Nein, Frau Dr. Babel, das halte ich nicht für einen Mißbrauch. Für einen Mißbrauch halte ich aber, daß Sie das Lohnfortzahlungsgesetz heutiger Prägung, das dem Unternehmer die gesetzliche Möglichkeit eröffnet, den Sachverhalt mit Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom ersten Tag an belegt zu bekommen, wobei der Arbeitnehmer, wenn er dies nicht tut, kein Geld bekommt, ignorieren und so tun, als ob nun die deutsche Gesellschaft aus Arbeitern, Angestellten und Beamten aus Blaumachern, aus Menschen besteht, die sich in diesem Sozialstaat ausruhen und die dadurch letztlich den Auftrag, den Sozialstaat zu konsolidieren, konterkarieren. Das halte ich für einen Mißbrauch.
Wenn Sie so in der Praxis tätig gewesen wären wie ich, Frau Dr. Babel,
und wenn Sie mit diesem Lohnfortzahlungsgesetz hätten arbeiten müssen, dann hätten Sie eine ganz einfache Erklärung für dieses Phänomen: Die Arbeitgeber, die Unternehmer verzichten nämlich in Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen freiwillig in über 80 % aller Beschäftigungsverhältnisse in diesem Staat auf die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bis zum dritten oder vierten Tag, weil sie wissen, daß das in ihrem Bereich unternehmenspolitisch und damit, wenn Sie so wollen, auch betriebswirtschaftlich besser ist, als den Weg zu gehen, den Sie hier indirekt suggerieren.
In Wahrheit, Frau Dr. Babel, wollen Sie doch etwas ganz anderes: Sie wollen, daß in den ersten Tagen einer Arbeitsunfähigkeit, also einer Krankheit, der gesamten deutschen Bevölkerung, die arbeitet und krank wird, kein Lohn mehr gezahlt wird. Punkt! Das ist das Problem.
Ich sage Ihnen, Frau Dr. Babel: Das, was Sie wollen, ist nicht strafbar und nicht verfassungswidrig. Es ist aber doch ebensowenig verfassungswidrig, wenn ich mich dagegen wehre und sage: Dies will ich und auch meine Fraktion nicht.
Da lasse ich mir doch nicht von Herrn Schäuble vorhalten, ich würde den Standort Deutschland gefährden. Wo sind wir denn eigentlich hingekommen? Als ob dies etwas mit Standortpolitik zu tun hätte!
Auch ich bekomme diese Briefe.
Sie haben sich auf den Weg begeben, mit dieser Frage die Lufthoheit über den Stammtischen Deutschlands zu erobern. Ich stehe unter dem Tisch und versuche von unten, die Erkenntnis über die Realitäten in Deutschland doch noch mehrheitsfähig zu machen. Ich weiß, wie schwer es ist, gegen solche Biertischparolen anzukommen, wie Sie sie hier vertreten. Das aber ändert doch nichts am Sachverhalt, meine Damen und Herren.
Der Koalition geht es in diesen Fragen um einen ideologischen Fixpunkt, an dem eine grundlegende gesellschaftspolitische Richtungsänderung in unserem Land festgemacht werden kann.
Auch die Senkung der Lohnnebenkosten geriet bei dieser Bundesregierung in der Diskussion der vergangenen Jahre zu einem ideologischen Schlagwort. Das hat sich mittlerweile etwas relativiert. Seit unabweisbar ist, daß unser Land seit 1990 nur einen einzigen Produzenten von höheren Lohnnebenkosten kennt - das ist diese Regierung mit ihrer Politik, die Folgen der deutschen Einheit zu einem guten Teil über Sozialversicherungsbeiträge zu finanzieren -, haben CDU/CSU und F.D.P. weniger Spaß an diesem Thema.
Für meine Fraktion will ich hier feststellen: Wir wollen die Lohnnebenkosten von Unternehmen und Arbeitnehmern - auch die haben welche - senken, indem wir z. B. die finanziellen Konsequenzen der
Rudolf Dreßler
deutschen Einheit dort ansiedeln, wo sie hingehören. Nicht mehr nur die Sozialversicherten und ihre Unternehmen, sondern die Gesamtheit der Bürger sollen sie tragen.
Ich wiederhole zum unzähligsten Male, Frau Dr. Babel: Ich finde es unerträglich, daß Sie und ich an der Finanzierung der deutschen Einheit über die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen seit vier Jahren nicht beteiligt sind. Deshalb fordere ich Sie auf, mit mir dafür zu sorgen, daß auch wir endlich an der Finanzierung beteiligt werden - so, wie es die Arbeiter und Angestellten, teilweise die Beamten und die Unternehmen leisten müssen. Das ist der eigentlich gravierende Punkt.
Diejenigen in diesem Hause, die sich einem solchen Schritt beharrlich verweigern, sind die Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. Auch hier zeigt sich, daß es der Koalition nicht um die Sache geht; denn sobald sich der Nebel über den ideologischen Formeln gelichtet hat, sobald man also konkret werden muß - die Opposition in diesem Hause hat möglicherweise noch nicht signalisiert, daß dies auch ihr Ziel ist; sie will dies seit drei Jahren -, flüchtet sie sich in die nächste Unverbindlichkeit und sucht krampfhaft nach der nächsten nebulösen Formel. Die lautet nun, wie ich gelesen habe: Senkung der Staatsquote.
Der Bundesarbeitsminister hat dazu seinen Fraktionskollegen aus der CDU/CSU einen höchst interessanten Brief geschrieben, der ausnahmsweise wirklich lesenswert ist. Im Gegensatz zu der sonst in Koalitionskreisen gängigen, böswilligen Behauptung, der ach so üppige, ständig weiterwuchernde Sozialstaat sei Verursacher einer gestiegenen Staatsquote, kommt Herr Blüm - das ist nachzulesen - zu folgendem Ergebnis:
Der Anstieg der Staatsquote in den vergangenen fünf Jahren ist vor allem die Folge der vom Staat im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung geschulterten Lasten.
Herr Blüm fährt fort:
Die Rückführung der Staatsquote ist zur Senkung der Defizite der öffentlichen Haushalte und zur Reduzierung der Abgabenlast mittelfristig notwendig.
Ich habe dem nichts hinzuzufügen, außer vielleicht einen kleinen Erinnerungsposten. In eine Frage gekleidet lautet dieser Erinnerungsposten so: Wer, meine Damen und Herren, regiert eigentlich seit 13 Jahren dieses Land und zeichnet für diese Ergebnisse verantwortlich?
Da man sich vor Unterstellungen nicht schützen kann, will ich, um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, gleich hinzufügen: Es ist nicht so, daß irgendeiner oder irgendeine in diesem Hause nicht der Meinung wäre, die finanziellen Konsequenzen der deutschen Einheit hätten nicht geschultert werden sollen. Wenn sie aber die Ursache für die gestiegene Staatsquote sind, woher nimmt dann diese Koalition die Rechtfertigung, statt dessen, an dieser Ursache vorbei, in unserem Sozialstaat herumfummeln zu wollen?
Ob Lohnfortzahlung, ob Lohnnebenkosten oder jetzt die Staatsquote, die Diskussion zeigt: Der Koalition geht es darum nicht. Jedes einzelne dieser Themen dient vielmehr nur als Alibi, um eine gesellschaftspolitisch grundlegend andere Weichenstellung zu erzwingen.