die Sowjetunion um ein Haar, wie Stalin selber eingeräumt hat, erfolgreich gewesen wäre. Diese Satellitenstaaten sollten ein Glacis für die Festung Sowjetunion bilden, ein Vorfeld ihrer Verteidigung, keine Absprungbasis für weitere Aggressionen.
Die Drohung, Westdeutschland, die Bundesrepublik, wiederzubewaffnen hatte zunächst Erfolg: Stalin lenkte ein. Er bot einen Friedensvertrag mit Deutschland an, die Wiedervereinigung unter der Bedingung, daß das wiedervereinigte Deutschland sich keinem gegen die Sowjetunion gerichteten Militärpakt anschließen dürfe und die Oder-Neiße-Linie anerkennen müsse. Dieses Angebot kam sicher sehr spät. Aber war der Westen nicht sowieso längst entschlossen, den kalten Krieg zu führen und die Sowjetunion so lange unter militärischen Druck zu setzen, bis sie aufgab? Wie dem auch gewesen sein mag: Daß dieses Angebot der Sowjetunion nicht einmal in Verhandlungen auf seine Stichhaltigkeit hin überprüft worden ist, halte ich für einen unverzeihlichen, schlimmen Fehler der Außenpolitik Adenauers.
Wir haben damals ohne Not die Menschen in der DDR im Regen stehenlassen, und wir haben sie die Hauptlast dieses Krieges, nämlich die Reparationen an die Sowjetunion, zahlen lassen. Für mich waren die Bedingungen dieses Angebots annehmbar. Es hätte uns 40 Jahre Spaltung, 40 Jahre kalten Krieg und vielleicht 2 Billionen DM Rüstungskosten ersparen können. Wir hätten dabei sogar eine Bundeswehr zur eigenen Verteidigung haben dürfen, nicht zur Vorwärtsverteidigung, wie man die Angriffsfähigkeit der Bundeswehr umschreibt, und auch ohne weltweit einsatzfähige Krisenreaktionskräfte, wie man sie jetzt aufbauen will. Aber das wäre ja schon mehr als genug gewesen, jedenfalls für mich.
Ich weiß, Sie sind davon überzeugt: Dieses Angebot war nur ein taktisches Manöver, nur ein Trick. Aber, meine Damen und Herren, die Viererbande, wie sie in der Sowjetunion genannt wurde, die bereit war, die DDR gegen die militärpolische Neutralisierung Deutschlands aufzugeben, hat es doch gegeben. Semjonow hat mir das drei Wochen vor seinem Tode in einem Gespräch noch einmal ausdrücklich bestätigt. Er war nicht wenig stolz darauf, im letzten Moment nach Stalins Tod und vor Berijas Liquidierung von diesem Zug abgesprungen zu sein.
In einer Beziehung allerdings kam das Angebot Stalins zu früh, weil niemand im Westen Deutschlands es im Unterschied zum Osten wagen durfte, die Oder-Neiße-Linie anzuerkennen, ohne als Vaterlandsverräter zu gelten. Ich möchte es hier gleich sagen: Die größte politische Leistung, die das deutsche
Volk nach dem Zweiten Weltkrieg vollbracht hat, ist nicht der Entschluß zur Wiederbewaffnung, sondern die Anerkennung dieser Grenze, das Sich-Abfinden mit der massenhaften Vertreibung,
die, selbst wenn man sie als Strafe für die schrecklichen Verbrechen Hitler-Deutschlands ansieht, eine nur sehr schwer zu verkraftende Verletzung der Psyche von Millionen Menschen war. Aber das hat eben Generationen gedauert.
Deshalb kann ich nicht Ihren Optimismus teilen, der möglicherweise bevorstehende, mit Waffengewalt erzwungene Frieden in Ex-Jugoslawien werde bereits in einem Jahr unumkehrbar sein. Die schrecklichen ethnischen Säuberungen in Jugoslawien, die mit deutscher und NATO-Hilfe dort jetzt festgeschrieben werden sollen, werden sich als schwere Hypothek für einen dauerhaften Frieden erweisen.
Doch zurück zur Bundeswehr. In Ihren Augen war die Wiederbewaffnung die Grundlage des Friedens in den letzten 40 Jahren. Woher Sie aber wissen wollen, ohne diese Wiederbewaffnung hätte es Krieg in Europa gegeben, bleibt Ihr Geheimnis.
In meinen Augen war der Entschluß zur Wiederbewaffnung eine höchst risikovolle Provokation der Sowjetunion. Sie war nämlich das einzige Motiv, das die Sowjetunion für eine Aggression gegen Westeuropa hätte haben können, zumal die Wiederbewaffnung von recht aggressiven Attitüden begleitet war.
Erinnern Sie sich nicht mehr an die Sprüche vom Rollback der Sowjetunion bis an den Ural aus Ihren Reihen, an die Plakate der F.D.P. „Niemals Deutschland dreigeteilt", an all die großen Kundgebungen der Vertriebenenverbände, auf denen die Redner der beiden großen Parteien dem deutschen Volk versprachen, daß Wroclaw wieder Breslau heißen werde, daß Pommern, Schlesien und Ostpreußen wieder deutsch sein würden?
Unter diesen Umständen sollten die Polen und die Sowjetunion keinen Grund zu der Befürchtung haben, die Deutschen könnten doch noch einmal zur Revanche antreten? Das konnten doch nur die glauben, die vollkommen verdrängt hatten, was die Wehrmacht und die SS im Osten angerichtet hatten. Statt so stolz auf die Wiederbewaffnung zu sein, sollten Sie lieber wie der Reiter über den Bodensee zurückschauen.
Glauben Sie etwa, es war ein Zufall, daß der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie in Polen als erster Schritt die Gründung der Solidarność auf dem Fuße folgte, nämlich als die Polen nicht mehr das Gefühl hatten, sie müßten sich fest an die Sowjetunion anklammern, um diese Grenze zu sichern?
Auch bitte ich Sie, einmal darüber nachzudenken, ob die Wiederbewaffnung Deutschlands nicht eine sehr entscheidende Ursache für das Ausbleiben jeder
Heinrich Graf von Einsiedel
tieferen Reform oder Perestroika nach Stalins Tod in der Sowjetunion gewesen ist. Unter dem militärischen Druck von außen und der Bedrohung, unter der sich die Menschen dort genauso wie im Westen fühlten, war es eben für die Machthaber dort nicht leicht - jedenfalls haben sie es nicht gewagt -, Reformen einzuleiten, die zunächst immer auch eine Schwächung der zu reformierenden Strukturen darstellen.
Sie sind übrigens auf dem besten Weg, diesen Fehler jetzt zu wiederholen, nämlich mit der NATO-Erweiterung, mit dem militärischen Druck, den Sie jetzt wieder auf Rußland, das sich in einem allerschwierigsten Reformprozeß befindet, ausüben.
Sie machen sich offenbar nicht die Mühe, oder Sie sind unfähig, sich einmal in die Schuhe des vermeintlichen Gegners zu stellen. Rußland ist heute als Großmacht in Europa um Jahrhunderte, fast in die Zeit vor Peter dem Großen zurückgeworfen. Die Russen haben große Teile ihres in Jahrhunderten gewachsenen Imperiums aufgegeben. Was für Demutsgebärden erwarten Sie eigentlich noch? Sollen sie den Kreml an Walt Disney verkaufen, um die Unterwerfung komplett zu machen?
Ihre Außenpolitik ist leider viel zu stark vom Denken in militärischen statt in politischen Kategorien befangen.
Noch eine Bemerkung kann ich Ihnen nicht ersparen. Nicht nur die Sieger über Hitler, sondern auch viele Menschen meiner Generation waren aus der schrecklichen Erfahrung, die wir mit unseren Generälen gemacht haben, 1945 der tiefen Überzeugung, wir Deutschen dürften so bald nicht wieder Waffen in die Hand nehmen - das war auch das Ziel des Krieges gegen Hitler-Deutschland -, schon gar nicht unter deni Befehl von Männern, die sich durch den erneuten Ruf zu den Waffen mit dem alten Feindbild Sowjetunion nachträglich noch in ihrem bedingungslosen Gehorsam gegenüber Hitler und seiner verbrecherischen Kriegsführung weitgehend gerechtfertigt und entschuldigt wähnten. In einer Zeit, als noch jeder Widerstand gegen Hitler, nämlich in den 50er Jahren, nicht nur der kommunistische, sondern selbst der der Verschwörer vom 20. Juli, auf die Herr Bundeskanzler Dr. Kohl abgehoben hat, als Verrat angesehen wurde, wo der militärische Gehorsam noch vielen als die höchste Tugend galt, gleichgültig, wem er geleistet wurde, war es ein schwerer Rückschlag für die geistige Gesundung dieses Volkes, seine Söhne wieder in Uniform zu stecken.
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und nach dem Wegfall des vermeintlichen Grundes für die Wiederbewaffnung die nächste Enttäuschung: zunächst Abrüstung, jetzt aber schon wieder verstärkte Rüstung, statt militärischer Zurückhaltung Einsatz der Bundeswehr außerhalb des Bündnisgebiets, statt Verbot des Rüstungsexports seine ständige Steigerung. Und dann das wilhelminische Primborium des Großen Zapfenstreichs mit denselben
Fackeln, die am 30. Januar 1933 unter dem Brandenburger Tor getragen worden sind.
Wir sagen nein dazu. Stoppen Sie die Militarisierung der Gesellschaft! Lassen Sie uns umkehren in Richtung konsequenter Entmilitarisierung!
Danke sehr.