Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es macht sich immer ganz gut, Herr Bundeskanzler, wenn man am Beginn einer Rede seine innere Befindlichkeit schildert.
Sie haben das getan; ich will das auch tun.
Mir geht es nämlich wie Ihnen: Haue ich jetzt richtig drauf, schreibt die Presse vermutlich, wir wollten ablenken. Bin ich sehr zurückhaltend, heißt es, wir hätten unsere Angriffslust verloren.
Ich will es andersherum versuchen und Ihnen bei einer Stelle zustimmen, bei der Sie es vielleicht nicht vermuten. Als Sie in bezug auf eine bestimmte Diskussion in meiner Partei gesagt haben „Was zuviel ist, ist zuviel” , habe ich aus vollem Herzen zugestimmt. Ich sage Ihnen: Deshalb haben wir das auch entschieden. Derjenige von uns, der Sie ablösen wird, heißt Rudolf Scharping, und dort sitzt er.
- Herr Waigel, wenn Sie mal wieder Opposition machen dürfen, wird Ihnen das Lachen hoffentlich nicht vergehen. Ich hoffe, es wird Ihnen so viel Spaß machen, wie mir jetzt schon nicht mehr, weil es langsam Zeit wird.
Wenn es noch jemanden gibt, der Bundeskanzler werden will, was in Deutschland ja nicht verboten ist,
Günter Verheugen
dann ist das nur ein Zeichen dafür, daß die Aussichten so ungünstig nicht eingeschätzt werden. Nach dem, was Ihre beiden Koalitionsstützen Schäuble und Gerhardt heute morgen hier geboten haben, muß ich sagen: Von Dynamik, von Reformgeist, von Schwung ist in Ihrer Koalition aber auch nichts mehr zu spüren.
Diese wirklich müde Pflichtübung, die die beiden heute morgen hier abgeliefert haben, zeigt mir schon, daß wir mit unserer Kritik an der völlig richtigen Stelle sind. Sie haben keine Vorstellung mehr davon, wie Sie wirklich die Zukunft unseres Landes gestalten können.
Herr Bundeskanzler, vergegenwärtigen Sie sich noch einmal Ihre eigenen Worte aus Ihrer Regierungserklärung zu Beginn dieser Legislaturperiode; ich habe sie noch gut in Erinnerung. Dort kamen dauernd Worte wie „Innovation", „Reform", „Erneuerung", „Dynamik" vor. Aber was haben Sie in der Zwischenzeit getan? Wo sind die Erfolge, wo sind die Ergebnisse einer Politik, die angeblich auf Erneuerung und Modernisierung setzt?
Herr Scharping hat Ihnen dazu heute morgen eine Reihe von Fragen gestellt, die Sie nur zum Teil beantwortet haben. Ich stelle also fest: Der Bundeskanzler beantwortet die Frage nicht, ob seine Koalition das System der gesetzlichen Sozialversicherung grundlegend verändern will oder nicht.
Sie haben zwar von Umbau gesprochen, aber zu denjenigen in Ihrer Koalition, die alle paar Wochen die Öffentlichkeit damit überraschen - oder inzwischen schon nicht mehr überraschen -, daß sie die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber einfrieren wollen oder Karenztage bei der Lohnfortzahlung einführen wollen oder bei der Pflegeversicherung die zweite Stufe allein durch Urlaubstage der Arbeitnehmer bezahlen wollen, haben Sie nichts gesagt. Ich schließe daraus, daß Sie auch diese Diskussion einfach laufen lassen wollen.
Aus all dem, was allein im letzten halben Jahr von Ihnen unwidersprochen aus den Reihen Ihrer Koalition zur Veränderung des Sozialstaates gesagt worden ist, ergibt sich eine ganz klare Linie, und niemand kann im Grunde mehr daran zweifeln, was Sie und Ihre Regierung, Ihre Koalition wollen: Sie wollen weiterhin die sozialen Standards in unserem Lande senken, weil Sie das für den Weg halten, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu erhöhen.
Dieser Weg hat sich seit zwölf Jahren als Irrweg erwiesen. Herr Schäuble hat es heute morgen sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, indem er sagte: Es besteht in Deutschland kein Mangel an Nachfrage nach Arbeit, es besteht ein Mangel an Nachfrage nach Arbeit zu diesem Preis.
Meine Damen und Herren, glauben Sie denn im Ernst, daß wir den Wettbewerb um die niedrigsten Löhne in Europa jemals gewinnen können? Wollen Sie diesen Wettbewerb gewinnen?
_ Derjenige Wettbewerb, den wir gewinnen können und den wir gewinnen wollen, ist der Wettbewerb um bessere, um technologisch anspruchsvollere Produkte. Das ist der Wettbewerb, in den wir uns begeben müssen.
: Alles wird von Ihnen verhindert! - Lachen bei der SPD)
- Entschuldigung, ich konnte Sie dort nicht sehen; das ist schon in Ordnung.
Es sind eine Reihe von unbeantworteten Fragen übriggeblieben. Was ist mit den Lohnnebenkosten? Herr Blüm schreibt in seinem Brief an die CDU/CSU-Bundestagsfraktion - ich darf Ihnen auch diesen Satz zitieren, weil er nicht untergehen sollte -:
Günter Verheugen
Aus der Analyse der Entwicklung der Finanzierungsstrukturen
- er meint: der Sozialversicherung -
läßt sich daher nur der Schluß ziehen, daß der Trend einer verstärkten Belastung der Beitragszahler zugunsten der Steuerfinanzierung geändert werden muß.
Das schlagen wir seit mehr als zwei Jahren vor. Wo sind die Aktivitäten Ihrer Regierung, die Kosten der Arbeit endlich zu senken?
Was ist mit der Lohnfortzahlung? Akzeptieren Sie das, was die Gewerkschaften erkämpft haben? Akzeptieren Sie die Tarifautonomie auch an diesem Punkt, oder soll das hier so gehen, wie es Herr Schäuble heute morgen angedeutet hat und wie wir es im vergangenen Jahr erlebt haben: Geht es - ich sage: scheinbar - aufwärts, ist es die Regierung gewesen; geht es schlecht, dann waren es die Tarifpartner. Die Tarifautonomie können Sie entweder ganz oder gar nicht haben. Da werden Sie sich entscheiden müssen, meine Damen und Herren.
Wo ist Ihre Antwort auf die Frage vieler Menschen in unserem Land, vor allen Dingen von Frauen, nach der Möglichkeit familiengerechter Teilzeitarbeit? Geredet haben Sie darüber viel, geschehen ist nicht das geringste - überhaupt nichts! Ich werde Ihnen gleich ein Angebot machen, was wir da vielleicht zusammen tun können. Nichts ist geschehen!
Was die Ausbildungssituation angeht, über die Sie dann gesprochen haben, Herr Bundeskanzler, so will ich Ihnen dazu folgendes sagen: Nach dem Stand vom 1. September dieses Jahres sind 100 000 junge Menschen in unserem Land ohne Ausbildungsplatz, d. h. 100 000 junge Menschen sind ohne berufliche Perspektive, 100 000 Menschen, die in dem Moment, von dem man sagt, daß da der Ernst des Lebens beginnt, mit einer schweren Enttäuschung und Frustration anfangen müssen. Diesen 100 000 hilft es nichts, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, sich auf regionale Unterschiede herausreden. Das hilft gar nichts.
80 % der Ausbildungsplätze in unserem Land werden vom Handwerk und vom Mittelstand zur Verfügung gestellt. Es wäre also die richtige Politik, die Investitionsfähigkeit, die Ertragssituation und damit die Ausbildungskapazität dieses Wirtschaftsbereichs zu stärken.
Was aber haben Sie gewollt - das ist erst ein paar Wochen her und sollte nicht vergessen sein -: Sie haben die Abschreibungsbedingungen gerade für die mittelständische Wirtschaft im Zusammenhang mit der Diskussion über das Jahressteuergesetz und damit die Investitionsbedingungen und die Ausbildungsbefähigung der mittelständischen Wirtschaft verschlechtern wollen.
Wir sind ja bereit - das, was ich jetzt sage, ist bekannt und daher nichts Neues -, mit Ihnen im Herbst dieses Jahres über die Unternehmensteuerreform zu reden. Daran hat sich nichts geändert, auch wenn Sie nicht erwähnt haben, daß diese Gespräche vereinbart sind. Eines aber will ich Ihnen an dieser Stelle gleich sagen: Eine Unternehmensteuerreform mit dem Ergebnis, daß die Investitions-, Innovations- und Ausbildungsfähigkeit gerade der mittelständischen Wirtschaft verschlechtert wird, wird es mit uns ganz gewiß nicht geben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die politische Situation, in der wir uns befinden, ist durch einen ganz einfachen, aber von vielen noch immer nicht durchschauten Tatbestand geprägt, nämlich durch die Tatsache, daß die Bundesregierung wichtige Gesetzgebungsvorhaben nicht mehr allein und die Opposition, die SPD, sie noch nicht allein durchsetzen kann. Das heißt, daß über alle notwendige und klare Opposition hinaus die Suche nach konkreten Verbesserungen nicht aufhören darf, weil sonst Stillstand und gegenseitige Blockade entstünden.
Der Vorwurf, der hier erhoben wurde, ist unzutreffend; ich weise ihn mit Schärfe zurück. Zu keinem Zeitpunkt ist es die Strategie der SPD gewesen, über die sozialdemokratisch geführten Länder im Bundesrat eine Blockade der Gesetzgebung zu erreichen.
Vielmehr achten und respektieren wir die unterschiedlichen Rollen von Bundestag und Bundesrat. Wir kennen die unterschiedlichen Aufgaben des Bundes und der Länder.
Vielleicht darf ich bei dieser Gelegenheit mit der Bitte, ein bißchen darüber nachzudenken, sagen: Ein Teil der Probleme, die meine Partei manchmal hat, hängt auch damit zusammen, daß wir die Konflikte zwischen Bund und Ländern, die von der parteipolitischen Zusammensetzung der Koalitionen im Bund und in den Ländern ganz unabhängig sind, in unseren eigenen Reihen viel stärker austragen müssen als beispielsweise die F.D.P., die auf Länderebene nicht mehr vorhanden ist, und auch stärker als die CDU, die nicht diese führende Position in den Ländern hat. Darüber sollten Sie einmal einen Augenblick nachdenken.
Meine Damen und Herren, Sie müssen auch in Zukunft davon ausgehen, daß die sozialdemokratisch geführten Länder im Bundesrat, die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten und die Bundestagsfraktion der SPD da, wo es um die Grundlinien und die Prinzipien sozialdemokratischer Politik geht, eine gemeinsame Linie vertreten werden. Setzen Sie nicht darauf, daß da etwas auseinanderbricht. Das wird nicht geschehen.
Diese Politik hat Erfolge gezeitigt. Ein bekannter Kommentator einer bedeutenden Wirtschaftszeitung schrieb in diesen Tagen als Gesamtwürdigung des Jahressteuergesetzes von der Sozialdemokratisierung der Steuerpolitik. Das ist auch richtig. Wenn
Günter Verheugen
man sich in Erinnerung ruft, wie Sie bei diesem Jahressteuergesetz angefangen haben - Sie haben eine jedenfalls nach unserer Auffassung verfassungswidrige Regelung des Existenzminimums geplant; beim Kindergeld wollten Sie gar nichts machen - und was dabei herausgekommen ist, dann finde ich, daß sich das sozialdemokratische Ergebnis hier sehr, sehr gut sehen lassen kann.
Wir haben aus der Opposition heraus ein wichtiges und wertvolles Stück unseres Regierungsprogramms verwirklichen können. Dasselbe gilt für das Mietenüberleitungsrecht für den Osten Deutschlands, für die Verbesserung der Ausbildungsförderung und die hoffentlich jetzt endgültige Regelung über den Schwangerschaftsabbruch.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir als Opposition sehen vieles anders als Sie. Das werden Sie nicht anders erwartet haben. Wir begnügen uns aber nicht damit, Ihnen zu sagen, was wir anders sehen, sondern wir verlangen konkrete Korrekturen an Ihrer Politik.
Ich werde Ihnen jetzt eine ganze Reihe von Korrekturen vorschlagen, die wir gemeinsam umsetzen können. Sie brauchen nur zuzugreifen.
Greifen Sie erstens unseren Vorschlag auf, ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz zu entwickeln - ein Vorschlag von uns liegt vor -, das die Aufgabe des Strukturwandels mit der Aufgabe der Arbeitsmarktpolitik verbindet und endlich dafür sorgt, daß in unserem Land die Arbeitslosigkeit bekämpft und nicht nur finanziert wird, wie es jetzt geschieht.
Zweitens. Unterstützen Sie mit uns zusammen eine große Initiative für die Schaffung von vollwertigen Teilzeitarbeitsplätzen, vor allen Dingen für Frauen! Dazu müssen Sie eine einzige Sache mit uns gemeinsam tun - ich fordere Sie dazu auf -: Schaffen Sie endlich diese menschenunwürdige Geringfügigkeitsgrenze bei den Einkommen ab!
Senken sie mit uns zusammen die Lohnnebenkosten! Begnügen Sie sich nicht damit, darüber zu jammern, hier in Deutschland sei die Arbeit zu teuer, unsere Wettbewerbsposition verschlechtere sich! Wirken Sie daran mit, wie wir vorgeschlagen haben, daß z. B. durch die Herausnahme der Kosten für die aktive Arbeitsmarktpolitik aus der Bezahlung durch die Arbeitslosenversicherung die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung für die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer sinken! Das tut allen gut. Das tut der Sozialversicherung gut. Das tut den Betrieben gut, das tut den Beschäftigten gut, das tut unserer Wirtschaft insgesamt gut. Meine Damen und Herren, Sie brauchen es nur zu wollen. Das Angebot liegt auf dem Tisch. Es gibt einen Weg, die Arbeitskosten in unserem Land zu senken.
Greifen Sie mit uns endlich das Konzept einer ökologischen Steuerreform auf! Was soll ich mit den sehr vagen Ankündigungen, die Herr Schäuble heute morgen gemacht hat, anfangen? Und was soll ich mit den noch vageren Ankündigungen von Herrn Gerhardt machen? Sie müssen sich schon die Mühe einer eigenständigen Denkleistung machen.
Wir haben nichts dagegen, wenn wir in einen Wettbewerb treten, was die Konzepte zur ökologischen Steuerreform angeht. Aber eines wissen wir ganz genau: Wir haben nicht mehr sehr viel Zeit. Wenn wir die in unserem Steuersystem vorhandenen Elemente zur Steuerung der notwendigen Umweltinvestitionen und zur Verhinderung einer weiteren Ressourcenvergeudung nicht bald anwenden, dann werden uns die Kosten so davonlaufen, daß wir kaum noch eine Chance haben werden, sie einzuholen. Machen Sie mit uns zusammen den entschlossenen Schritt hin zur ökologischen Wende unserer Industriegesellschaft. Machen Sie mit uns zusammen eine ökologische Steuerreform, meine Damen und Herren.
Verbessern Sie die Bedingungen für Investitionen im privaten und im öffentlichen Bereich zur Verminderung des Energieverbrauchs! Das ist die entscheidende Frage; es geht um die Energie. Sie haben aber das Gegenteil getan. Es geht nicht, den Zustand der Umwelt zu beklagen und gleichzeitig eine Politik zu betreiben, die zwingend dazu führt, daß sich der Zustand der Umwelt verschlechtern muß. Führen Sie die Verbesserungen, die wir vorgeschlagen haben, ein!
Meine Damen und Herren, bilden Sie - das gilt schon für den Haushalt 1996 - neue Schwerpunkte für den Bereich Forschung, Entwicklung, Bildung und Ausbildung! Ich habe schon darauf hingewiesen und wiederhole es noch einmal: Wir wollen ein Land mit hohen Löhnen und mit hohem Lebensstandard bleiben. Irgendwo ferne klingelt bei mir etwas: War es nicht Ludwig Erhard, war es nicht die CDU, die einmal die Parole hatten: Wohlstand ist für alle da?
Jetzt betreiben Sie eine Politik, die die Einkommensverteilung, die Vermögensverteilung, aber auch die Zuteilung von Chancen in unserem Land immer einseitiger und immer schlechter für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für deren Kinder macht.
- Es ist die Wahrheit. Es ist keine Polemik. Schauen Sie sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt an, und reden Sie vielleicht einmal mit denjenigen, die ihre Arbeitsplätze verloren haben, weil das Management ihres Unternehmens nicht innovationsfähig gewesen
Günter Verheugen
ist. Dann fragen sie sich, ob es Polemik ist, wenn man sagt, daß die Chancen für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land schlechter geworden sind.
Greifen Sie unseren Gedanken auf, die Ausbildungsförderung dadurch voranzutreiben und zu sichern, daß es eine einheitliche Grundförderung für alle gibt! Ihre platte Kürzung entspricht Ihren ideologischen Fixierungen und dem, was Sie immer gemacht haben. Wenn Ihnen nichts mehr einfällt, dann kürzen Sie eben. Wenn es irgendwo einen Bereich gibt, bei dem es falsch ist, zu kürzen, dann dort, wo es um die Bildungs- und Ausbildungschancen der jungen Menschen in unserem Lande geht.
Ich nehme es dem Bundeskanzler ja ab, was er zu den Zukunftschancen junger Leute gesagt hat, auch was seine persönliche Betroffenheit angeht. Aber ich frage: Warum läßt er dann eine solche Handlungsweise in seiner Koalition zu? Warum wird dann diese brutale Kürzung beim BAföG einfach durchgesetzt?
Meine Damen und Herren, sorgen Sie mit uns dafür, daß ein brauchbares Entsendegesetz zustande kommt! Es ist ein unhaltbarer Zustand, den Sie haben einreißen lassen, nämlich daß es in diesem Land Arbeitsplätze gibt, die weit unter dem Standard deutscher Arbeitsplätze angeboten werden, mit dem Ergebnis, daß qualifizierte einheimische Arbeitnehmer auf dem eigenen Arbeitsmarkt keine Chance mehr haben. Wenn es im Großraum Berlin 30 000 arbeitslose Bauarbeiter und 45 000 beschäftigte ausländische Bauarbeiter gibt, können Sie das nicht hinnehmen.
Dieses Entsendegesetz ist überfällig; ein gründliches Entsendegesetz muß schnell kommen.
Arbeitsplätze in Deutschland können nicht exklusive Arbeitsplätze für Deutsche sein - das wird niemand fordern -, aber eines kann man fordern, nämlich daß die Arbeitsplätze in Deutschland denselben Standards genügen, egal, ob derjenige, der sie besetzt, ein Deutscher oder ein Ausländer ist.
Bekämpfen Sie mit uns aktiv die Steuerhinterziehung! - Ja, da war ich nun wirklich einmal überrascht, Herr Bundeskanzler.
Wir nehmen Sie schon ernst genug und schicken zu Ihren großen Kundgebungen immer jemanden hin, der aufschreibt, was Sie sagen. Daß Sie die Steuerhinterziehung bekämpfen, ist uns aber bisher nicht aufgefallen. Aber selbst wenn Sie, verehrter Herr Bundeskanzler, es in Ihren Reden immer gesagt haben, dann muß ich Ihnen erwidern: Es reicht doch nicht aus, daß Sie auf Marktplätzen über die Steuerhinterziehung reden; notwendig ist, daß Sie der Justizministerin und dem Finanzminister sagen, daß sie Gesetze auf den Tisch legen müssen, damit die Steuerhinterziehung wirklich bekämpft wird.
Wenn Sie es mit der Bekämpfung der Steuerhinterziehung wirklich ganz ernst meinen - das fände ich ganz toll -, dann brauchen Sie der Masse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei der Lohnsteuer nicht mehr so tief in die Tasche zu greifen, wie das heute der Fall ist.
Sorgen Sie mit uns gemeinsam dafür, daß die Kommunen endlich entlastet werden. Die Finanzsituation der Kommunen ist auf Grund Ihrer Politik in den letzten Jahren unerträglich geworden.
Sie setzen diese Politik fort, indem Sie erneut die Arbeitslosenhilfe kürzen wollen, was doch nichts anderes bedeutet, als daß die Sozialhilfeaufwendungen der Kommunen steigen müssen. Das ist doch nichts anderes als ein Verschieben der Kosten vom Bund auf die Gemeinden.
Tun Sie endlich auch etwas bei den Altschulden der Kommunen in Ostdeutschland. Die Investitionsfähigkeit der Kommunen in Ostdeutschland leidet ganz empfindlich darunter, daß eine solche Regelung noch nicht da ist. Jeder weiß, daß hier ein Kompromiß notwendig ist; jeder weiß, daß dies ein Kompromiß sein wird, bei dem es ohne Bundesbeteiligung nicht abgeht. Aber zögern Sie nicht so lange, damit endlich etwas geschieht.
Das sind die Korrekturen an Ihrer Politik, die wir verlangen, Korrekturen, die dazu führen würden, daß wir wieder Impulse für Wachstum, Erneuerung und Reform bekommen und daß wir wieder Chancen für alle Menschen in unserem Land schaffen. Sie reden davon immer nur: bei Kongressen, bei Veranstaltungen, gelegentlich auch hier im Bundestag. Aber wenn wir Ihre Worte an Ihren Taten messen, dann können wir nur zu einem einzigen Ergebnis kommen: Hinter diesen Worten verbirgt sich eine völlig andere Politik - eine einseitige, eine ungerechte und eine unsolidarische Politik. Ich sage Ihnen: Es baut sich in diesem Land eine klare und starke gesellschaftliche Mehrheit auf, die diese Ihre Politik verändern wird. Nehmen Sie mich beim Wort!
Lassen Sie mich zum Schluß noch ein paar kurze Bemerkungen zur Außenpolitik machen; es wird ja heute nachmittag noch eine außenpolitische Debatte geben. Ich kann es nicht akzeptieren, daß Herr Schäuble und auch der Bundeskanzler den Fraktionsvorsitzenden der SPD hier kritisiert haben mit dem Hinweis, er hätte sich heute zu kurz zur Außenpolitik geäußert. Rudolf Scharping hat zu Bosnien gesprochen, zu Europa, zu Frankreich und zu globalen Problemen.
Günter Verheugen
Allerdings fällt mir bei dieser Gelegenheit ein, daß der Bundeskanzler in der großen Debatte des Bundestages am 30. Juni, als es um den Einsatz der Bundeswehr in Bosnien ging, systematisch geschwiegen hat. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen:
daß Sie uns hier vorschreiben wollen, zu welchen Punkten wir eine Debatte über den Kanzlerhaushalt führen, während Sie selber in einer entscheidenden, großen außenpolitischen Debatte - der wichtigsten der letzten zehn Jahre - nicht ein einziges Wort gesprochen haben.
Wenn Herr Schäuble das „Verkommenheit der Politik" nennt, kann ich nur sagen: Verkommen ist gelegentlich der Diskussionsstil des Kollegen Schäuble. Das war heute wieder der Fall.
Ich will Ihnen in der Sache Bosnien, was die politischen Schlußfolgerungen angeht, zustimmen. In der Tat müssen jetzt alle Bemühungen darauf konzentriert werden, die Chancen für eine schnelle Friedensregelung zu nutzen. Ich halte es auch für richtig, daß die Bundesrepublik die amerikanische Friedensinitiative unterstützt. Aber lassen Sie mich hier doch eines sagen: Ich glaube nicht, daß irgendwer in diesem Hause Genugtuung, Stolz oder Freude empfinden könnte angesichts der Tatsache, daß der massive Schlag der NATO um Sarajevo in den letzten Tagen die bosnisch-serbische Führung vielleicht - wir wissen es ja noch nicht - zum Einlenken bewegt.
Es sollte auch niemand den falschen Eindruck erwecken, als sei diese militärische Operation der NATO erst möglich geworden nach einer bestimmten Entscheidung des Deutschen Bundestages. So war und so ist das ja nicht: daß irgendwer hier der internationalen Staatengemeinschaft in den Arm gefallen wäre oder hätte in den Arm fallen wollen. Was wir diskutiert haben und was bis auf den heutigen Tag ein quälendes Thema ist, ist die Frage nach den Grenzen der deutschen Beteiligung an einer solchen Operation.
Herr Bundeskanzler, ich warte immer noch auf Ihre Antwort auf die Frage, warum das, was Sie selber viele Jahre lang zu diesem Thema gesagt haben, jetzt auf einmal nicht mehr stimmt. Es ist nicht so gewesen, daß irgendeine Entscheidung des Bundestages oder das Verhalten einer Partei des Bundestages die NATO oder die UNO gehindert hätte, das zu tun, was sie jetzt getan hat. Die Hinderungsgründe lagen ganz woanders, und jeder hier weiß das. Jeder hier weiß auch, was für „militärische Voraussetzungen" - man kann auch, um es genauer auszudrücken, sagen: was für militärische Katastrophen - vorliegen mußten, was für politische Entwicklungen, insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika, dem vorangehen mußten, ehe das geschah.
Wir verbinden damit die Hoffnung, daß die bosnisch-serbische Führung einlenkt. Sicher sein, daß es geschieht, kann keiner. Ich wünsche und hoffe immer noch - mit hoffentlich allen hier im Haus -, daß der Frieden im ehemaligen Jugoslawien erreicht werden kann, ohne daß Kriegshandlungen weiter eskalieren müssen.
In diesem Zusammenhang ein Wort an die Bundeswehr: Wir haben uns sehr darum bemüht - ich will das auch heute noch einmal ausdrücklich sagen -, den politischen Streit nicht auf dem Rücken der Bundeswehr auszutragen. Ich würdige hier ausdrücklich die Leistung der Angehörigen der Bundeswehr. Ich tue das vor allen Dingen auch im Hinblick auf die Tatsache, daß die Bundeswehr in diesem Jahr 40 Jahre alt geworden ist und wir nach diesen 40 Jahren eines ganz sicher feststellen können: Besorgnisse, Befürchtungen, Gefahren, die man früher mit dem Aufbau einer deutschen Armee verbunden hat, sind mit der Bundeswehr nicht verbunden gewesen. Die Bundeswehr hat sich als demokratische Armee eines demokratischen Staates bewährt.
Ich möchte Sie zum Schluß noch einmal eindringlich bitten, die Frage der französischen und chinesischen Atomwaffentests nicht so zu behandeln, wie Sie das heute getan haben. Das reicht nicht aus! Nicht nur die Menschen in Deutschland, sondern, ich glaube, auch in Frankreich und in ganz Europa, erwarten mehr von den europäischen Regierungen, Herr Bundeskanzler, als eine Kritik, die so leise ist, daß sie auf der anderen Seite des Rheins kaum noch gehört werden kann.
Ich will keine Belastung des deutsch-französischen Verhältnisses - ganz im Gegenteil. Ich halte es aber für notwendig, daß der Deutsche Bundestag in einer gemeinsamen Erklärung, adressiert an die französische Nationalversammlung, klipp und klar sagt, daß wir im Geiste der deutsch-französischen Freundschaft, im Geiste einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, im Geiste der europäischen Friedensgemeinschaft, die wir haben, eine gemeinsame Politik wollen, die das vollständige Verbot aller Atomwaffentests so schnell und umfassend wie möglich realisiert.
Ich danke Ihnen.