Rede von
Andrea
Fischer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben es heute morgen wieder gehört: Die Sozialhilfe ist offensichtlich der Problemfall des Sozialstaats.
Herr Minister Seehofer, Sie haben uns ausführlich und treuherzig versichert, wie sehr Ihnen der Ausbau und der Erhalt dieses Systems am Herzen liege. Sie machen das so intensiv, daß Sie die Sozialhilfe gleichsam vor sich selber retten: Sie rupfen und zausen sie so lange, bis sie nur noch als Gerippe übrigbleibt.
Der Regierungsentwurf stellt sich nach meiner Meinung der eigentlichen Herausforderung nicht. Die Sozialhilfe und die vielen Menschen, die darauf angewiesen sind, teilen uns doch etwas darüber mit, was in dieser Gesellschaft los ist und was in dieser Gesellschaft schiefläuft. In diesem Entwurf aber wird es einfach nur als ein gesellschaftspolitischer Störfall, dem man mit finanzieller Schadensbegrenzung begegnen müsse, behandelt.
Andrea Fischer
Die Zunahme der Empfängerzahlen richtet die Frage an uns: Was ist da mit einem System passiert, von dem sich seine Schöpfer vor 30 Jahren gedacht hatten, mit diesem letzten Meinen Stück das soziale Netz abzurunden? Wenn da plötzlich Millionen Menschen hineinrutschen, muß da vorher etwas schiefgelaufen sein. Wieso stellen wir uns dieser Frage nicht? Statt dessen leistet Herr Seehofer den sozialpolitischen Offenbarungseid. Er stellt nämlich in der Begründung zu seinem Gesetzentwurf als erstes fest: „Der Eintritt von Sozialhilfebedürftigkeit ist kaum beeinflußbar. "
Offensichtlich waltet hier die Macht des Schicksals. Die Regierung resigniert schon, bevor sie überhaupt anfängt zu reformieren.
Andersherum wird ein Schuh daraus: Die Zunahme der Empfängerzahlen ist ein Zeichen dafür, daß bei den Systemen der sozialen Sicherung offenkundig etwas nicht mehr stimmt, daß sie zu den veränderten Lebensformen und zur Erwerbskrise der letzten zehn Jahre nicht passen.
Jahre der Erwerbslosigkeit haben Menschen aus der Arbeitslosenversicherung herausfallen lassen, die Bundesregierung hat das auch mit verschiedenen Kürzungen forciert.
Die Ehe ist längst kein funktionierendes Sicherungssystem mehr. Der Kinderlastenausgleich - wir haben das in diesem Haus schon reichlich diskutiert - ist offensichtlich unzureichend, weswegen wir dort mit weitverbreiteter Armut zu tun haben.
Es ist überhaupt nicht tauglich, wie es Herr Seehofer heute morgen wieder versucht hat, Armut als Problem mit Definitionen - „man solle dieses und jenes nicht dazu sagen" - wegzureden. Es gibt diese Armut. Die Bundesregierung sollte aufhören, das zu leugnen.
Wir sollten die Provokation, die darin liegt, endlich annehmen, anstatt - wie es die Regierung tut - die alarmierenden Zahlen gegen die Betroffenen zu wenden, denn letztlich ist die Vermutung des Mißbrauchs ein Herzstück dieser Reform.
Immer wieder kommen diese paar hunderttausend angeblich arbeitsfähigen, aber arbeitsunwilligen jungen Menschen in die Debatte. Nun sei es dahingestellt, wo Seehofer sie alle gefunden hat. Aber in der Studie des Deutschen Städtetages, über die wir uns hier schon mehrfach gestritten haben, ist zu lesen, daß ein Drittel der Kommunen davon berichtet, daß es viele Sozialhilfeempfänger gibt, die angebotene Arbeit verweigern.
Ein beträchtlicher Teil der Kommunen berichtet in derselben Studie aber, daß sie gar nicht so viel Arbeit anbieten könnten, wie sie gerne wollten und wie die Sozialhilfeempfänger nachfragten.
Wenn man aber wie Herr Seehofer eher im Geiste der Armutspolizei darangeht, kann man diese Sache mit dem Angebot auch nicht ernsthaft unterbreiten.
Sie sagen immer, Sie wollten Angebote machen, damit die Sozialhilfebedürftigkeit überwunden werden kann. Gleichzeitig wird immer davon geredet, sie nähmen es nicht an. Das ist die Botschaft „Bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt."
Ich meine dagegen: Wenn man Angebote unterbreiten will, setzt das voraus, daß man den Adressaten dieses Angebots ernst nimmt. Ein Angebot macht man auf gleicher Augenhöhe. Dann muß man außerdem noch den Mangel an Jobs zur Kenntnis nehmen, die Sie da alle vermitteln wollen. Deswegen stellt sich die Frage: Geht das eigentlich alles, was Sie in Ihrer Reform da vorschlagen?
Die Städte und Gemeinden stöhnen seit langem unter der Last der Sozialhilfe. Sie denken, man könnte das retten mit noch mehr finanziellem und organisatorischem Engagement der Gemeinden,
obwohl die Sozialhilfeträger längst an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angekommen sind. Zudem macht das meines Erachtens auch ordnungspolitisch nicht sehr viel Sinn. Wieso öffnen wir nicht das Arbeitsförderungsgesetz, so daß die kompetenten Institutionen, die kompetenten Behörden dafür zuständig sind, und unterstützen so die Leute beim Wiederfinden von Arbeit? Statt dessen behandeln Sie das Sozialhilferecht und das Instrument der Hilfe zur Arbeit als eine krude Mischung aus Disziplinierungsinstrument und Ausfallbürgen für den Rückzug aus aktiver Arbeitsförderungspolitik.
Meine Mängelliste ist allerdings noch länger. Noch einmal zu der leidigen Frage der linearen Kürzung: Sie sagen, es gibt sie nicht. Ich behaupte dagegen, daß der vorgesehene Mechanismus der Anpassung der Regelsätze ebenso wie die sogenannte Konkretisierung des Lohnabstandsgebotes letztlich zu einer systematischen Senkung des Leistungsniveaus führen. Wenn dem nicht so wäre, warum machen Sie es dann? Sie sprechen doch die ganze Zeit davon, daß diese Maßnahmen notwendig sind, um die Kostenentwicklung zu bremsen. Sie können nicht behaupten, daß das nicht zu Kürzungen führt; denn sonst wäre ja der Sinn der ganzen Operation weg.
Ich finde, daß das brisant ist und man deswegen vorsichtig sein muß. Der eigentliche Sinn der Sozialhilfe ist doch genau der, einzugreifen, wenn das Einkommen aus vorgelagerten Systemen oder aus Erwerbstätigkeit nicht reicht für ein menschenwürdiges Leben. Diesen Sinn muß die Sozialhilfe behalten. Deswegen muß sie nach anderen Kriterien gestaltet sein als die Einkommen auf dem Arbeitsmarkt.
Andrea Fischer
Herr Seehofer, Sie rechtfertigen die Tiefe dieses Schnitts mit der Kostenentwicklung. Der Gesetzentwurf spricht davon, daß die Ausgabenentwicklung dramatisch sei. In den letzten 13 Jahren - sprich: zwischen 1980 und 1993 - seien die Ausgaben für die Sozialhilfe um 290 % gestiegen. Das allerdings ist eine wirklich eindrückliche Zahl. Dann haben vor ein paar Wochen die Wohlfahrtsverbände gesagt: Herr Seehofer, die Zahl stimmt so nicht, das haut so nicht hin.
Daraufhin habe ich eine Kleine Anfrage an das Haus Seehofer gerichtet, und siehe da: In der Antwort, die vor einigen Tagen gekommen ist, war folgendes zu lesen: Wenn man die Ausgabenentwicklung in diesem Zeitraum von 13 Jahren preisbereinigt, dann sinkt die dramatische Zahl von 290 % auf 184 %. Das ist immer noch viel, zweifelsohne. Aber warum schreiben Sie nicht diese, sondern die höhere Zahl in Ihren Gesetzentwurf?
Aber es kommt noch besser: Im selben Zeitraum - das steht in der Antwort auf die Kleine Anfrage aus dem Hause Seehofer, das sagt nicht einer der von Ihnen inzwischen so gehaßten Wohlfahrtsverbände - sind die Pro-Kopf-Ausgaben, die Ausgaben pro Sozialhilfeempfänger, um ganze 7 % gestiegen. Und da wollen Sie uns erzählen, wir geben zu viel für Sozialhilfeempfänger aus?
Wir müssen das Signal wahrnehmen, daß es so viele Menschen gibt, die Sozialhilfe beziehen. Da stimmt etwas nicht. Wir geben nicht zu viel für den Einzelnen aus, sondern zu viele Menschen sind inzwischen auf dieses System verwiesen. Das ist nicht der Fehler dieser Menschen, sondern der Fehler einer Politik, die versäumt hat, rechtzeitig den Sozialstaat zu renovieren.
Auf den ersten Blick denkt die unbefangene Leserin dieses Gesetzentwurfes, es handele sich um eine Petitesse. In § 10 wird einfach von „die freien Wohlfahrtsverbände und die andern Träger" gesprochen. Damit werden die Wohlfahrtsverbände und die anderen Träger gleichgestellt. In Wahrheit handelt es sich bei diesen drei Wörtern, die in den § 10 eingefügt werden, urn einen der tiefsten Einschnitte, die man in unserem Sozialsystem machen kann. Ich hätte mir als Grüne nicht träumen lassen, daß ich einmal die Wohlfahrtsverbände gegen eine konservative Regierung verteidigen muß.
Aber das, was bei Ihnen so schick-modern klingt - man stellt sich vor: alle haben gleiche Marktchancen auf diesem Wohlfahrtsmarkt -, das ist tatsächlich der Abschied vom Subsidiaritätsprinzip. Der Vorrang der Träger der freien Wohlfahrtspflege ist ein ganz bedeutsamer Bestandteil eines Sozialsystems, das zur Grundlage hat, daß der Staat nicht für alles zuständig sei.