Verehrter Herr Kollege Scholz, da Sie mich so nett gefragt haben, sage ich Ihnen ausdrücklich: Nein, es ist mir natürlich nicht entgangen, sondern genau dies hat mich so unglaublich beunruhigt, und zwar einfach deshalb, weil ich schon die Trennung, die Sie vornehmen, daß Sie offensichtlich meinen, Innenpolitik sei etwas, was mit sozialem Rechtsstaat und auch mit dem Staatsmodell und mit seinen Staatsaufgaben nichts zu tun habe, für falsch halte.
Ich habe Sie nur darum gebeten, daß Sie dieses vielleicht noch einmal überdenken. - Herr Scholz muß stehenbleiben; das ist wirklich schön; deswegen ziehe ich meine Antwort noch ein bißchen hinaus. - Wir werden über diese Fragen in den nächsten Jahren noch reden müssen.
Nur, diejenigen, die an diesem falschen Weg leiden - damit komme ich zu dem zweiten Punkt, der mich in Ihrer Rede sehr gestört hat -, haben dann unglaublich weniger Lebenschancen. Das ist dann nicht nur deren individuelles Problem, sondern wir merken das bei den Werten, und wir merken das auch bei der Organisation unserer Gesellschaft. - Jetzt mache ich weiter.
- Der Herr Präsident entscheidet darüber, ob Sie sich setzen dürfen oder nicht - wenn Sie sich diese Entscheidung nicht selber zutrauen.
Der zweite Punkt war Kinder- und Jugendkriminalität, die Sie z. B. mit Überlegungen über eine notwendige Entlastung im Bereich der Kleinkriminalität verbunden haben. Mir wäre es schon ganz recht, wir könnten das wieder ein bißchen auseinanderziehen.
Der erste Punkt ist doch der, daß der Umfang der Aufgaben im Justizbereich gerade im Zusammenhang mit der Verbrechensbekämpfung größer geworden ist. Wer das effizient bekämpfen will, darf heute diese unsinnige und schädliche Inanspruchnahme der Ressource Justiz nicht weiter mitmachen.
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Warum haben denn bei uns heute Staatsanwaltschaften und Gerichte so furchtbar lange Zeiten, wenn es z. B. um die Verfolgung schwieriger Fälle der Wirtschaftskriminalität geht? Das ist doch einfach deswegen der Fall, weil sie sich mit Kleinkriminalität in einem solchen Umfang herumschlagen müssen, der jedem, dem es wirklich um eine effiziente Sicherung des Rechtsstaates geht, die Überlegung aufnötigen sollte, ob es da nicht Strafmöglichkeiten gibt, die erheblich weniger Ressourcen und erheblich weniger Bürokratie voraussetzen.
Genau diese Frage, die ich jetzt von diesem Pult zum dritten Mal innerhalb der letzten anderthalb Jahren stelle, werden wir aufnehmen müssen, und das werden wir auch tun.
Wir werden dazu auch ein Anhörungsverfahren machen. Herr Geis, ich rechne da auch mit Ihrer Unterstützung. Wir sind hier heute in einer so kleinen Gruppe zusammen, daß wir das wirklich vernünftig miteinander bereden können.
Der zweite Punkt ist die Einstiegskriminalität Ladendiebstahl. Herr Scholz, mir wäre es schon ganz recht, Sie würden dazu einmal die Zahlen zur Kenntnis nehmen; sie sind nämlich wirklich schrecklich. Ich habe sie mir extra heraussuchen lassen.
Wenn ich mir bei der Jugendkriminalität die Ladendiebstähle bei den 14- bis 18jährigen anschaue, stelle ich fest, daß es im letzten Jahr 50 000 waren. Die Steigerungsrate beträgt etwa 20 %. Das gilt für die 14- bis 18jährigen. Sie gehören schon zum Bereich des Jugendstrafrechts.
- Herr von Stetten, ich würde mit Ihnen wirklich gerne diskutieren, aber erst nachdem Sie zugehört haben.
Herr Scholz, gucken wir uns doch einmal die Zahlen der noch nicht Strafmündigen an: Das waren im letzten Jahr 30 000. Das heißt, die Zahl ist im Verhältnis erschreckend hoch, und sie steigt in einem Ausmaß, das uns allen nicht nur zu denken geben müßte, sondern dringend Anlaß zum Nachdenken geben müßte. Aber was heißt das jetzt?
Wenn Sie sich dann einmal anschauen, daß 1992 fünfmal so viele Kinder - d. h. die Altersgruppe unter 14 Jahren, nicht strafmündig - und dreimal so viele Jugendliche von Sozialhilfe leben müssen, dann fällt Ihnen doch eine Verbindungslinie in diesem Bereich auf.
Der Punkt, über den wir uns hier unterhalten müssen, ist doch folgender - das hat mir vorher schon nicht gefallen -: Es hat keinen Sinn, die ganzen Schwierigkeiten immer getrennt voneinander zu sehen. Dies bringt keine Verbesserungsmöglichkeiten.
Vielmehr müssen wir repressiv die Kriminalität bekämpfen, aber bitte gleichzeitig auch die Ursachen. Die Ursachen sind gerade bei unseren Kindern und bei den Jugendlichen doppelt deutlich. Bei denen kann man noch viel mehr machen. Wenn sie keine kriminelle Karriere anstreben, ist das Leid, das sie verursachen, und sind auch die Kosten - wir befinden uns hier in der Haushaltsdebatte - für die Gesellschaft sehr viel besser zu ertragen.
Ich werbe darum, nicht den Sprüchen derer zu folgen, denen, weil die Kriminalziffern im letzten Jahr gesunken sind, offensichtlich nichts Besseres einfällt, als z. B. zu sagen, man solle das Jugendstrafrecht nicht mehr oder nur noch in Ausnahmefällen für die 18- bis 21jährigen, also für die Heranwachsenden, anwenden.
Erstens gilt das sowieso nur bei jugendspezifischen Verfehlungen - das weiß jeder, der damit zu tun hat -, und zum zweiten steckt darin noch die gedankliche Verwechslung, als sei Jugendstrafrecht weich und Erwachsenenstrafrecht hart. Das ist aber dummes Zeug.
Wenn man sich einmal die Zahlen anschaut, sieht man, daß ein Jugendstrafrichter, der sein Handwerk versteht und Zeit hat, angemessen, sehr viel präziser und differenzierter, auf den Punkt genau mit Strafe, Erziehungsmaßnahmen oder beidem an die jungen Leute herankommt, als man das im Erwachsenenstrafrecht kennt.
Wenn wir das gleiche Ziel haben, muß deswegen unsere Forderung sein, daß die Jugendstrafrichter ausreichend Zeit haben und - auch das ist ein Punkt, für den ich werbe - die Differenzierungsmöglichkeiten bei den Strafen, die sich im Jugendstrafrecht bewährt haben, in das Erwachsenenstrafrecht übernommen werden.
Meine Damen und Herren, jetzt möchte ich noch einmal auf die Justizdebatte und das eingehen, was die Frau Bundesministerin gesagt hat. Weil der Justizhaushalt ein Verwaltungshaushalt ist, hätte ich furchtbar gern einmal darüber geredet, was sie im rechtspolitischen Bereich tut und welche Fortschritte das nach sich zieht. Daß da völlige Fehlanzeige herrscht, fällt auf. Was aber stört, ist, daß wir im wesentlichen das ganze letzte Jahr für die Aufgaben der Rechtspolitik verloren haben, wenn wir Rechtspolitik als das begreifen, was sie sein muß, nämlich zum einen als Stärkung des demokratischen und rechtsstaatlichen Sozialstaats und zum andern als ganz klarer Beitrag für den Schutz und die Stärkung der sozial Schwächeren.
Es kann mir doch keiner sagen, da gäbe es nichts zu tun. Wir wissen doch alle, daß unglaublich viel zu tun bleibt. Sie haben jetzt die Frage des Kindschaftsrechts angesprochen und wissen ganz genau, daß ich da mit Ihnen ganz ungeheuer sympathisiere. Wenn
Dr. Herta Däubler-Gmelin
man sich aber anschaut, wie tröpfchenweise etwas und dann wieder überhaupt nichts, außer den Ankündigungen, getan wird, kann man schon ungeduldig werden.
Ich will auf das Trauerbeispiel „Vergewaltigung in der Ehe", wo es auch um den Schutz von Schwächeren geht und über das wir jetzt schon x-mal geredet haben, gar nicht ausführlich eingehen, obwohl es sich wirklich lohnen würde.
1988 ist ein Entwurf gescheitert. Danach haben wir immer wieder dafür geworben, unserem Entwurf zuzustimmen. Das war nicht möglich, weil das Gezerre zwischen Union und F.D.P. dies einfach verhindert hat. Wir haben uns dann ungeheuer gefreut, als Anfang 1995 die Bundesregierung im Rahmen einer Äußerung zu einem Bundesratsentwurf gesagt hat, daß der strafrechtliche Schutz von Frauen vor sexueller Gewalt in der Ehe verbessert werden soll. Da haben wir gedacht: Jetzt endlich haben wir es!
Dann aber hat das Bundesjustizministerium am 13. Februar einen Entwurf vorgelegt, der bis auf einen Punkt mit dem Entwurf identisch ist, der schon 1988 gescheitert ist. In bezug auf das Absehen von Strafe und die Widerspruchsrechte haben Sie unsere Argumentation übernommen; das fand ich gut. Am 11. März dann hat die „Welt" die Anweisung des Bundeskanzleramtes gemeldet, die Beratungen der Regierung über das Vorhaben einzustellen.
Am 14. März meldete Reuter - das fand ich nun wirklich gut -, daß die Bundesjustizministerin einen gemeinsamen Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen anstrebt. Frau Nolte hat dann am 17. Juli eine Studie vorgestellt - das war, glaube ich, die 5 382. zu diesem Thema, die im übrigen wieder das gleiche Ergebnis, jedoch mit aktuellen Zahlen hat -, in der stand, daß zwischen 1987 und 1991 ungefähr 350 000 Frauen von den zu diesem Zeitpunkt mit ihnen verheirateten und zusammenlebenden Ehemännern vergewaltigt worden sind. Da haben wir gedacht: Jetzt müßte es doch eigentlich irgendwann einmal schnackeln. Aber wieder nichts, Totenstille.
Wenn man noch die Fälle einbezieht, an die man auch denken muß, bei denen zwei Geschiedene zusammenleben oder Verheiratete, die aber von ihrem Ehepartner getrennt leben, handelt es sich um 510 000 Frauen.
- Lieber Herr von Stetten, seien Sie bitte so freundlich, in diesem Punkt nicht den Begriff „Horrorzahlen" zu benutzen. Wenn gerade Sie das tun, bin ich versucht, aus Ihrem Brief zu zitieren. Soll ich das machen?
- Da Herr von Stetten mich gerade dazu ermächtigt hat, will ich das gerne tun.
- Nein, noch nicht. Das Zitat befindet sich auf meiner zweiten Seite. Ich finde das aber sehr liebenswürdig.
Ich lese Ihnen jetzt einfach aus dem Brief vor, zitiert in der „Frankfurter Rundschau" vom 18. März:
Zum ehelichen Leben gehört auch, die „Unlust" des Partners zu überwinden ... Wenn bei dem „Werben" der anfängliche Wille „heute nicht" von der einen oder anderen Seite überwunden wird, kann dies ja wohl kaum als Vergewaltigung angesehen werden, selbst wenn der eine Teil den Beischlaf „über sich ergehen läßt" oder ihn als Mann „vollzieht", um „endlich seine Ruhe zu haben" .
- Weil ich Sie sehr schätze, verkneife ich mir Kommentare.
Nicht einmal bei einem so selbstverständlichen Fall ist es bisher gelungen, die Rechtspolitik auf die Ziele unserer Verfassung auszurichten. Dabei werden Sie mit großer Sicherheit niemanden finden, der heute, wenn er den Straftatbestand der Vergewaltigung neu zu definieren hätte, die Trennlinie zwischen strafbar und nicht strafbar ausgerechnet beim Trauschein ziehen würde.
- Ja, aber der ist so schlecht, daß ich ihn lieber nicht vorlese. Das können sie nachher selber tun.
- Dann ist es vielleicht der dritte. Ich habe hier noch einen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einen weiteren Punkt aufgreifen, der heute keine große Rolle gespielt hat, der von uns aber auch dringend ins Auge gefaßt werden muß. Wir machen, glaube ich, gerade in der Rechtspolitik noch einen Fehler, der sich auf unseren Rechtsstaat und auch auf unsere Gesellschaft im Augenblick schon schädlich und in den nächsten Jahren noch sehr viel nachteiliger auswirken muß. Ich meine folgendes: Wer sich z. B. mit Richtern unterhält - Richtern übrigens aller Gerichtsbarkeiten, auch der unteren Ebenen -, mit Staatsanwälten unterhält, mit Anwälten unterhält oder wer in die Kriminalstatistiken hineinschaut, wird feststellen, daß heute die Justiz und das, was sie tut, immer weniger national gedacht werden kann.
In der polizeilichen Kriminalstatistik stellen wir nicht nur in den neuen Ländern, sondern auch überall in der Bundesrepublik fest, daß seit der Öffnung der Grenzen die Straftaten mit Grenzberührung -
Dr. Herta Däubler-Gmelin
ich will es jetzt einmal ganz weit fassen - immer stärker zunehmen, daß übrigens ein Drittel dieser immer so beschworenen organisierten Kriminalität international organisiert ist. Wenn Sie heute einfach einmal fragen, wie viele Verfahren mit Auslandsberührung - nicht unbedingt Strafverfahren, sondern auch in Handelssachen - unsere Richter heute haben, dann stellen Sie fest: Auch hier gibt es einen unheimlich hohen Prozentsatz. Was heißt das? Das heißt, daß wir uns diese internationale Verflechtung in Europa in Richtung EU, aber auch nach Osten sehr viel stärker ins Bewußtsein rufen müssen. Warum? Weil bei uns immer noch, wenn ein Verbrechen passierte, gar nicht geschaut wird, was das für eines ist. Oder wenn irgend etwas ansteht, wird nicht mehr geschaut, was das ist. Vielmehr wird als Reaktion immer der nationale Gesetzgeber aufgerufen.
Ich sage Ihnen, ich habe große Zweifel, daß wir an die organisierte Kriminalität oder an die Geldwäsche ausgerechnet mit der Kronzeugenregelung herankommen. Sie wissen von mir, daß ich diese Form einer Regelung nur dann anwenden will, wenn wirklich nichts anderes hilft, weil mit der Kronzeugenregelung immer eine gewisse Durchbrechung der rechtsstaatlichen Prinzipien verbunden ist.
Gerade bei dieser Art von Kriminalität wissen wir ganz genau, daß die Antwort national viel weniger gegeben werden kann als durch Zusammenarbeit nicht nur im polizeilichen Bereich, sondern auch im Justizbereich, in der Abstimmung von Grundsätzen, in der Abstimmung von Gesetzen und in der Abstimmungsmöglichkeit im tagtäglichen Justizverhalten. Der Amtsrichter aus Offenburg, den ich ständig zitiere - außerhalb der polizeilichen Nacheile mit Frankreich, die wenigstens mittlerweile einigermaßen geregelt wurde -, hat es immer noch wahnsinnig schwer, wenn er mit seinem Kollegen in Bordeaux gemeinsam versuchen muß, nach dem jeweiligen Gesetz Gerechtigkeit durchzusetzen. Das geht nicht. Was ich damit sagen will, ist: Wenn auf die modernen Herausforderungen im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung immer nur nationalstaatlich durch Gesetze regiert wird, hat es zwei Folgen: Erstens nützt es sehr viel weniger, als diejenigen, die es vorschlagen, glauben, und zum zweiten macht es den Rechtsstaat an einer Stelle kaputt, an der wir es eigentlich nicht bräuchten.
Meine Damen und Herren, „Rechtsstaat kaputtmachen" bringt mich zu dem letzten Stichwort Bundesverfassungsgericht. Sie wissen, ich kritisiere gerne, genauso wie Sie. Aber wer glaubt, man könne hier einerseits die Chaostage geißeln und man brauche andererseits nicht demokratisch gewählte Politiker, die zum Boykott eines Urteils aufrufen oder gar auffordern, einen Richter zu entfernen - Sie wissen schon, wen ich meine -, zu tadeln, der ist nicht nur nicht glaubwürdig, sondern der spricht auch seinen eigenen Prinzipien der Glaubwürdigkeit Hohn,
der ist nicht nur selber kein gutes Vorbild, sondern bei dem müssen wir bezweifeln, daß er es ernst meint, wenn er über Kriminalitätsbekämpfung oder Werte redet.
Ich denke, diese Diskussion werden wir fortsetzen müssen. Meine Bitte an Sie ist, eines zu tun, nämlich immer dann, wenn einem das Urteil nicht gefällt, es durchgehen zu lassen. Auch mir gefällt manches nicht. Aber vergleichen Sie einmal die Äußerungen des Herrn Bundeskanzlers zur Reaktion aufgebrachter Frauen in Sachen § 218, die nicht gewählte Abgeordnete oder Politikerinnen waren, mit der milden Leisetreterei - so will ich es einmal nennen -, als es eigentlich darum gegangen wäre, daß die für die Verfassung zuständigen Minister in großer Deutlichkeit Kollegen oder ehemalige Kollegen zur Ordnung rufen, die die Grenze ganz eindeutig überschritten haben. Das geht nicht.
Danke schön.