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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 13/52 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 52. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 Inhalt: Zur Geschäftsordnung Dr. Peter Struck SPD 4394B, 4399A Joachim Hörster CDU/CSU 4395 B Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4396 C Jörg van Essen F.D.P. 4397 C Eva Bulling-Schröter PDS 4397 D Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1996 (Haushaltsgesetz 1996) (Drucksache 13/2000) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Finanzplan des Bundes 1995 bis 1999 (Drucksache 13/2001) Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 4345 B Ernst Schwanhold SPD . . . . 4346D, 4360 B Anke Fuchs (Köln) SPD 4349 A Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. . . . 4352A Birgit Homburger F D P. 4352 C Ernst Hinsken CDU/CSU 4352B, 4370D, 4377 C Kurt J. Rossmanith CDU/CSU 4354 C Margareta Wolf (Frankfurt) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 4357 C Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. 4359A Rolf Kutzmutz PDS 4361 A Stefan Heym PDS 4362 C Otto Schily SPD 4363 A Rainer Haungs CDU/CSU 4363 B Anke Fuchs (Köln) SPD . . . . 4364B, 4369A Hans Büttner (Ingolstadt) SPD . 4365B, 4393 A Uwe Hiksch SPD 4365 D Dr. Uwe Jens SPD 4367 B Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. . . . 4368B Kurt J. Rossmanith CDU/CSU . . . 4369 D Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 4371 D Rudolf Dreßler SPD 4375 B Dr. Gisela Babel F.D.P 4378 A Marieluise Beck (Bremen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 4379 C Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU . . . 4380 C Rudolf Dreßler SPD 4382A Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4384 A Dr. Gisela Babel F.D.P 4386B Manfred Müller (Berlin) PDS 4388B Ulrich Heinrich F D P. 4388 D Ottmar Schreiner SPD 4390 A Dr. Norbert Blüm CDU/CSU 4390 D Gerda Hasselfeldt CDU/CSU 43928 Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister BMBF 4399B Doris Odendahl SPD 4401 D Günter Rixe SPD 4401 D Dr. Peter Glotz SPD 4403 C Steffen Kampeter CDU/CSU 4406 C Dr. Peter Glotz SPD 4407 D Jürgen Koppelin F.D.P. . . 4408B, 4467A Dr. Manuel Kiper BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4409D Steffen Kampeter CDU/CSU 4410A Matthias Berninger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4410B Wolf-Michael Catenhusen SPD . • . 4411C Dr. Karlheinz Guttmacher F.D.P. . . . 4412D Maritta Böttcher PDS 4414C, 4432 B Dr. Gerhard Friedrich CDU/CSU . . . 4416A Dr. Manuel Kiper BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4416B Edelgard Bulmahn SPD 4418B Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU . . . 4420 D Gertrud Dempwolf, Parl. Staatssekretärin BMFSFJ 4422 A Edelgard Bulmahn SPD 4422 B Hanna Wolf (München) SPD 4424 C Johannes Singhammer CDU/CSU . 4426 B Peter Jacoby CDU/CSU 4427 A Wolfgang Dehnel CDU/CSU 4428 C Ingrid Holzhüter SPD 4428D, 4431 D Matthias Berninger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4429 B Cornelia Schmalz-Jacobsen F.D.P. . . 4430 D Walter Link (Diepholz) CDU/CSU . . . 4433 A Hanna Wolf (München) SPD 4433 B Klaus Hagemann SPD 4434 B Horst Seehofer, Bundesminister BMG . 4436 C Klaus Kirschner SPD 4439 A Angelika Pfeiffer CDU/CSU 4441 C Marina Steindor BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4443 C Jürgen W. Möllemann F.D.P. . . . . . 4445.A Horst Seehofer CDU/CSU 4445 C Klaus Kirschner SPD 4445C, 4448D Peter DreBen SPD 4446 A Dr. Ruth Fuchs PDS 4447 B Ulf Fink CDU/CSU 4448 B Gudrun Schaich-Walch SPD 4450p Jochen Borchert, Bundesminister BML 4452 A Dr. Peter Struck SPD 4453B, 4463 D Horst Sielaff SPD 4454 C Norbert Schindler CDU/CSU 4456 A Egon Susset CDU/CSU 4457 C Horst Sielaff SPD 4458 B Peter Harry Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU 4458C, 4463 B Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4458D Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4460A Jürgen Koppelin F.D.P 4461 C Jochen Borchert CDU/CSU . . 4463A, 4464 A Dr. Günther Maleuda PDS 4464 C Max Straubinger CDU/CSU 4465 C Ilse Janz SPD 4466 C Nächste Sitzung 4468 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 4469* A 52. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Adler, Brigitte SPD 7.9.95 Behrendt, Wolfgang SPD 7.9.95 * Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 7.9.95 Frick, Gisela F.D.P. 7.9.95 Grießhaber, Rita BÜNDNIS 7.9.95 90/DIE GRÜNEN Heym, Stefan PDS 7.9.95 Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 7.9.95 Hoffmann (Chemnitz), SPD 7.9.95 Jelena Horn, Erwin SPD 7.9.95 Dr.-Ing. Jork, Rainer CDU/CSU 7.9.95 Dr. Klaußner, Bernd CDU/CSU 7.9.95 Dr. Knake-Werner, PDS 7.9.95 Heidi Dr. Köster-Loßack, BÜNDNIS 7.9.95 Angelika 90/DIE GRÜNEN Leidinger, Robert SPD 7.9.95 Lemke, Steffi BÜNDNIS 7.9.95 90/DIE GRÜNEN Lengsfeld, Vera BÜNDNIS 7.9.95 90/DIE GRÜNEN Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Lotz, Erika SPD 7.9.95 Lüth, Heidemarie PDS 7.9.95 Neuhäuser, Rosel PDS 7.9.95 Neumann (Berlin), Kurt SPD 7.9.95 Dr. Protzner, Bernd CDU/CSU 7.9.95 Schätzle, Ortrun CDU/CSU 7.9.95 Schenk, Christa PDS 7.9.95 Schewe-Gerigk, BÜNDNIS 7.9.95 Irmingard 90/DIE GRÜNEN Schmidt (Aachen), SPD 7.9.95 Ursula Schmitt (Langenfeld), BÜNDNIS 7.9.95 Wolfgang 90/DIE GRÜNEN Schultz (Everswinkel), SPD 7.9.95 Reinhard Dr. Schwaetzer, Irmgard F.D.P. 7.9.95 Simm, Erika SPD 7.9.95 Stübgen, Michael CDU/CSU 7.9.95 Thieser, Dietmar SPD 7.9.95 Tröscher, Adelheid SPD 7.9.95 Wieczorek-Zeul, SPD 7.9.95 Heidemarie • für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Prof. Dr. Uwe Jens


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Kollege Hinsken, falls Sie es noch nicht mitbekommen haben: Wir Sozialdemokraten sind noch in der Opposition. Sie sind an der Regierung. Wir stellen Forderungen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Und blockieren den Bundesrat!)


    Dr. Uwe Jens
    Wir versuchen, rationale, vernünftige Vorschläge zu machen. Sie, vor allem Herr Rexrodt, müssen das umsetzen; anders geht es nicht. Aber Sie können auch gerne in die Opposition gehen. Wenn wir an der Regierung wären, würden wir unsere Forderungen natürlich verwirklichen. Darauf können Sie Gift nehmen.

    (Beifall bei der SPD)

    Zur Innovationspolitik möchte ich noch sagen: Herr Rexrodt, Sie sollten in den Unternehmen nicht nur die Forschung fördern, sondern auch die Umsetzung der Forschungsergebnisse, d. h., die Markteinführung muß verstärkt unterstützt werden.
    Ich wiederhole es: Personalkostenzuschüsse für kleine und mittlere Unternehmen - wenn diese Chemiker, Physiker, Ingenieure einstellen, die massenweise arbeitslos sind - wäre ein Beitrag zur Beschäftigung dieser Gruppen. Das wäre meiner Meinung nach dringend notwendig.
    Ich glaube z. B. auch, daß in den Betrieben verstärkt darüber nachgedacht werden muß, ob die Arbeitsorganisation so wirklich richtig ist. Mehr Gruppenarbeit wird immer wieder gefordert. Aber wenn man das will, dann muß man die Mitbestimmung, die es gibt, auch akzeptieren und darf sie nicht, wie Herr Rexrodt, immer in Frage stellen. Das ergibt keinen Sinn.
    Ich glaube, wir haben auch ein paar elementare Unterschiede gegenüber der praktizierten Politik. Ich will gerne differenzieren. Ich meine, wir stimmen weitgehend wenigstens mit den Ansätzen überein, die in der CDU/CSU deutlich geworden sind. Wir haben elementare Differenzen mit diesem neoliberalen Wirtschaftsminister, der noch immer die Rezepte der Reagonomics predigt, obwohl die Reagonomics selbst in Amerika schon lange in den Mülleimer der Geschichte gewandert sind.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Wir wollen auf alle Fälle - ich hoffe, die CDU stimmt mir zu - die Eckpfeiler der sozialen Entwicklung sichern und erhalten.
    Wir brauchen ganz zweifellos etwas mehr an moralischen Wirtschaftsprinzipien, wie sie auch Herr Henkel immer wieder fordert. Wir müssen dafür sorgen, daß sie stärker in die Köpfe der Unternehmer und der Politiker hineingehämmert werden.
    Ich sage ausdrücklich: Graf Lambsdorff, ich möchte keinen punktuellen Interventionismus, wie es in der Fachsprache heißt; mal hier und mal da eingreifen. Die Gelder in einer Volkswirtschaft sind knapp. Wir haben hier in Bonn zu entscheiden, wo wir sie rational ausgeben, wo wir mit dem wenigen, knappen Geld am meisten erreichen können, um das Problem der Arbeitslosigkeit zu verringern.
    Ich sage aber auch - wahrscheinlich in Übereinstimmung mit Herrn Hinsken -: Wir brauchen den Staat auch in Zukunft in der Wirtschaft. Es geht nicht, daß man sagt, Wirtschaft wird in der Wirtschaft gemacht. Möglicherweise hat der Staat jetzt neue Aufgaben bekommen, aber er hat Aufgaben und muß sie auch endlich wahrnehmen.
    Vor vier Monaten habe ich meinen Referenten gebeten, mir aufzuschreiben, wo die Unterschiede zwischen CDU und SPD in der Wirtschaftspolitik sind. Bisher hat er mir nichts geliefert.

    (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Er hat alles von uns gelesen und gesagt: Das stimmt!)

    Meine Analyse kommt zu dem Ergebnis: Wir stimmen mit der konservativen - so darf man sie wohl nennen - CDU/CSU in der Wirtschaftspolitik in vielen Feldern überein. Es gibt graduelle, aber keine grundsätzlichen Unterschiede.

    (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist gefährlich zu sagen. Das kostete Schröder den Kopf!)

    Aber bei der F.D.P., bei dem, was Herr Rexrodt immer predigt, z. B. bei den Gothaer Versicherungen in Göttingen, läuft uns Sozialdemokraten in der Tat ein Schauer über den Rücken. Mit dieser Art der Politik haben wir wirklich nichts gemein.
    Ich glaube, wir Politiker sind auch verpflichtet, uns ein wenig mehr um Klarheit und Wahrheit zu bemühen. Wir sollten weniger taktieren. Ich habe eine Fülle von Punkten angesprochen. Lassen Sie uns über diese Punkte gemeinsam diskutieren und versuchen, das brennende Problem der Arbeitslosigkeit möglichst schnell zu verringern!
    Schönen Dank.

    (Beifall bei der SPD Ernst Hinsken [CDU/ CSU]: Er hat den Schröder nicht schlecht ersetzt!)



Rede von Dr. Burkhard Hirsch
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft liegen nicht vor.
Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Das Wort hat der Minister Dr. Norbert Blüm.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Norbert Blüm


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will gleich bekennen: Ich habe weder heute noch in Zukunft Lust und Spaß an einer großen sozialpolitischen Hackerei. Wir sollten nämlich bei all unseren Diskussionen nicht vergessen, daß von unseren sozialpolitischen Entscheidungen Millionen von Menschen betroffen sind. Um ein Wort von Katharina der Großen umzuwandeln: Wir schreiben auf der empfindlichen Haut von Menschen, nicht auf totem Papier.
    Deshalb plädiere ich für sozialpolitische Besonnenheit. Das ist keine tatenlose Besinnlichkeit, keine handlungslose Betroffenheit. Sie sucht ihren Weg zwischen dem Übermut derjenigen, die die Welt zum zweiten Mal erfinden wollen, und der Erstarrung ei-

    Bundesminister Dr. Norbert Blüm
    ner Betonmentalität. Es wird nicht alles beim alten bleiben, es wird aber auch nicht alles neu. Zwischen Erstarrung und Chaos suchen wir einen Weg der Vernunft, der Verantwortung, des Augenmaßes.
    Täglich erscheinen neue Vorschläge. Schneller sind sie vergessen als ausgesprochen. Nicht jeder Lichtschein am Himmel ist ein Fixstern; manche sind nur Sternschnuppen. Forderungen werden erhoben, die längst durchgesetzt sind. Der befristete Arbeitsvertrag wird gefordert; den haben wir längst umgesetzt. Eine neue Arbeitszeitordnung, die der Flexibilität Bahn bricht, wird gefordert; wir haben sie längst erreicht. 23 Gesetze sind über Nacht überflüssig geworden.
    Die einen schreien: Keine Veränderungen, es muß alles beim alten bleiben. Die anderen sagen: Alles muß neu werden. Zu der einen Seite, den Katastrophenspezis, die aus jeder Veränderung schon den Ruin des Sozialstaates herleiten, sage ich: Es ist noch immer so, daß jede dritte Mark der öffentlichen Finanzen für Soziales ausgegeben wird. Wer dabei von Ruin spricht, der kennt die Welt nicht.

    (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

    Im übrigen: Jede Mark muß von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bezahlt werden. Insofern beginnt der Sozialstaat nicht erst auf der Ausgabenseite, sondern er beginnt bei der Belastungsfähigkeit seiner Zahler.
    Preisstabilität halte ich für eines der wichtigsten sozialpolitischen Ziele. 1 % weniger Preissteigerung bedeutet 18 Milliarden DM mehr Kaufkraft, 1 % Rentenerhöhung bedeutet nur 2,7 Milliarden DM mehr Kaufkraft. 2 % Lohnerhöhung bedeutet soviel wie 1 % weniger Preissteigerung; denn die Hälfte der Lohnerhöhung kommt beim einzelnen gar nicht an.
    Ich möchte an die beste Erfindung unseres Sozialstaates Deutschland erinnern, an dem viele mitgewirkt haben. Die beste Erfindung ist soziale Partnerschaft. Sie hat uns eine Sozialkultur ermöglicht, um die uns andere beneiden. Noch immer gehört der Sozialstaat Deutschland zu jenen Gesellschaften mit dem geringsten Arbeitsausfall durch Arbeitskämpfe. Das ist nicht vom Himmel gefallen, und das wird auch in Zukunft nur erhalten bleiben, wenn der Sozialstaat gehegt und gepflegt wird. Ich glaube, seine wichtigste Voraussetzung ist die Fähigkeit zum Kompromiß, zum Geben und Nehmen.
    Da sehe ich diese Sozialkultur durchaus bröckeln. Sie bröckelt und wandelt sich zum Teil in eine Herausholergesellschaft. Ich warne allerdings nachdrücklich davor, die Herausholer nur auf der Arbeitnehmerseite zu sehen. Großbetriebe, die keine Lehrlinge ausbilden, sich aber den Nachwuchs vom Handwerk beschaffen, halte ich für klassische Herausholer. Ich halte sie für eine Gefahr für unseren Sozialstaat.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

    Ich warne auch, von einzelnen auf alle zu schließen. Ich schließe auch nicht von dem Herrn Schneider auf alle Kreditnehmer. Das wäre eine Beleidigung.
    Eine amerikanische Mentalität des Heuern und Feuerres verträgt sich nicht mit unseren Sozialstaatstraditionen. Es ist widersprüchlich, wenn Branchen ältere Arbeitnehmer mit goldenem Handschlag verabschieden und ein halbes Jahr später die Facharbeiter suchen, die sie sechs Monate vorher mit Sozialplänen ins Freie befördert haben. Solche Unternehmensplanung halte ich für dumm und kurzsichtig.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Auch ein Bauer verfuttert nicht sein Saatgut. Mancher Großbetrieb könnte sich da eine Scheibe beim handwerklichen Betrieb abschneiden.
    Im Handwerk gibt es eine alte Tradition, den familiären Zusammenhalt. Man hält in guten und schlechten Zeiten zusammen. Es müßte uns doch zu denken geben, daß der Krankenstand in den Kleinbetrieben unter vier Arbeitnehmern 2,4 % und bei manchen Großbetrieben bis zu 11 % beträgt. Es kann doch nicht sein, daß bei den Kleinbetrieben die Gesunden und bei den Großbetrieben die Kranken arbeiten. Könnte es nicht auch sein, daß dies etwas mit Betriebsloyalität, mit Zusammenhalt zu tun hat? Wer den haben will, der kann nicht heuern und feuern, der muß auch das Miteinander pflegen.
    Zum Thema Mißbrauch. Im Rahmen der Pflegeversicherung haben wir ermöglicht, daß ab dem ersten Tag der Krankmeldung zum Vertrauensarzt geschickt werden kann, wer unter Verdacht des Mißbrauchs steht. Man muß das nicht mit allen machen. Warum sollte man alle verdächtigen? Ich halte das für ein richtiges Instrument.
    Zwei Klugheiten sind in unseren Sozialstaat eingebaut: erstens die Subsidiarität und zweitens die Leistungsgerechtigkeit. Zur Subsidiarität. Wir haben die soziale Sicherung nicht den Staatskassen überlassen, sie wird nicht steuerfinanziert, sondern durch Beiträge. Das schafft mehr Selbständigkeit, schützt gegen Manipulation, macht die soziale Sicherheit von den Verteilungskämpfen unabhängig, die wir jährlich im Zusammenhang mit dem Haushalt, gerade heute wieder, führen müssen: Was ist für Bildung, was ist für Straßenbau? Die selbstverwaltete Sozialversicherung ist ein großes Moment der Selbständigkeit. Es war eine große Klugheit, sie zu schaffen.
    Der zweite Gesichtspunkt ist, daß wir unsere Rentenversicherung auf dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit aufbauen: Jedem das Seine. Das legen wir aus und verbinden es mit: Wie du mir, so ich dir, wie die Jungen die Alten behandeln, so werden, wenn sie alt sind, auch sie behandelt. Unser Sozialstaat ist nicht die Reduzierung auf Armenfürsorge, ist nicht das Armenhaus unserer Gesellschaft; das ist ein großes Mißverständnis.

    Bundesminister Dr. Norbert Blüm
    Das in der Erwerbsphase differenzierte Einkommen setzt sich auch im Alter fort. Das ist eine Stützung des Leistungsprinzips. Alle, die auf Grundversorgungssysteme abstellen, müssen wissen, daß darin sehr viel mehr Umverteilung als in unserem Sozialsystem enthalten ist.
    Meine Damen und Herren, wir haben große Ref ormen bewältigt. Wir haben die Gesundheitsreform geschafft, und zwar zweimal mit großen Entlastungen, die auch noch heute wirken. Wo wären wir ohne zwei Gesundheitsreformen hingekommen? Allein die Veränderungen in der Renten- und in der Arbeitslosenversicherung entlasten die Beitragszahler in diesem Jahr um 60 Milliarden DM, nur in diesem Jahr und nicht etwa kumuliert. Wir fangen also nicht bei Null an.
    Wir haben ein großes Reformprojekt, das Arbeitsförderungsgesetz, noch vor uns. Es ist in den Zustand der Unlesbarkeit geraten. Bei § 242 sind wir bei „u" angekommen. Für solche Ausfächerungen hat die Krankenversicherung 100 Jahre gebraucht; das haben wir im Arbeitsförderungsgesetz in nicht ganz 30 Jahren geschafft. Diese Ausfächerung ist schon ein Grund für die Reform; denn der Sozialstaat muß durchsichtig sein. Um ihn zu nutzen, sollte man keinen Berater nötig haben. Aber um die Lohnkostenzuschüsse heute zu durchschauen, braucht man einen Lohnkostenzuschußberater.
    Ich sehe die erste und wichtigste Aufgabe in der Verantwortung der Beteiligten; denn die Arbeitsmarktpolitik kann nicht alles schaffen. Wir haben ja keine Planwirtschaft. Es bleibt bei der Verantwortung der Unternehmer und der Tarifpartner. Die Arbeitsmarktpolitik muß sich, wie ich glaube, auf diejenigen konzentrieren, die es schwer haben, vermittelt zu werden, die es aus eigener Kraft kaum schaffen, in den Arbeitsmarkt zurückzufinden. Das sind die Langzeitarbeitslosen, die Ungelernten und die Behinderten.

    (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

    Auch die Frauen haben es noch schwer. Auf diese Gruppen muß sich die Arbeitsmarktpolitik konzentrieren.
    Integration in den ersten Arbeitsmarkt heißt dabei das Gebot der Stunde.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Denn wer einen zweiten Arbeitsmarkt stabilisiert, der schafft eine neue Klassengesellschaft, ohne daß er es will. Die Jungen, Gesunden und Ausgebildeten im ersten Arbeitsmarkt, und für die Kranken und Alteren haben wir einen ghettoähnlichen zweiten Arbeitsmarkt. Für uns bleibt das Ziel: Integration der Behinderten, der Langzeitarbeitslosen und der Ungelernten in den ersten Arbeitsmarkt.

    (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ja, für uns auch!)

    - Herr Fischer, Sie waren nicht sehr lange auf dem ersten Arbeitsmarkt. Deshalb kennen Sie sich dort nicht so gut aus.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie?)

    - So lange wie Sie wahrscheinlich auch. Ich bin im übrigen noch jetzt auf dem ersten Arbeitsmarkt.
    Wir bleiben dabei: Der erste Schritt ist der wichtigste. Denn die größte Hemmung für Langzeitarbeitslose besteht darin, daß sie in den ersten Arbeitsmarkt überhaupt nicht hineinkommen, daß sie keine Chance bekommen. Deshalb meine ich - das ist eine alte Erfahrung -: Wenn jemand im ersten Arbeitsmarkt ist, ist die Hemmung der Arbeitgeber, ihn wieder zu entlassen, größer. Das zeigen befristete Arbeitsverträge.

    (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    - Sie können ruhig lachen. Das steht wahrscheinlich in Ihren Lehrbüchern anders. Die Erfahrung zeigt, daß die Mehrzahl der befristeten Arbeitsverträge entgegen Ihrer Ideologie zu unbefristeten Arbeitsverträgen geführt hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Ich entnehme Sozialpolitik nicht fernen Lehrbüchern, sondern der Erfahrung.
    Befristete Arbeitsverträge, Leiharbeitsverträge, Einstiegstarife, von den Tarifpartnern ausgehandelt - ich bin gegen staatliche Einstiegstarife -, und Einarbeitungsverträge - unsere ganze Phantasie muß darauf gerichtet sein: Wie bekommt derjenige, der jahrelang arbeitslos war, wieder eine Chance, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukommen? Das ist das Wichtigste.
    Die Ungelernten werden das große Arbeitsmarktproblem der Zukunft. Die Arbeitsplätze für Ungelernte schmelzen wie der Schnee unter der Sonne. Da kann die Konjunktur boomen, aber die Arbeitsplätze für Ungelernte fallen noch immer weg. Das erste heißt: Qualifizierung. Was machen wir mit denjenigen, die im Bereich der Technologie nicht qualifizierungsfähig, aber trotzdem begabt sind? Ich sehe in den neuen Beschäftigungsfeldern Haushalt und Pflege auch neue Beschäftigungsmöglichkeiten für diejenigen, die weder Spaß noch Begabung haben, einen Computer zu bedienen.

    (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sehr wahr!)

    Nur warne ich davor, das neue Feld Pflege zu überprofessionalisieren. Wir brauchen Profis, hochqualifizierte Fachkräfte. Aber ich füge hinzu: Übertreibt es nicht! Um einen 30jährigen zu füttern, brauche ich keine sechs Semester Psychologie. Dazu brauche ich ein gutes Herz und eine ruhige Hand.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Ein weiterer Punkt wird sein: Dezentralisierung. Wir müssen die Bundesanstalt in der Tat vom Kopf auf die Füße stellen: mehr Verantwortung vor Ort,

    Bundesminister Dr. Norbert Blüm
    mehr Flexibilität, auch mehr Entscheidungsbefugnis. Wir brauchen einen Wettbewerb zwischen den Arbeitsämtern in bezug auf Initiative, Engagement und neue Einfälle.
    Auch die Finanzierungsfrage stellt sich. Das ist nicht originär von Blüm; auch ich habe kein Patentrezept. Schon 1969 bei der Verabschiedung des Arbeitsförderungsgesetzes wurde diese Frage gestellt. Sie ist die Grundfrage unseres Sozialstaats. Was muß der einzelne zahlen? Was übergeben wir der Eigenverantwortung? Was muß der Solidarität übergeben werden? Ich gebe zu, daß diese Grenze nicht fest ist, daß immer balanciert werden muß.
    Aber bezüglich der Solidarität entsteht eine weitere Frage. Was muß vom Steuerzahler und was vom Beitragszahler gezahlt werden? Der Beitragszahler ist nicht für alles, was gut und nützlich ist, zuständig; denn sonst würden wir eine Umverteilung von unten nach oben betreiben. Wenn der Beitragszahler zahlt, zahlen nicht alle - die Beamten und die Selbständigen nicht, und selbst die, die zahlen, zahlen nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Also stellt sich diese Frage auch aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit und aus Gründen der Entlastung der Lohnzusatzkosten.
    Ich gebe zu, daß sich diese Frage bei der Haushaltslage nicht von heute auf morgen löst. Laßt uns ein Stufenprogramm machen. Jedenfalls kann sie, wie ich glaube, nicht ausgeklammert werden. Übrigens hat sie die Koalition nie ausgeklammert. Wir haben die Aussiedlerfinanzierung aus der Beitragsfinanzierung herausgenommen und dem Steuerzahler übertragen.
    Die erfolgreiche Organisation des Hauptschulabschlusses - es gab großen Widerstand, ich erinnere mich an das Spektakel - ist eine Frage der Bildungspolitik und nicht des Beitragszahlers. Wenn die Schüler den Abschluß nicht schaffen, wieso ist der Beitragszahler, der Arbeitnehmer, der Handwerksmeister und der Arbeitgeber dafür zuständig? Wir haben neu organisiert gegen - wie ich zugebe - viel Widerstand aus den Ländern.
    Zu den älteren Arbeitnehmern. Ich sage, die Alternative darf nicht Sozialplan oder Vollerwerbsarbeit sein. Die Alternative muß lauten: Teilzeit mit Teilrente statt ganz heraus aus allem. Ich bin gegen ganz heraus. Das entspricht auch nicht den Bedürfnissen der älteren Arbeitnehmer.
    Ich glaube, daß die Teilzeit nur Schub bekommt, wenn sie an die Lebenslage und die besonderen Bedürfnisse der Menschen anknüpft. Ich sehe zwei Felder, in denen ein Schub entstehen kann. Dort, wo Mutter und Vater kleine Kinder erziehen, besteht ein Bedürfnis nach anderen Arbeitszeiten. Und die älteren Arbeitnehmer haben zwei Grundbedürfnisse: erstens mit dem Betrieb in Kontakt zu bleiben, aber zweitens weniger zu arbeiten als früher.
    Zur Arbeitslosenhilfe. Ich nehme das große Wort Reform gar nicht in den Mund. Aber der Frage muß doch nachgegangen werden: Soll die Bemessungsgrundlage für die Arbeitslosenhilfe unendlich gelten? Soll sie noch nach 20 Jahren nach dem ehemaligen Spitzenlohn bemessen sein? Das hatte das Arbeitsförderungsgesetz nie gemeint.
    Das geltende Recht sieht vor, daß nach drei Jahren individuell überprüft wird. D'as wäre eine Marktwertveranstaltung. Ich sage: Laßt uns das pauschal machen, aber nicht als kopflose, pauschale Abwertung, sondern nur nach einem Vermittlungsversuch mit den Langzeitarbeitslosen - es sind ja alles Langzeitarbeitslose -; denn die Gefahr ist, daß sie vergessen werden, daß sich die Vermittlung in erster Linie an die richtet, die es leichter haben, vermittelt zu werden, daß sie sozusagen in den toten Winkel der Anstrengungen geraten.
    Es kann doch nicht sein, daß unsere ganze Welt schon an solchen kleinen Veränderungen zusammenbricht. Herr Scharping hat gestern ein leidenschaftliches Plädoyer für Reformfähigkeit gehalten. Manchmal denke ich, die Kraft zu mutigen Überschriften ist umgekehrt proportional zur Bereitschaft zu kleinen Veränderungen. Manchmal kommt es mir so vor, als kommt der Gewichtheber auf die Bühne, kündigt einen Weltrekordversuch an, schnallt den Gürtel enger, bestreicht die Hände mit Magnesium, verneigt sich vorm Publikum und geht von der Bühne wieder runter. Das ist die ganze Veranstaltung.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich bin diese großen Theorien leid. Der Fortschritt und die Umstellung erfolgen immer nur schrittweise. Wir fordern nicht Tabula rasa. Ich sehe in aller Kürze eine große Reformaufgabe: breite Streuung des Eigentums, Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital. Das ist ein uneingelöstes Versprechen der sozialen Marktwirtschaft. 10 % der Bevölkerung besitzt die Hälfte des Vermögens, 25 % ein Drittel - und die restlichen 65 %?

    (Annelle Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie kommt das?)

    - Es gibt in der Einkommenspolitik eine Fixierung auf den Konsumlohn. Wir haben es nicht geschafft, eine breite Investivlohnphilosophie umzusetzen.
    Ich gebe zu, daß auch wir nicht den größten Druck gemacht haben. Wir gebrauchen dazu die Tarifpartner, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite; denn eine solche breite Eigentumsstreuung hat zwei Entlastungsfunktionen. Sie könnte erstens die Tarifpolitik von der Verkrampfung durch die Fixierung auf den Konsumlohn entlasten, und sie könnte zweitens die kollektiven Sicherungssysteme entlasten. Ich weiß auch, daß man da nicht immer draufsatteln kann.
    Das Eigentum hat eine zweifache Entlastungsfunktion. Ich finde es schon eine Provokation: Die Millionen Arbeitnehmer zahlen mit ihren Steuergroschen auch die Investitionsförderung im Osten, die sein muß. Aber das schlägt sich nicht in Eigentumstitel für diejenigen nieder, die diese Investitionen mitfinanzieren. Ich gebe zu, daß uns bisher noch keine intelligente Regelung eingefallen ist. Auch in Ihrer Regierungszeit ist über solche Mechanismen diskutiert

    Bundesminister Dr. Norbert Blüm
    worden. Aber jetzt haben wir genug diskutiert. Politiker sind nicht zum Besprechen, sondern zum Arbeiten eingesetzt. Deshalb müssen uns hier, wie ich glaube, im Sinne der Stabilisierung der Eigentumsordnung neue Wege einfallen.
    Der Umbau braucht manchmal Nachhilfe. Ich hoffe, daß die Tarifpartner es schaffen, eine eigenständige Regelung auch für das Schlechtwettergeld zu finden, das nicht der Allgemeinheit zu übertragen. Der Fortschritt hat es schwer. Es wäre im Sinne des Sozialstaates, das Risiko dort abzusichern, wo es entsteht, und nicht der Allgemeinheit aufzubürden.
    Noch eine wichtige Mitteilung wollte ich machen. Die ersten Ergebnisse der Pflegeversicherung zeigen, daß die Anträge auf stationäre Unterbringung zurückgehen und nach dem Urteil aller Fachleute weiter zurückgehen werden. Das ist das Ergebnis eines verstärkten Angebotes an ambulanter Hilfe. Wir brauchen auch stationäre Hilfe; deshalb brauchen wir auch den zweiten Schritt. Aber die stationäre Pflege darf nicht der normale Weg sein. Ich glaube, daß eine solche Veränderung sozialer und humaner Fortschritt sein kann und wirtschaftliche Entlastung bringt.
    Sie sehen, Wirtschaft und sozialer Fortschritt sind keine Gegensätze. Deshalb: Der Haushalt steht unter dem Motto „ Sparen und Gestalten" . Sparen ist notwendig, auch aus sozialen Gesichtspunkten. Um so mehr ist unsere Gestaltungskraft herausgefordert.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)