Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was sich derzeit in der regierungsamtlichen Gesundheitspolitik abspielt, ist nicht nur ein Trauerspiel, sondern auch ein Zeugnis politischer Verantwortungslosigkeit. Wer heute die Zeitungen aufschlägt und die dramatischen Prognosen des Gesundheitsministers zur Kostenentwicklung in der Krankenversicherung 1996 zur Kenntnis nimmt und sie zu dem in Bezug setzt, was uns hier von seiten der Regierung als Bruchteil eines Lösungsvorschlages präsentiert wird, der kommt nicht umhin, die Regierungsmitglieder an ihren Amtseid zu erinnern, meine Damen und Herren.
Da ist nämlich, Herr Lohmann, von der Verpflichtung die Rede, Schaden abzuwenden. Ich frage die Regierung, ich frage die Mitglieder der Koalitionsfraktionen, ob sie sich dieser Verpflichtung bewußt sind. Denn Konsequenzen daraus haben Sie für jeden erkennbar bis heute nicht gezogen.
CDU/CSU und F.D.P. haben einen Regierungsauftrag. Statt ihm gerecht zu werden, langweilen sie die Menschen mit wechselseitigen Schuldzuweisungen über gescheiterte Versuche, sich in der Koalition zu einigen. Kommen Sie Ihrem Verfassungsauftrag nach und handeln Sie endlich! Das ist das Entscheidende, Herr Lohmann.
Der gesetzlichen Krankenversicherung droht 1996 ein Defizit in beinahe zweistelliger Milliardenhöhe. Den Beitragszahlern, also den Versicherten, und den Unternehmen, drohen Beitragserhöhungen, die sich nach den Prognosen des Bundesgesundheitsministers bis auf einen vollen Prozentpunkt belaufen können.
Was tut die Koalition angesichts dieser bedrohlichen Lage? Nichts. Soll das etwa die Offensive der Bundesregierung zur Senkung von Lohnnebenkosten sein, Herr Seehofer?
Was uns die Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. heute präsentiert und was sie uns in den vergangenen Wochen bereits präsentiert hat, ist nicht nur inhaltlich widersprüchlich. Es ist gesundheitspolitisch konturlos, schlicht und einfach strukturpolitisches Pipifax.
Heute beraten wir über einen Gesetzentwurf, in dem den Krankenkassen für die nächste Zeit 400 Millionen DM Krankenhausausgaben pro Jahr erspart werden sollen. Letzte Woche haben wir über einen Gesetzentwurf beraten, der den gleichen Krankenkassen 840 Millionen DM zusätzliche Ausgaben für Ärzte aufladen soll. Beide Gesetzentwürfe kommen von der gleichen Regierung. Sie kommen sogar aus dem gleichen Ministerium. Dieses Ministerium nennt ein solches Treiben nicht nur Gesundheitspolitik, sondern es hält es auch dafür, und zwar ernsthaft.
Bremsen und Gasgeben zur gleichen Zeit, wer das macht, der kommt ins Schleudern. Ich stelle fest, Herr Seehofer: Seit geraumer Zeit schleudern Sie ganz erheblich.
Was den heute zur ersten Lesung anstehenden Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. angeht, so will ich die Koalition nicht im Zweifel darüber lassen, wie sich die SPD-Bundestagsfraktion dazu verhalten wird.
Den werden wir ablehnen, Herr Lohmann. Für die SPD-geführten Länder und ihr Abstimmungsverhalten im Bundesrat kann ich hier nicht sprechen.
Diese werden selbst zu entscheiden haben, ob sie ihre Haushalte mit weiteren 400 Millionen DM belasten können. Diese Entscheidung, Herr Lohmann, werden Sie in Ruhe abwarten.
Die drohende Beitragslawine in der GKV hat Ursachen, Ursachen, die mit dem Namen Seehofer und mit verfehlten oder unterlassenen gesundheitspolitischen Entscheidungen dieser Koalition unmittelbar zu tun haben.
1992 haben Regierung und SPD-Opposition im Gesundheitsstrukturgesetz gemeinsam vereinbart, die als Budgetierung bezeichnete Phase der reinen Kostendämpfung dazu zu nutzen, die Strukturreform unseres Gesundheitswesens voranzutreiben und vor allen Dingen umzusetzen. Diese Strukturreform sollte greifen, wenn die Budgetierungsphase am Ende des Jahres 1995 ausläuft. Auf diese Weise sollte ein beitragsträchtiger Ausgabenschub der Krankenkassen verhindert werden, wenn die Leistungsträger im Gesundheitswesen ihren vermeintlichen Einkommensnachholbedarf zu verwirklichen trachten.
In Wirklichkeit aber ist wenig geschehen, die Strukturreformelemente, die das Gesetz enthält, umzusetzen. Im Gegenteil, CDU/CSU und F.D.P. haben diese Elemente nicht nur weitgehend mißachtet, sie haben sie zum Teil in ihr Gegenteil verkehrt, Das Gesetzesvorhaben, mit dem die Liste verordnungsfähiger Arzneimittel wieder aus dem Gesetz entfernt werden sollte, stellt dies schlagkräftig unter Beweis.
Die absehbare neue Kostenwelle im Gesundheitswesen hat also ihre Ursache weniger in unbotmäßigen oder geldgierigen Leistungserbringern. Sie geht vielmehr direkt auf das Konto dieser Bundesregierung, ihrer Unentschlossenheit, ja, ihrer Handlungsunfähigkeit. Wer in einer Zeit, in der diese Regierung Fünfmarkscheine von den Ärmsten der Armen einsammelt, die gesetzlich bestehende Möglichkeit eines gesundheitspolitischen, arzneimittelmarktpolitischen Qualitätssprungs von 6 bis 7 Milliarden DM
Rudolf Dreßler
aus dem Gesetz tilgt, um gewissen Anbietern gefällig zu sein, Herr Thomae,
der ist unverantwortlich, was die gesundheitspolitische Situation dieses Landes betrifft.
Die Koalitionsparteien CDU, CSU und F.D.P. können der deutschen Öffentlichkeit keine Antwort geben, wie sie zu erwartende Kostenprobleme im Gesundheitswesen, die sie selbst heraufbeschworen haben, bewältigen wollen. Seit Wochen bieten Sie das Bild tiefer innerer Zerstrittenheit.
Ich darf Ihnen empfehlen - Sie sind wohl gestern aus Uganda zurückgekommen -, die deutschen Zeitungen der letzten 14 Tage, bezogen auf diesen Sachverhalt, zu studieren.
Kaum macht die CDU/CSU einen Vorschlag, lehnt ihn die F.D.P.-Fraktion ab, und das gleiche gilt auch umgekehrt. Man ist mittlerweile noch nicht einmal in der Lage, über einen Versuch zu einem gemeinsamen Konzept zu kommen, miteinander zu reden. Vor wenigen Tagen war eine auf vier Tage terminierte Koalitionsrunde dazu in Bad Neuenahr nach fünf Stunden zu Ende, schlicht geplatzt. Das zeigt: Diese Koalition ist nicht nur handlungsunfähig, sie ist sogar gesprächsunfähig.
Dabei ist doch eines klar: Um einen neuen Kostenschub in allerletzter Minute zu verhindern, gibt es nur eine Möglichkeit: Die Ende des Jahres auslaufende gesetzliche Ausgabenbegrenzung, das Budget, muß um ein weiteres Jahr verlängert werden. Die SPD will das, der CDU-Teil der Koalition will das auch. Die F.D.P. hingegen spuckt Gift und Galle, hat aber keine wirkliche Alternative.
Nun frage ich die Koalition: Woher nehmen Sie eigentlich das Recht, die Folgen ihrer politischen Unfähigkeit, sich zu einigen, den beitragzahlenden Versicherten und den Unternehmen in Deutschland aufzuladen?
Zweitens frage ich die F.D.P.: Woher nehmen Sie eigentlich die politische Legitimation, der erdrückenden Mehrheit dieses Parlaments ihren partikularen Willen aufzuzwingen? Herr Thomae, auch die F.D.P. ist dem Wohle aller verpflichtet und nicht einem klientelistischen Selbstverständnis.
Nun hat der Bundesgesundheitsminister vor einiger Zeit eine geradezu glorreiche Idee geboren, um die gegenseitige Blockade der Koalition in Sachen Ausgabenbudgetierung zu überwinden. Er will den Beitragssatz der Krankenversicherung ganz oder teilweise gesetzlich festschreiben. Das ist schon genial. Den Krankenkassen laufen die Ausgaben davon, und der Gesundheitsminister hält zu deren Rettung Einnahmen fest. Wirklich, das ist von beeindruckender Logik. Wenn es dafür einen Nobelpreis gäbe: Herr Seehofer hätte ihn sicherlich verdient.
Um nun die Qualität der Regierungsarbeit angemessen zu würdigen, kann man diesen Vorschlag auch anders beleuchten. Wenn Herr Seehofer dem Koalitionspartner versichert, es werde keine Verlängerung der Budgetierung geben, ihm als Alternative vorschlägt, die Beitragssätze festzuschreiben, und ihm anschließend einredet, damit sei die Budgetierung dann endgültig vom Tisch, und wenn der Koalitionspartner das auch wirklich glaubt, dann bringt mich das zu dem Schluß: In dieser Koalition sitzen Partner, die sich gegenseitig auch wirklich verdient haben.
Muß man denn wirklich daran erinnern, daß auch eine Festschreibung der Beitragssätze eine Budgetierung ist? Sie ist nur keine Budgetierung der Ausgaben, sondern eine der Einnahmen. Damit dies klar ist, Herr Seehofer: Dies ist mit der SPD-Bundestagsfraktion nicht zu machen. Denn es ist doch mit den Händen zu greifen, was geschieht, wenn bei festgeschriebenen oder eingefrorenen Einnahmen die Ausgaben davonlaufen. Es gäbe dann für die Krankenkassen oder den Gesetzgeber nur eine Möglichkeit, die Bilanz wieder ins Lot zu bringen: indem die Kosten durch Leistungskürzungen bei den Versicherten gesenkt werden.
Hinter der Parole des Gesundheitsministers vom Einfrieren der Beitragssätze steht in Wahrheit etwas anderes. Er will den Patienten die notwendigen Leistungen zuammenstreichen. Herr Seehofer will sich als Leistungsklau üben. Damit auch das wirklich klar ist, Herr Seehofer: Auch das läuft nicht mit der SPD-Bundestagsfraktion.
Da hilft auch die neueste Variante nichts, nach der nur der Arbeitgeberanteil eingefroren werden soll. Denn das bedeutet ja wohl, daß die aktuelle wie zukünftige Kostendynamik des Gesundheitswesens allein den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aufgeladen werden soll. Auch für den, der den Ausstieg der Arbeitgeber aus der paritätischen Finanzierung unserer Sozialversicherung proben will, gibt es nur eine Antwort: Nicht mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Ich kann den Mitgliedern der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. nur eindringlich die Lektüre eines Briefes empfehlen, den die Bundesjustizministerin zu diesem Thema an den Vorsitzenden des Gesundheitsausschusses, Herrn Kollegen Thomae, geschrieben hat. Darin erläutert sie ihm nämlich die
Rudolf Dreßler
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Kriterien der Sozialversicherung. Eine Sozialversicherung, so stellt Frau Leutheusser-Schnarrenberger fest, bedinge nach Karlsruher Auffassung immer einen bedeutenden Finanzierungsanteil der Arbeitgeber. Bei festgeschriebenen Arbeitgeberbeiträgen und floatendem Arbeitnehmerbeitrag sei diese Bedingung aber nicht mehr erfüllt.
Da hat sie wohl recht, die Bundesjustizministerin. Ich frage die Koalition: Wollen Sie wirklich die Krankenversicherung als Sozialversicherung abschaffen?
Nun gibt es unter den Gesundheitsexperten der Koalition einen besonderen, gleichsam berufsmäßig pfiffigen Fall: den Kollegen Möllemann, den Liebling von Herrn Seehofer.
Er hat die ganze Diskussion um Beiträge mit dem Vorschlag bereichert, die Arbeitgeberbeiträge sollten den Arbeitnehmern ausgezahlt werden, damit die Arbeitnehmer zukünftig alles alleine bezahlen.
Daß das mit der SPD nicht zu machen sein wird, erwähne ich hier fast nur am Rande; denn ich will zuallererst auf die Konsequenzen hinweisen. Um das zu realisieren, wäre nämlich folgendes erforderlich: Der Deutsche Bundestag müßte in einem Gesetz beschließen, daß die Beiträge zur Krankenversicherung von den Arbeitnehmern alleine getragen werden, und der Deutsche Bundestag müßte beschließen, daß die Arbeitgeber die Löhne und Gehälter der Beschäftigten um einen bestimmten Prozentsatz zu erhöhen hätten.
Um den Unsinn, der dahintersteckt, noch deutlicher zu machen, brauche ich noch nicht einmal das schwere Geschütz der Tarifautonomie zu bemühen. Ich habe nur die schlichte Frage an Herrn Möllemann in seiner Abwesenheit - wenn sein Lieblingsthema hier diskutiert wird, braucht er ja nicht dazu- sein -, ob - und wenn ja: wann? - mir entgangen sein könnte, Herr Thomae - die F.D.P. trägt ja diesen Quatsch -, daß die rechtliche Kompetenz zur Festlegung von Löhnen und Gehältern vom Arbeitgeber oder den Tarifvertragsparteien auf den Deutschen Bundestag übergegangen ist.
Hat das Parlament eine Gesetzgebungskompetenz,
Löhne und Gehälter zu erhöhen, Herr Thomae? Ich
bitte um Aufklärung noch in dieser Debatte. Sie kennen die Antwort wie ich: Natürlich hat der Bundestag diese Kompetenz nicht.
Wissen Sie, wenn diesen Vorschlag ein Repräsentant der Gruppe PDS gemacht hätte, dann hätte diese Koalition gesagt: Typisch, sie stehen nicht mehr auf dem Boden der Verfassung und der freiheitlichdemokratischen Grundordnung.
Aber das, was sie untereinander treiben, nennen sie noch Regierungskunst. Ich sage Ihnen, das ist ein erbärmliches Schauspiel, wie Sie mit dem Standort Deutschland auf diese Art und Weise umgehen.
Ich habe zur Gesamtproblematik der Beitragsgestaltung oder Beitragsaufteilung angesichts der aktuellen Situation eigentlich nur eine Frage an CDU/ CSU und F.D.P.: Was hat das mit den Strukturproblemen im Gesundheitswesen oder in der Krankenversicherung zu tun? Hören Sie endlich auf, an Beitragssystematik und -gestaltung herumzumanipulieren! Beschäftigen Sie sich endlich mit den Problemen der Gesundheitsversorgung der Menschen! Diese Probleme müssen gelöst werden. Keine Pille wird um einen Pfennig billiger, kein überflüssiges Krankenhausbett abgebaut und kein Hausarzt vernünftiger bezahlt, nur weil diese Koalition die Beitragslastverteilung verändern will. Kein Problem wird gelöst. Die Wahrheit ist: Hier geht es um die schleichende Aushöhlung des sozialen Charakters unserer Krankenversicherung.
Nun hat Herr Seehofer mehrfach gesagt, er wolle über die Gesamtproblematik mit allen Beteiligten, auch mit der SPD-Opposition, reden. Das hat sein Kollege Blüm in Sachen Pflegeversicherung auch immer gesagt und wohl auch gewollt. Nur durfte er dann selten bis nie. Herr Seehofer, seit Januar dieses Jahres wissen Sie, weiß der Deutsche Bundestag, daß die SPD um der Sache willen gesprächsbereit ist. Aber ich frage Sie: Dürfen Sie mit uns sprechen? Hat Ihnen die F.D.P. das bis heute schon erlaubt? Ich weiß, daß die F.D.P. unter einem Lahnstein-Trauma leidet; denn bei den Lahnsteiner Vereinbarungen zum Gesundheitsstrukturgesetz hat sich die F.D.P. als das herausgestellt, was sie tatsächlich ist: zur Lösung der Probleme unfähig und deshalb in der Tat überflüssig.
Ich könnte das auch, Herr Thomae, mit den Worten des Gesundheitsministers ausdrücken. Dieser hat nämlich ausweislich der Deutschen Presseagentur vorgestern abend gesagt:
Nur weil man keine Wähler hat, hat man nicht das Recht, den Sozialstaat abzuschaffen.
Rudolf Dreßler
In diesem Falle, Herr Seehofer, haben Sie ausdrücklich recht.