Rede von
Manfred
Müller
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(PDS)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (PDS)
Ich möchte gerne zur Sache reden. Aber meine Aufgeregtheit bitte ich Sie zu verstehen, weil ich weiß, was für Arbeitsbedingungen in den Betrieben inzwischen auch im Angestelltenbereich herrschen, und weil ich darüber empört bin, daß diejenigen, die zum Arzt gehen, hier pauschal verunglimpft werden mit der Behauptung, sie schützten Kopfschmerzen vor, die gar nicht vorhanden sind, die der Arzt aber nicht widerlegen kann, und erschlichen sich so quasi die Lohnfortzahlung.
Manfred Müller
Zur Aufnahme der DDR in die Bundesrepublik: Wir haben den Menschen in der DDR gesagt, welche Arbeitsbedingungen bei uns herrschen. Dazu gehörte die Lohnfortzahlung.
Es geht jetzt nicht darum, das alles zurückzudrehen, nachdem wir sie letztlich für unser System gewonnen haben. Zu unserem System gehörte die von den Gewerkschaften durchgesetzte Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.
Das ist ein ganz entscheidender sozialpolitischer Fortschritt, den Gewerkschaften erkämpft haben und den der Gesetzgeber dann nachvollzogen hat.
Sie wissen doch, daß Sie den sozialen Frieden gefährden, wenn Sie die Gewerkschaften zwingen, jetzt wiederum wochenlange Arbeitskämpfe durchzuführen, um den Besitzstand zu verteidigen.
Lassen Sie mich noch einmal kurz auf den Haushaltsentwurf eingehen. Er ist sicher ein geradezu historisches Dokument, ein Dokument, das konsequent mutig und ohne Umschweife die Politik der Bundesregierung auf den Punkt bringt.
Nirgendwo wird dies deutlicher als im Einzelplan des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Dieser Einzelplan dokumentiert eine historische Wende bundesdeutscher Politik. Er setzt einen Schlußstrich unter das Gerede vom Umbau des Sozialstaats. Von nun an, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird konsequent abgebaut.
Nachdem vor fünf Jahren die DDR abgewickelt wurde, befreit sich die Bundesregierung jetzt von den Altlasten des Sozialstaates und kürzt nicht nur einfach hier und da etwas im Einzelplan 11, sondern versieht eine ganze Titelgruppe, wie den Zuschuß für die Bundesanstalt für Arbeit, mit einem mageren Gedankenstrich.
Ich bringe großes Verständnis dafür auf, daß der Finanzminister stolz ist, als erster Finanzminister in der Geschichte der Bundesrepublik mit einem Entwurf vor die Offentlichkeit zu treten, der nicht steigende, sondern sinkende Sozialausgaben aufweist. Aber das eigentliche Verdienst kommt nicht dem Finanzminister zu, sondern dem Kollegen Norbert Blüm.
Es ist nur deshalb gelungen, das Volumen des eingebrachten Etatentwurfs unter das des Vorjahres zu drücken, weil der Etat des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung nicht nur dafür herhalten muß, die Einsparquote von Minus 1,3 % zu erwirtschaften, sondern auch noch die Mehrausgaben der anderen Ressorts zu finanzieren.
Angesichts schon jahrzehntelang anhaltender Massenarbeitslosigkeit und zunehmender Armut kürzen Sie den Sozialetat um 7,8 %. Kein anderes Feld der Politik bringt solche Opfer wie der Sozialetat. Im Gegenteil: Von den 25 Einzelplänen verzeichnen 16 sogar Mehrausgaben, die sich alle aus den Einsparungen für Arbeitsmarkt und Sozialpolitik finanzieren.
Ihr christliches Gewissen schlägt Purzelbäume, weil das Bundesverfassungsgericht Klassenräume ohne Kruzifix sich vorstellen - nicht vorschreiben, sondern sich vorstellen - kann. Wo, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, bleibt eigentlich Ihr Gewissen, wenn der Bundesminister für Finanzen einen Etat vorlegt, in dem die Sozialausgaben um fast 8 % sinken und die Ausgaben des Wirtschaftsministers um 50 % steigen?
Wo bleibt Ihre christliche Überzeugung, wenn sich die Erhöhung der Militärausgaben aus dem Abbau der Sozialausgaben speist? Haben Sie die Armutsberichte der Kirchen nicht gelesen? Oder vertrauen Sie darauf, daß niemand merkt, was Sie in diesem Land anrichten? Sie brechen den Sozialstaat ab, während ihn immer mehr Menschen brauchen. Sie reden von der Senkung der Staatsquote. Das einzige, was dabei herauskommt, ist eine Reduzierung der Sozialausgaben.
Nun gut, Sie werden Ihr Gewissen damit beruhigen, daß die erhoffte wirtschaftliche Entwicklung es rechtfertigt, den Sozialstaat auf ein solch beispielloses Niveau zu reduzieren. Woher nehmen Sie Ihre Gewißheit? Was veranlaßt Sie, die Ausgaben für Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz sage und schreibe um 34,2 % zu kürzen?
- Das sind Ihre Zahlen, die vorgelegt worden sind.
Der Finanzbericht des Herrn Ministers Waigel verrät es: Da wird doch tatsächlich für die nächsten Jahre eine durchschnittliche Zunahme des Bruttoinlandsprodukts von nominal 5,5 % jährlich angenommen. Lesen Sie denn keine Zeitungen? Ist Ihnen entgangen, daß selbst ein Ihnen nahestehendes Institut wie das Ifo-Institut schon für dieses Jahr Ihre angenommene Wachstumsrate um ein Sechstel nach unten korrigiert hat
und alle Institute von einer Abkühlung der Konjunktur sprechen?
Man könnte Ihre Argumentation in vornehmer Zurückhaltung unseriös nennen. Aber es ist schlimmer. Ihr Optimismus nährt sich nicht aus Wachstumsillusionen, sondern aus der handfesten Gewißheit, daß Sie mit diesem Haushaltsentwurf den Einstieg in den endgültigen Ausstieg aus dem Sozialstaat einleiten.
Danke schön.