Rede von
Dr.
Uwe-Jens
Heuer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(PDS)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (PDS)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute schon mehrfach über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts diskutiert. Das Gericht hat zum drittenmal in kurzer Zeit mit einem Urteil, das die Rechte des einzelnen oder von Minderheiten schützt, heftige Kritik und große Aufregung bei den eher konservativ gesinnten Kreisen der deutschen Politik hervorgerufen. Im jetzigen Fall des sogenannten Kruzifix-Urteils haben in der ersten Aufregung bayerische Politiker sogar mitgeteilt, sie wollten dem Urteil den Gehorsam verweigern. Diese Politiker offenbarten damit den gleichen selektiven Rechtsgehorsam wie jene Steuerpflichtigen und Steuerflüchtigen, die Diebstahl verurteilen, aber nichts dabei finden, Steuern zu hinterziehen und ihr Vermögen am Fiskus vorbei in die Steueroasen zu schleusen.
Herr Geis hat am 21. August 1995 von der Gefahr gesprochen, daß durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der gewaltengeteilte Staat ruiniert wird. Das Bundesverfassungsgericht ist u. a. auch als Notbremse gedacht für den Fall, daß Politiker den Rahmen der Verfassung verlassen oder sich dazu anschicken. Das war von den Konstrukteuren des Grundgesetzes gewollt. Wenn Zweifel auftauchen, ob sich die Politik in den Grenzen der Verfassung hält, sollte darüber ein Gericht entscheiden. Das ist dann notwendigerweise eine Entscheidung über Politik. Insofern gibt es natürlich einen Bereich einer gewissen Vermischung der Gewalten. Die gibt es übrigens auch, wenn Richter von Politikern ernannt oder gewählt und befördert oder nicht befördert werden.
Will man diese gegenseitige Kontrolle von Politik und Rechtsprechung einschränken oder abschaffen? Es gibt keine Ideallösung. Bei aller Problematik, die einer solchen Kontrolle und einer Korrektur parlamentarischer Mehrheitsentscheidungen durch ein Verfassungsgericht innewohnt - das ist im Zweifel eine Einschränkung des Souveräns -, würde ihre Schwächung doch auch zu einer Schwächung der Rolle des Bundesverfassungsgerichts und des Rechts allgemein führen.
Ich weise jedenfalls namens der Abgeordnetengruppe der PDS die am Bundesverfassungsgericht geübte Schmähkritik entschieden zurück, die versucht - ich teile in diesem Punkt die Auffassung des Kollegen Beck -, das Gericht einzuschüchtern, um im Interesse einer bestimmten politischen Richtung Einfluß zu nehmen.
Der Vorwurf, das Prinzip der Gewaltenteilung werde verletzt, kommt eigenartigerweise aus dem gleichen politischen Lager, das es mit der Gewaltenteilung bei den Kampfeinsätzen der Bundesluftwaffe über dem ehemaligen Jugoslawien nicht so genau nimmt. Das Bundesverfassungsgericht hat solche Einsätze für verfassungsgemäß erklärt, wenn und soweit der Bundestag sie genehmigt.
Man kann über diese Entscheidung verschiedener Auffassung sein. Ich habe meine Einwände. Aber wie auch immer: Der Bundestag hat Kampfeinsätze unter der Bedingung genehmigt, daß sie den Friedenstruppen der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien die Erfüllung ihres Mandats ermöglichen oder ihren eventuellen Abzug unterstützen.
Ich meine, daß diese einschränkenden Bedingungen nicht erfüllt sind. Es geht bei den jetzigen Einsätzen der Tornados nicht im mindesten um UNO-Truppen. Das Verständnis dieser Regierung von Gewal-
Dr. Uwe-Jens Heuer
tenteilung besteht also offenbar darin, daß das Verfassungsgericht und das Parlament beschließen können, was sie wollen, und die Regierung gleichwohl und unabhängig davon tun kann, was sie will.
Herr Scholz - er ist nicht mehr da - hat davon gesprochen, daß wir den kraftvollen schlanken Staat haben wollen. Ich möchte nicht gern, daß das Symbol des kraftvollen schlanken Staates nun der Tornado ist.
Das Kruzifix-Urteil und die bevorstehenden Nachwahlen liefern wieder einmal den Anlaß, grundsätzliche Veränderungen beim Schutz des Grundgesetzes durch Rechtsprechung anzumahnen. Es gibt eine Diskussion darüber, ob es richtig ist, daß Personen, die derart weitreichende Entscheidungen treffen, der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind. Sie werden von einem Konklave gewählt, das seinerseits der Öffentlichkeit ebenfalls unbekannt ist und dessen Verfahren zumindest nicht mit dem übereinstimmt, was der unvoreingenommene Leser Art. 94 Abs. 1 des Grundgesetzes entnimmt.
Auch wenn Adolf Arndt das damals befördert hat, meine ich, man sollte das überdenken. Ich meine nicht, daß es der Demokratie, dem Bundesverfassungsgericht oder den Richtern schadet, wenn der ganze Vorgang etwas öffentlicher wird. Über die Frage einer öffentlichen Anhörung sollte man diskutieren.
Noch ein Gedanke zum Schluß. Unser Kollege Norbert Geis hat am 22. August 1995 - ich zitiere ihn zum zweiten Mal; das zeigt unsere enge Verbundenheit - im WDR bestätigt, daß in der Kruzifix-Sache die Bayerische Staatsregierung nunmehr ein Gesetz vorlegen will, in dem die vom Bundesverfassungsgericht für grundgesetzwidrig erklärte Bestimmung erneut enthalten sein soll, damit die Kläger wiederholt diese Bestimmung gerichtlich angreifen müssen.
Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, was das heißt: Die Regierung eines Bundeslandes legt einen Gesetzentwurf vor im vollen Wissen um seine Verfassungswidrigkeit. Ich bin gespannt, ob bei einem solchen Verfassungsverständnis, das bewußt den Gehorsam gegenüber dem Bundesverfassungsgericht verneint, die Bayerische Staatsregierung und die sie tragende Partei im nächsten Verfassungsschutzbericht als verfassungsfeindliche Organisationen erwähnt werden.
Danke schön.