Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit Blick auf die soeben gemachten außenpolitischen Bemerkungen möchte ich bei dieser Standortbestimmung der Politik der Bundesrepublik Deutschland folgendes sagen:
Wenn wir von den aktuellen Fragen, zu denen hier Stellung genommen worden ist - Atomtests, die Situation im ehemaligen Jugoslawien, die Schwierigkeit, daß wir es am Anfang und am Ende dieses Jahrhunderts mit dem Phänomen Balkan und Sarajevo zu tun hatten bzw. haben; ich möchte dazu jetzt weiter nichts sagen -, einmal absehen, dann ist meiner Meinung nach das Entscheidende an der außenpolitischen Situation mit zwei Ereignissen zu beschreiben, auf die ich hinweisen möchte. Sie klangen in der Rede des Bundeskanzlers an.
Das erste Ereignis war das Ende der Besatzungszeit in der ehemaligen DDR im vergangenen Jahr. Viele werden sich an die - jedenfalls mich sehr bewegenden - Bilder in Treptow erinnern an den Abzug, an das Lied der russischen Truppen. Das zweite Ereignis ist gar nicht so lange her. Es war im Mai, als die ehemaligen Kriegsalliierten in Berlin den Weg der Bundesrepublik in eine gemeinsame Zukunft beschrieben haben. Vor allem der französische Staatspräsident hielt dazu eine bemerkenswerte Rede.
Diese beiden Ereignisse beschrieben für mich viel mehr als viele der außenpolitischen Diskussionen und Einzelthemen, welche Entwicklung und welche Erfolge der Außenpolitik, der Bündnispolitik und der internationalen Politik der Bundesrepublik Deutschland hinter uns liegen.
Mir geht es bei dieser Debatte natürlich um einen anderen Punkt: Wie ist eigentlich die innere Befindlichkeit der Deutschen? Wie sehen die Entwicklungen im Einigungsprozeß in Deutschland aus? Ich habe den Eindruck - selbst wenn ich von der berechtigten und sozusagen systemimmanenten Kritik einer Opposition ausgehe -, daß hier sehr viele ausgesprochen verzerrte Bilder beschrieben worden sind.
Meine Damen und Herren, ich will alle dazu auffordern - nicht nur die Mitglieder dieses Hauses -, einfach einmal bewußt umherzugehen. Der, der heute offenen Auges durch die neuen Länder fährt, zu den zahlreichen Baukränen hinaufschaut oder in die tiefen Baugruben hinabblickt, der mit den Menschen in den wiederhergestellten Straßen redet und aufgebaute Infrastruktur sieht, der mit Schülern und Lehrern in den Schulen oder mit Kranken und Alten in den sozialen Einrichtungen spricht, weiß, welche Fortschritte es gegeben hat.
Ich finde, es ist in der Debatte auch notwendig, sich über die Frage zu unterhalten: Wie lange ist das eigentlich her, seit wir diese Chance haben?
Nach meiner Meinung ist schon die Begrifflichkeit - „Es ist schon fünf Jahre her" - falsch. Herrgott noch mal, es ist erst fünf Jahre her; erst seit fünf Jahren haben wir die Möglichkeit, dieses Land mit einer neuen Verwaltung, mit einem neuen Bildungssystem, mit einer neuen Demokratie - ein wiedervereinigtes demokratisches Deutschland - neu aufzubauen.
Die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West ist aus meiner Erfahrung in den letzten fünf Jahren weit fortgeschritten. Inzwischen haben wir dabei auch einige gutachterliche Unterstützung in der Beweisführung erhalten. Ich denke z. B. an das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle, das bemerkenswerte Zahlen zusammengestellt hat. Ich will Sie jetzt nicht mit den einzelnen Zahlen langweilen, aber beispielsweise doch die Verdoppelung des Arbeitseinkommens und die für uns alle so wichtige Frage der Überschuldung der privaten Haushalte nennen, um die wir uns alle Sorgen gemacht haben, die aber in dieser Breite, obwohl es dort viel Not gibt, nicht eingetreten ist. Vielleicht ist auch der Hinweis erlaubt, daß dieses Institut im Auftrag des „Spiegel" tätig gewesen ist, und der hat sicherlich nicht den Ruf, besonders regierungsfreundlich zu sein und von „blühenden Landschaften" reden zu wollen, nur um den Bundeskanzler in irgendeiner Weise zu unterstützen.
Auch auf einen anderen Punkt kommt es mir an; vielleicht lesen einige von denen, die jetzt hier nicht dabei sind, das im einzelnen einmal nach. Es geht beim Zusammenwachsen von Ost und West nicht nur um finanzielle, nicht nur um wirtschaftliche Fragen, es geht vielmehr auch um emotionale Fragen. Es geht um Fragen der Anerkennung von Lebensläufen, es geht darum, daß man aufeinander zugeht und miteinander redet, und es geht darum, daß man beispielsweise folgendes begreift: Der Lebensentwurf eines ehemaligen Diplomaten - ich gehe in meinem Beispiel so weit, daß ich jemanden nenne, der mit dem alten System völlig verbunden war -, der heute einen guten Job hat, Autos verkauft, ist natürlich für diesen selbst psychologisch zutiefst in Frage gestellt. Das sind die Themen, das ist die notwendige Aufarbeitung, die man ebenfalls machen muß.
Hinzu kommt noch ein anderer Punkt: Es gibt eine ganze Reihe von Themen, bei denen wir, wenn wir heute neu entscheiden würden, im Einigungsvertrag einiges ändern würden - selbstverständlich. Aber auch diese These will ich einfach aufstellen: Angesichts der Fülle von Themen und Projekten finde ich es bemerkenswert, wie wenig Fehler gemacht worden sind.
Es mag den einen oder anderen überraschen, aber ich bin leidenschaftlich der Auffassung, daß man in einigen Punkten noch einen Nachholbedarf zu befriedigen hat, daß man Veränderungen durchsetzen muß, beispielsweise in Fragen des Rentenüberleitungsrechts. Da bin ich ganz strikt - auch wenn es
Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen
dem einen oder anderen nicht gefällt, formuliere ich es so - der Auffassung: Rentenrecht eignet sich nicht dazu, im Hinblick auf einzelne Gruppen Vergangenheit pauschal aufzuarbeiten.
In diesem Zusammenhang ist auch die Frage der Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen zu nennen. Es gibt also eine ganze Reihe von Punkten.
Ich möchte auf einen weiteren, psychologischen Punkt hinweisen: Im System der ehemaligen DDR gab es einen ganz anderen Eigentumsbegriff. Die Frage der Entschädigung und Rückerstattung bei der Vermögensregelung mußte sozusagen auch vom Rechtsbewußtsein zunächst aufgearbeitet werden. Auch das ist eine Sache, die nicht von heute auf morgen geschehen kann.
Mir kommt es darauf an, daß wir uns alle darüber im klaren sind: Es gibt nicht nur die finanziellen Fragen, sondern es gibt auch Themen, die etwas mit inneren Befindlichkeiten, mit Lebenserwartungen zu tun haben; übrigens mit Lebenserwartungen, die in diesem System zu realisieren bewußt unmöglich gemacht wurde und bei denen es einen großen Nachholbedarf gibt. Die Menschen erwarten, daß wir ihnen heute Chancen bieten, die ihnen vorher verbaut waren. Es geht um Lebensentwürfe auch derjenigen, die sich in diesem System - übrigens verfolgt und überwacht bis in die Nischen - um Entwicklung bemüht haben.
Meine Damen und Herren, die Kritiker des Bundeskanzlers im Hinblick auf die schon sprichwörtlichen „blühenden Landschaften" lassen bei ihrer - aus meiner Sicht fast hämischen - Freude über das Ausbleiben eines utopischen Entwicklungssprungs Lebenserfahrung und auch Bodenhaftung vermissen. Übrigens verstehen sie von dem Bild „blühend" - das hat etwas mit Botanik zu tun - überhaupt nichts. Erst kommt das Säen, dann das Jäten und Ackern, dann kommt die Blüte, und die Früchte lassen sich erst danach ernten. Wenn wir uns das vor Augen halten und beschreiben, wie die aktuelle Situation ist, sind wir schon einen erheblichen Schritt weiter.
Fünf Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung müssen wir dennoch feststellen, daß wir trotz aller Erfolge, die wir nicht kleinreden dürfen, noch keineswegs am Ziel, sondern mitten im Strom sind und Kurskorrekturen natürlich jederzeit möglich, in einigen Punkten auch notwendig sind. Aber ich will klar sagen: Pferde mitten im Strom wechseln dürfen wir dabei nicht; sonst machen wir zuviel kaputt.
Mir fällt eines auf - wenn ich die Debatte richtig verfolgt habe, hat Kollege Schäuble dazu schon einige Anmerkungen gemacht -: Es gibt Kritiker aus den Oppositionsparteien - Herr Kollege Thierse ist leider nicht da, ich würde ihn gern selber ansprechen -, die den Einigungsvertrag wegen der durchaus vorhandenen Notwendigkeit, neue, zusätzliche Entscheidungen zu treffen, einfach als „Dokument ideologischen Denkens" und als „Resultat erfolgreicher westlicher Lobbyarbeit" kritisieren und deswegen als „kaum wiedergutzumachenden Fehler" bezeichnen.
Meine Damen und Herren, wer die damals ohne Vorbild und unter Zeitdruck entstandene Grundlage der deutschen Einigung derart abqualifiziert, setzt sich doch einem bestimmten Verdacht aus. Ich möchte den Kollegen Thierse - weil ich ihn viel zu sehr schätze - davor bewahren und ihn auffordern: Seien Sie in Ihren Formulierungen etwas vorsichtiger! Sie kommen sonst in die Nähe von Leuten, die vorhin geredet haben. Was Herr Gysi vorgetragen hat, war doch eine Brüskierung der Menschen. Ich empfand es in einigen Punkten als unverschämt.
Er ist jetzt leider nicht hier. Ich sage ihm sehr deutlich: Mir als Berliner muß man nicht beschreiben, welchen Charakter ein System mit soviel Mauertoten hatte. Dies hier schönzureden finde ich schlicht eine Unverschämtheit.
Sich überall hinzustellen und den Eindruck zu erwekken, man habe die Lösung für alle aktuellen Probleme, ist nicht nur unglaubwürdig, sondern - - Ich komme an dieser Stelle immer in die Gefahr, unparlamentarische Formulierungen zu gebrauchen, Frau Präsidentin. Deswegen lasse ich das im Augenblick sein.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, was die machen, ist ein Stück Bauernfängerei. Sie haben erst die Kane in den Dreck gefahren, jetzt analysieren sie einen Teil, vergessen dabei aber ihre eigenen Analysen der Situation des Jahres 1989. Ich könnte sie Ihnen alle im einzelnen vortragen, von wissenschaftlichen Instituten verfaßt, von deren Mitarbeitern einige gegenwärtig im Parlament sitzen. Jetzt wollen sie glauben machen, daß alle Probleme von heute auf morgen beseitigt werden können. Ich kann den Bürgerinnen und Bürgern in allen neuen Ländern nur sagen: Wenn Sie auf die setzen, dann setzen Sie falsch, denn wegen der überhaupt nicht vorhandenen Glaubwürdigkeit der Repräsentanten der Nachfolgepartei der SED nimmt ihnen niemand die Ernsthaftigkeit der Analyse ab, und das gerät zum Nachteil der Menschen.
Ich war bei den Formulierungen des Kollegen Thierse.
- Ich habe ihn ausdrücklich in Schutz genommen. Ich habe gesagt: Er muß darauf achten, daß er durch diese Art von Formulierung nicht in die Nähe derer gerät, zu denen er sicher nicht gehört.
Aber ich komme noch zu einem anderen Punkt. Es gibt, Herr Kollege, auch hier Parlamentarier und Politiker in Berlin, die der Auffassung sind, daß man mit der PDS durchaus ganz eng zusammenarbeiten
Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen
könne. Das ist meiner Ansicht nach allerdings ebenfalls ein Skandal. Es ist vor allen Dingen gegen sozialdemokratische Traditionen. Langfristig werden sich die Sozialdemokraten umsehen, wenn sie einen solchen Weg gehen.
Es ist ja leider so, daß manchmal im Unterbewußtsein - das will ich hier ausdrücklich zugestehen - nicht nur von Vertretern der PDS die Entwicklung des Jahres 1989 als gesellschaftspolitische Niederlage angesehen wird. Aber, meine Damen und Herren: „Das ist ein weites Feld." Damit will ich versuchen, Fontane richtig zu zitieren.
Für viele Diktaturnostalgiker im Kielwasser der alten SED ist der Sozialismus offensichtlich unbesiegt im Felde.