Rede von
Wolfgang
Bierstedt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(PDS)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (PDS)
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Fischer! Herr Minister Rüttgers, Sie haben - ich glaube, es war am 7. September dieses Jahres - hier im Hause im Rahmen der Haushaltsberatungen erklärt, daß Sie einer Enquete-Kommission eigentlich ablehnend gegenüberstünden. Ich glaube, Sie haben das in der Antwort auf eine Frage von Herrn Glotz gesagt. Heute haben Sie unabhängig von dem Inhalt für die Bundesregierung zumindest signalisiert, daß Sie an der Einsetzung einer Enquete-Kommission interessiert sind und daß Sie sich einbringen werden. Ich finde das zumindest vom Sinneswandel her außerordentlich beachtlich.
Dem Bundestag liegen neben dem Antrag der Koalition zwei weitere inhaltlich ähnliche Anträge vor: zum einen der gemeinsame Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und zum anderen der Antrag der PDS auf Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission „Demokratische und soziale Antworten auf die Herausforderungen der neuen Informationstechnologien".
Wolfgang Bierstedt
Die Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN haben in ihrem gemeinsamen Antrag als Ziel dieser Kommission formuliert:
... die künftige Entwicklung der elektronischen Medien und Informationstechnologien in Deutschland abschätzen und die Auswirkungen der neuen Medien auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt sowie auf Gesellschaft und Umwelt, Bildung und Kultur, Politik und Demokratie beurteilen.
Sie soll weiter die sich ergebenden politischen Konsequenzen darstellen und parlamentarische Initiativen vorschlagen.
Dieses Ziel kann die PDS voll mittragen - ob Ihnen das nun gefällt oder nicht, das müssen Sie persönlich entscheiden -, da mit dem Einsatz der neuen Informationstechnologien wohl alle Bereiche dieser Gesellschaft betroffen sein werden. Uns erscheint aber sowohl die Zusammensetzung als auch die vorgesehene Anzahl der Mitglieder der Kommission der gewählten Zielstellung nicht angemessen. Für meine Gruppe ist es schon verwunderlich, daß in dieser Kommission die PDS nur mit einer beratenden Stimme vertreten sein soll. Einen Sachverständigen billigt man der PDS schon gar nicht zu. Im Gegensatz dazu ist im Antrag der Koalition der PDS ein Sachverständiger zugesagt worden. Ich weiß nicht, ob Ihnen da ein Lapsus unterlaufen ist. Aber ich finde es zumindest ganz angenehm.
Über das allgemeine Demokratieverständnis, das in diesen Anträgen zum Ausdruck kommt, kann die PDS eigentlich immer nur wieder ihre Verwunderung zum Ausdruck bringen und natürlich erforderliche rechtliche Schritte einleiten oder bei Wahlen, wie jetzt in Berlin geschehen, ganz einfach an Prozenten zulegen.
Um diese für mich unverständliche Ausgrenzung zu vermeiden, hat die PDS zu dem wichtigen und brisanten Thema Multimedia einen eigenen Antrag eingebracht. Dabei geht es uns nicht so sehr um inhaltliche Alternativen zu dem gemeinsamen Antrag der beiden anderen Oppositionsparteien - die inhaltliche Zielstellung kann auch von der PDS als dritter Oppositionspartei mitgetragen werden -, sondern es geht uns um die Zusammensetzung der Kommission. Wir streben eine Expertenkommission an, die sich aus breiten Schichten der von Multimedia Betroffenen und „Profiteuren" zusammensetzt. In dieser Kommission sollen Vertreter und Vertreterinnen aller interessierten demokratischen Verbände, wie Gewerkschaften, kulturelle Organisationen, Bürgerinitiativen, Verbrauchervereinigungen und natürlich auch Vertreter der Industrie, paritätisch präsent sein. Damit könnte der demokratischen Mitbestimmung in diesem Lande wesentlich mehr Gewicht verliehen werden.
Meine Damen und Herren, multimediale Anwendungen durchdringen immer weitere Bereiche der Gesellschaft, wandeln sie absehbar zu einer Gesellschaft, in der digital übertragene Informationen in ungleich höherem Maße als bisher Faktoren von Produktion und sozialer Kommunikation werden. Die Auswirkungen sind im einzelnen bis heute noch bei weitem nicht überschaubar. Als gesichert kann aber gelten, daß die Informationstechnologien die Zivilisation grundlegend verändern werden. Informationstechnologien eröffnen enorme Chancen zur Demokratisierung der Gesellschaft, z. B. durch die Möglichkeit wesentlich höherer Transparenz gesellschaftlicher Prozesse für das Individuum und wesentlich breiterer demokratischer Mitwirkungsmöglichkeiten. Sie können die Entstehung neuer Lebensweisen fördern, geprägt durch Übereinstimmung von Wohn- und Arbeitsort, erheblicher Flexibilisierung der Arbeitszeit und Arbeitsweise, auch entsprechend individueller Bedürfnisse, starker Ausweitung von persönlicher Kommunikation rund um die Erde ohne den Zwang zur Ortsveränderung.
Doch auch die Risiken der neuen Informationstechnologien dürfen nicht unterschätzt werden. Entgegen den euphorischen Prognosen, z. B. der EU-Kommission, von 10 Millionen neuen Arbeitsplätzen in Europa bis zum Jahr 2000 wird es nach allen bisherigen Erfahrungen und vermutlich nicht nur vorübergehend durch Rationalisierungsmaßnahmen zu massiven Arbeitsplatzverlusten kommen. Davon werden insbesondere Frauen überproportional betroffen sein. Nach Schätzungen des Prognos-Institutes in Basel werden in der Bundesrepublik Deutschland in den nächsten 15 Jahren 50 % aller Angestelltenarbeitsplätze in ihrem bisherigen Profil durch Einsatz neuer Informationstechnologien obsolet. 60 % aller mit „alter" Informationstechnik ausgestatteten Arbeitsplätze, die in den nächsten Jahren einem besonders starken Rationalisierungsschuh unterworfen sein werden, haben letztendlich Frauen inne.
Unübersehbar ist schon heute die Tendenz, mit dem Einsatz neuer Informationstechnologien bisher abhängig Beschäftigte in eine Scheinselbständigkeit zu entlassen, in der sich größere individuelle Freiheit mit stark wachsenden sozialen Risiken und der Tendenz der Aushebelung bestehender Arbeitszeitstandards ergänzt.
Auf die Bewältigung der genannten Herausforderungen muß sich die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung schon heute ausrichten. Dazu gehört die Förderung arbeitsplatzschaffender, beschäftigungsintensiver und dabei ressourcenschonender wie emissionsarmer Wirtschaftszweige. Eine Fortentwicklung des Arbeits- und Arbeitsschutzrechtes sowie die Entfaltung eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors scheinen dringend geboten zu sein. Dies gilt insbesondere für jene Bereiche, wo bedürfnisbefriedigende, gesellschaftlich nützliche Arbeit geleistet werden kann, die nicht am Profitprinzip orientiert ist.
Die Wahrscheinlichkeit einer neuen Zweiklassengesellschaft, welche zumindest partiell dieselben Personengruppen wie in der alten erfaßt, ist national wie global sehr hoch. Westliche Industriestaaten starten in die neuen Informationstechnologien mit all ih-
Wolfgang Bierstedt
ren ökonomischen und Produktivitätsvorteilen, während zwei Drittel der Weltbevölkerung noch nie einen konventionellen Telefonhörer in der Hand gehalten haben. Innerhalb der westlichen Industriestaaten zerfällt die Gesellschaft in Teilhaber der Datenautobahnen und jene, die mangels finanzieller Möglichkeiten oder, wie wohl größere Teile der älteren Generation, wegen Sozialisations- und Bildungsbarrieren ausgeschlossen bleiben. Solchen Tendenzen entgegenzuwirken muß in der Entwicklungshilfe-, der Sozial- und der Bildungspolitik Priorität eingeräumt werden.
Meine Damen und Herren, Multimedia auf Datenautobahnen eröffnet einerseits qualitativ und quantitativ völlig neuartige kommunikative Kontakte. Andererseits kann die schon heute zu verzeichnende Tendenz zum Rückzug der Individuen in die Privatsphäre, einhergehend mit Verkümmerung sozialer Kontakte, Vereinsamung und anderes, durch Multimedia massiv verstärkt werden. Es muß Aufgabe von Sozial-, Kultur- und Kommunalpolitik in der Bundesrepublik sein, geeignete Abwehrstrategien gegen diese Gefahren zu entwickeln.
Deshalb möchte die PDS ihre parlamentarische Mitwirkung in der Kommission auch auf sozialpolitische, arbeitsrechtliche und tarifpolitische Felder konzentrieren. Dazu gehören arbeits- und sozialrechtlicher Schutz von Telearbeitern, Erhalt von Arbeitsverträgen und Schutz von Arbeitsplätzen, Vorbereitung und Abschluß eines Telearbeitsgesetzes im Rahmen der EU, Sicherung der informellen Grundversorgung der Bürger auf Basis des Auftrages der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, Sicherung einer breiten Mitbestimmung aller von Multimedia betroffenen Interessenverbände.
Die PDS möchte mit ihrem Antrag ähnlich wie SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verhindern, daß die Bundesregierung wie in allen Strukturbereichen zu spät beginnt, die sozialen Auswirkungen zu bekämpfen und für die Betroffenen „sozialverträgliche Regelungen" zu schaffen, was auch immer man unter diesem Begriff verstehen mag. Wir wollen schon am Beginn dieser Entwicklung einvernehmlich gesetzliche Regelungen schaffen, mit denen letztendlich dafür Sorge getragen wird, daß nicht schon wieder Hunderttausende von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern frühzeitig in das soziale Aus geschickt werden.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.