Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die wohl größte und schwierigste Reform wird in den nächsten Monaten die dritte Stufe der Gesundheitsreform sein.
Wir haben bereits vor Inkrafttreten des Gesundheitsstrukturgesetzes im Jahre 1992 auf die Notwendigkeit dieser Reform Mitte der 90er Jahre hingewiesen. Ich kann mich noch gut an das Unverständnis damals erinnern, teilweise sind wir sogar mit Spott überzogen worden, als wir bereits vor drei Jahren den Handlungsbedarf Mitte der 90er Jahre angekündigt haben. Jetzt haben wir Mitte der 90er Jahre. Niemand wird bei der aktuellen Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung heute noch diesen Reformbedarf bestreiten wollen.
Ich möchte zuallererst das Parlament hier darüber informieren, daß die gesetzliche Krankenversicherung im ersten Halbjahr 1995 trotz der Wirksamkeit und der Gültigkeit all der Instrumente des Gesundheitsstrukturgesetzes ein Defizit von 5,4 Milliarden DM aufweist: 4,2 Milliarden DM in den alten und rund 1,2 Milliarden DM in den neuen Ländern. Die Leistungsausgaben der Krankenkassen sind in den alten Ländern im ersten Halbjahr 1995 um 6,4 % gestiegen, die Einnahmen nur um 0,7 %. In den neuen Ländern betrug der Ausgabenzuwachs 12,5 % und der Zuwachs der beitragspflichtigen Einnahmen 1,8 %. Es tritt nun genau das ein, was ich in früheren Reden gemeinsam mit der Regierungskoalition schon mehrmals angekündigt habe,
nämlich daß mit zunehmendem Abstand vom Inkrafttreten am 1. Januar 1993 das Gesundheitsstrukturgesetz seine Wirksamkeit verliert.
Es kann nicht bestritten werden, daß wir 1993 und 1994 die Finanzreserven wieder auffüllen konnten, die Ausgabenexplosion zurückführen konnten und leichte Beitragssenkungen in den alten Bundeslän-
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dern hatten. Aber jetzt, im dritten und letzten Jahr der Budgetierung, ist das eingetreten, was die Regierungskoalition bereits im August 1992 prognostiziert hatte.
Die aktuelle Ausgabenentwicklung unterstreicht also eindrucksvoll den Handlungsbedarf bei allen Beteiligten im deutschen Gesundheitswesen.
Daß dieser Handlungsbedarf plausibel und offenkundig wird, möchte ich mit einem Vergleich unterstreichen, vor dem Hintergrund, daß heute von diesem Podium wiederum ein Eingriff in die Lohnfortzahlung als das Wundermittel und das dringendste Mittel deutscher Sozialpolitik bezeichnet worden ist. Wenn sich der Beitrag in der gesetzlichen Krankenversicherung um einen Prozentpunkt nach oben verändern würde, entspräche dies einer Lohnkostenbelastung von 17 Milliarden DM. Das wäre mehr als das Doppelte dessen, was heute als Eingriff in die Lohnfortzahlung vorgeschlagen worden ist. Deshalb möchte ich von dieser Stelle aus wieder dafür plädieren: Konzentrieren wir uns auf die wirklich notwendigen und drängenden Dinge! Eröffnen wir nicht neue Diskussionsfelder!
Rund die Hälfte des aktuellen Defizits - das möchte ich in aller Klarheit und Deutlichkeit sagen - hat der Staat, hat die Politik zu vertreten. Rund die Hälfte dieses Defizits haben die Regierungskoalition und die SPD-Opposition durch das Rentenreformgesetz im Jahre 1989 verursacht; denn im Jahre 1995 gilt erstmals die Regel - das wurde damals gemeinsam mit der SPD beschlossen -, daß einerseits für Arbeitslose von der Bundesanstalt geringere Beiträge an die Krankenversicherung zu zahlen sind, andererseits für die Bezieher von Krankengeld höhere Beitragszahlungen von der Krankenversicherung an die Arbeitslosen- und die Rentenversicherung geleistet werden.
Dieses im Jahre 1989 beschlossene Konzept, das zum 1. Januar 1995 in Kraft getreten ist, belastet die Krankenversicherung, bezogen auf das gesamte Jahr 1995, in einer Größenordnung von zwischen 5 und 6 Milliarden DM. Diese durch den Akt der Rentenreform verursachte Belastung der Krankenversicherung wird, jedenfalls im ersten Halbjahr 1995, nicht wesentlich durch die Pflegeversicherung gemildert, da sie erst am 1. April in Kraft getreten ist. Deshalb drückt sich die Entlastung in diesem Zeitraum nur in geringem Maße aus. Das erklärt mehr als die Hälfte des Defizits in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Ich möchte ausdrücklich davor warnen, eine Diskussion darüber zu beginnen, diese Aktion wieder rückgängig zu machen. Dann nämlich hätten wir das Defizit nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern in der Arbeitslosenversicherung.
Die andere Hälfte des Defizits ist auf die bedrohliche, ja alarmierende Ausgabenentwicklung in verschiedenen Leistungsbereichen zurückzuführen.
Ich möchte das Parlament auch hier über die wesentlichen Entwicklungen des ersten Halbjahrs 1995 informieren. Sie werden besonders deutlich, wenn man Vergleiche auch zum Zeitraum vor Inkrafttreten des Gesundheitsstrukturgesetzes anstellt, um die Wirkungen dieses Gesetzes über zwei, drei Jahre beurteilen zu können.
Die erste Feststellung ist, daß die ärztliche und die zahnärztliche Behandlung sowie die Verwaltungsausgaben der Krankenkassen weitgehend im Lot mit der Grundlohnentwicklung geblieben sind. Weder die Arzthonorare noch die Zahnarzthonorare sind in diesen zweieinhalb Jahren aus dem Ruder gelaufen.
Die Ausgaben für Arzneimittel und Zahnersatz liegen heute unter den Werten des ersten Halbjahres 1992.
Probleme bereitet die Ausgabenentwicklung im Krankenhausbereich. Hier sind die Ausgaben in den letzten zweieinhalb Jahren nicht nur doppelt so stark gestiegen wie die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern auch doppelt so stark wie der Zuwachs bei den Ärzten. Deshalb halte ich die Klage der Ärzte für begründet, daß ihre Sparbemühungen zu einem großen Teil durch den stationären Sektor im deutschen Gesundheitswesen wieder aufgefressen wurden.
Besonders hohe Steigerungsraten hatten wir in diesen zweieinhalb Jahren bei den Ausgaben für Heilmittel - also für Massagen -, Hilfsmittel, stationäre Kuren, Fahrtkosten und Gesundheitsförderung zu verzeichnen.
Ich möchte Ihnen vor dem Hintergrund der gesundheitspolitischen Diskussion in den letzten drei Jahren bei manchen Interessengruppen einmal einige Zahlen nennen: Die Ausgaben für Heil- und Hilfsmittel sind seit Anfang 1993 um 25 % gestiegen, davon allein bei den Massagen um 19 %. Die Ausgaben für sonstige Heilpersonen, Logopäden etc., sind um 73 % gestiegen, die für Krankenhausbehandlungen um 16 %, die für die Gesundheitsförderung und die sozialen Dienste - jeweils in den alten Ländern - um 130 %, die für Fahrtkosten um 46 % und die für Kuren um 37 %. Dies muß immer in Beziehung gesetzt werden zu der Einnahmenentwicklung bei der gesetzlichen Krankenversicherung in dem Zeitraum seit 1993. Diese betrug nur 8 %.
Meine Damen und Herren, ich erzähle dies, weil es ein Licht auf die Art und Weise der Diskussion in den letzten zweieinhalb bis drei Jahren wirft, als uns, der Regierungskoalition, von einem Teil dieser Leistungsbereiche vorgehalten wurde, die Gesundheitsstrukturreform führe dazu, daß das für die Menschen Notwendige nicht mehr geleistet werden könne. Es wurden sogar so unappetitliche Diskussionen geführt wie: Dieser Gesundheitsminister trägt dazu bei, daß Verletzte auf den Straßen liegenbleiben müssen, weil
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die notwendigen Gelder für die Fahrdienste nicht mehr zur Verfügung stehen.
Es ist mir über große Medien gesagt worden, man könne krebskranke Kinder nicht mehr behandeln, man müsse Aids-Betten schließen, weil die notwendigen Gelder nicht zur Verfügung stehen. Meine Damen und Herren, diese Zahlen sprechen eine andere Sprache.
Kein Bereich in unserer Volkswirtschaft, kein Sozialsystem in der Bundesrepublik Deutschland hat so gewaltige Zuwachsraten wie die gerade von mir genannten Bereiche, meine Damen und Herren. Deshalb wäre es höchste Zeit, daß manche, die diese unappetitliche Diskussion in den letzten drei Jahren geführt haben, sich in aller Öffentlichkeit dafür entschuldigen. Hier haben wir gewaltige Zuwachsbereiche.
Was ist zu tun? Im Stenogrammstil: Eine Verlängerung der sektoralen Budgetierung, wie sie die SPD fordert, lehne ich ab. Sie kann weder die Ausgabenentwicklung besser in den Griff bekommen noch die Ungleichgewichte zwischen den Leistungsbereichen beseitigen. Das zeigt die finanzielle Entwicklung im Jahre 1995. Jetzt gilt die Budgetierung ja noch voll.
Meine Damen und Herren, welchen Sinn würde es machen, ein Instrument, das seine Wirksamkeit jetzt, im dritten Jahr, weitgehend verloren hat, im nächsten Jahr zu prolongieren? Das kann nicht die politische Antwort sein. Ich halte sie auch deshalb für falsch, weil es vor dem Hintergrund des Grundsatzes „ambulant vor stationär" nicht richtig sein kann, daß der Ausgabenanteil für die niedergelassenen Ärzte immer geringer und für die Krankenhäuser immer höher wird. Deshalb muß der Zentralpunkt der nächsten Gesundheitsreform im stationären Bereich ansetzen.
Für die Entwicklung bis zum Inkrafttreten der in Aussicht genommenen dritten Stufe der Gesundheitsreform muß die Selbstverwaltung für einen begrenzten Zeitraum sicherstellen, daß die Ausgabenentwicklung in Schach und Proportionen bleibt. Ich habe deshalb schon vor langer Zeit für den nächsten Donnerstag, 14. September, alle Beteiligten am deutschen Gesundheitswesen zu einer konzertierten Aktion eingeladen, um Empfehlungen für das Jahr 1996 zu beschließen.
Wir können nicht einerseits in Aussicht nehmen, daß wir der Selbstverwaltung verstärkt Kompetenzen übertragen wollen, aber bei der Bewältigung der aktuellen Probleme die Selbstverwaltung ausblenden. Im Gegenteil: Die Selbstverwaltung ist in besonderer Verantwortung.
Nach allen Vorgesprächen, die wir für die konzertierte Aktion geführt haben - auch heute -, habe ich allen Grund zur Zuversicht, daß die Selbstverwaltung bereit ist, ihrer Verantwortung nächsten Donnerstag gerecht zu werden, und aus eigener Kraft mit entsprechenden Empfehlungen und Beschlüssen diese Ausgabenentwicklung beherrscht.
Im übrigen hält die Koalition an ihrem Fahrplan für die dritte Stufe fest. Bis Ende des Jahres wird in enger Abstimmung mit allen Beteiligten am Gesundheitswesen ein Gesetzentwurf vorgelegt, der zum 1. Juli 1996 in Kraft gesetzt werden soll.
Meine Damen und Herren, ich möchte mich bei dieser Gelegenheit bei den deutschen Ärzten und auch bei den Krankenkassen bedanken, daß sie gerade in den letzten Wochen richtungsweisende Entscheidungen aus eigener Kraft getroffen haben, was das Honorierungssystem im Niederlassungsbereich betrifft. Sie haben Ernst gemacht mit dem Grundsatz, daß die sprechende Medizin besser honoriert werden soll als die Apparatemedizin. Das gibt mir auch Grund zur Zuversicht, zur Hoffnung, daß diese Selbstverwaltung die neugewonnene Kraft auch wirklich nicht als Strohfeuer, sondern für die dauerhafte Stabilisierung des deutschen Gesundheitswesens einsetzen kann. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür. Das gilt auch für viele andere Bereiche.
Meine Damen und Herren, die Selbstverwaltung funktioniert, und deshalb halten wir daran fest, bei der nächsten Reform die Sorgfalt vor die Schnelligkeit zu setzen. Nach 20 Jahren permanenter Gesundheitsreform mit fast 50 Gesetzen und 6800 Einzelbestimmungen müssen wir endlich eine dauerhafte Stabilisierung des deutschen Gesundheitswesens erreichen. Wir können es weder den Patienten noch den Beteiligten am Gesundheitswesen zumuten, daß wir uns in einer permanenten Reformdiskussion über das deutsche Gesundheitswesen befinden. Ich bin ziemlich zuversichtlich, daß es uns gelingen wird, diese Reform zustande zu bringen.
Meine Damen und Herren, das deutsche Gesundheitswesen ist nicht krank, wie es gelegentlich gesagt wurde, im Gegenteil: Ich kenne kein besseres System auf dieser Erde. Was wir ändern müssen, sind nicht die Prinzipien dieses Gesundheitswesens, sondern die Art und Weise der Gesundheitspolitik.
Ich möchte gemeinsam mit der Regierungskoalition, daß wir der Selbstverwaltung wieder mehr Kompetenz zuweisen, im Interesse der Strukturen, der Sicherheit der Versorgung der Bevölkerung und auch der stabilen Finanzgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung.
Wenn uns dies gelingt, dann werden wir uns für den Rest dieses Jahrhunderts, so hoffe ich, nicht mehr in dem Maße mit der gesetzlichen Krankenversicherung beschäftigen müssen, wie das in den letzten 20 Jahren der Fall war.
Bundesminister Horst Seehofer
Ich lade alle ein. Es wird eine spannende, sicher auch kontroverse Diskussion geben. Die Regierungskoalition wird auch hier beweisen, daß sie handlungsfähig ist.