Rede von
Dr.
Wolfgang
Gerhardt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(F.D.P.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jede Opposition versucht natürlich, in einer Haushaltsdebatte Bilder eines Landes zu zeichnen. Ich glaube nicht, daß die beiden Sprecher ein zutreffendes Bild unseres Landes mit seinen Problemen, mit seinen Herausforderungen, aber auch mit seinen Chancen gezeichnet haben.
Wir sind nicht auf dem Weg zu einer Zweidrittelgesellschaft, nicht auf dem Weg zur Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen und auch nicht auf dem Weg zu außen- und verteidigungspolitischen Abenteuern. Wir sind verläßliche Partner im Bündnis mit demokratischen Staaten. Wir haben den größten Erfolg in der Geschichte Deutschlands dieses Jahrhunderts hinter uns. Angesichts der Anwesenheit des Friedensnobelpreisträgers sage ich, daß die Freiheit für 17 Millionen Deutsche mehr wert ist als ein Haushaltsproblem und die Debatte um mehr oder weniger als 5 Millionen DM im Etat eines Einzelplans.
Ich weise deshalb darauf hin, weil wir eigentlich der größte Gewinner der großen, dramatischen politischen Veränderungen der letzten Jahre sind. In Bautzen sitzen keine politischen Gefangenen mehr. Mittelstreckenwaffen, die früher auf beide Teile des geteilten Landes gerichtet waren, sind weg. Die Soldaten sind ohne einen Schuß abgezogen, und für 17 Millionen Menschen beginnt jetzt die große Chance eines Wiederaufbaus, der nicht nur negative Seiten hat, sondern schon heute erhebliche positive Seiten zeigt. Das ist die Lagebeschreibung in unserem Land.
Das ist jetzt fünf Jahre her. Das ist nicht ein alleiniges Verdienst der Bundesregierung, aber die Bundesregierung hat in dieser geschichtlichen Situation die Chance am Schopf ergriffen und einen soliden Einigungsvertrag gemacht, der kein Dokument ideologischen Denkens ist, sondern die Chance zu Eigentum, zu Demokratie und Rechtsstaat für 17 Millionen Menschen ist. Das ist eine gewaltige Leistung gewesen, an der wir unverändert festhalten.
Eines muß auch klargestellt werden angesichts derer, die politisch anders denken als ich. Nicht die Treuhand hat die Wirtschaft der DDR ruiniert, sondern ein System hat diese Wirtschaft auf Grund gefahren.
Das war auch kein freiheitlicher Staat. Er war nicht so schön zu beschreiben wie eine Gesellschaft im Biedermeier, die sich die Nischen suchte. Schon im Biedermeier hat Metternichs Repression die Menschen erreicht. Auch die Nischen in Dresden waren von der Stasi-Überwachung nie frei.
Die heutige Situation ist doch eine politische Leistung, die wir gemeinsam erreicht haben, die wir gewollt haben - vielleicht einige nicht so schnell. Aber im Grunde ist das eine Leistung, die uns auch einmal wieder Prioritäten vermitteln sollte. In Deutschland hat Freiheit nie eine große Konjunktur gehabt. Herr Kollege Fischer hat dies einmal in der Bosnien-De-
Dr. Wolfgang Gerhardt
batte in anderem Sinne dargestellt. Wir haken es schon ab. Wir vergessen, daß 17 Millionen Menschen die Freiheit haben und wenden uns sogleich ausschließlich den Alltagsproblemen zu.
Ich finde, es muß bei allen Arbeitslosenproblemen, bei allen Ausbildungsproblemen, die wir haben, und bei allen Notwendigkeiten zur wirtschaftlichen Entwicklung darauf hingewiesen werden, daß das Wertvollste ist, daß Menschen frei ihre Meinung äußern können, daß sie frei reisen können, daß sie überhaupt Alternativen haben, ja daß sie öffentlich frei denken können. Das ist die Leistung der Politik.
Im übrigen gibt es auch in Deutschland bei allen Problemen ganz gute Entwicklungszahlen in den neuen Ländern. Für 1995 wird ein reales Wachstum von 9,2 % geschätzt. Die Aussage zu den Exporten liegt bei 12,9 % plus reales Wachstum für ostdeutsche Produkte. Es geht doch ein Stück aufwärts. Wer diese Zahlen nennt, beschönigt doch keine Probleme, aber er stellt Wahrheiten dar. Immer muß man Menschen motivieren, daß wir es schaffen können. Man kann nicht ausschließlich die Botschaft vermitteln, es gehe alles schief;
denn wir wollen in den neuen Ländern ein Stück Mut und Zuversicht vermitteln.
Im übrigen geschieht das alles, Herr Kollege Scharping, ohne daß in diesem Land jemand an den Bettelstab käme. Der Bezug von Sozialhilfe ist nicht schön, aber sie bedeutet mehr als nichts und ist eine gewaltige sozialpolitische Leistung, um Menschen davor zu bewahren, ins Nichts zu verfallen. Sozialhilfe und auch die gewaltigen Summen, die wir ausgeben, können nur bezahlt werden, weil dieses Land mit seinen politischen Rahmenbedingungen, die eine Leistung dieser Koalition sind, Menschen ermuntert, etwas zu tun, sie ermutigt, Risiken einzugehen und dazu veranlaßt, mehr Verantwortung zu übernehmen. Das jedenfalls veranlassen wir doch durch unsere Politik.
Man kann hinterher über verschiedene Bewertungen sprechen, aber man kann sicherlich sagen: Unser Land ist nicht auf einem Weg in die Armut, in die Umweltzerstörung und in Abenteuer. Unser Land hat eine solide Grundlage, und wir arbeiten zusammen nach dem größten Erfolg der Politik in der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert. Wir haben alle Chancen, das zu bewältigen.
Wir haben ein Arbeitskräftepotential, das gut ausgebildet ist. Wir haben Menschen, die Mut haben, die in den neuen Ländern Verantwortung übernehmen können. Wir haben doch eher den Ärger, daß sie noch nicht die Chancen haben, so viel Verantwortung zu übernehmen, wie sie wollen. Vor uns steht doch ein positiver Abschnitt deutscher Geschichte und nicht ausschließlich Weinen und Wehklagen. Das ist die Haltung, die auch die Koalition einnimmt und die sie befürwortet.
Ich beschreibe das einmal ganz einfach. Natürlich gibt es Arbeitslosigkeit. Es gibt Beschäftigungsprobleme, um deren Lösung wir uns kümmern müssen. Aber in diesem Haushalt ist eine gewaltige Leistung vollbracht worden, indem eine Freistellung des Existenzminimums und ein Familienleistungsausgleich erreicht worden sind. Da geht es um Milliardensummen.
In diesem Haushalt stehen Förderprogramme für die neuen Länder, für den gewerblichen Mittelstand. Das Eigenkapitalhilfeprogramm ist aufgestockt worden. Es ist eine Entscheidung in dem Bereich des mittelständischen Groß- und Einzelhandels getroffen worden. Es gibt die Kombination mit den EU-Programmen. Die KfW sagt, daß sie den neuen § 7 a des Fördergebietsgesetzes, durch den sie nach dem Vorbild der ehemaligen Berlin-Darlehen 500 Millionen DM zur Eigenkapitalstärkung weitergeben kann, für gut hält.
Wir haben in den neuen Ländern 140 neue außeruniversitäre Forschungsinstitute, 10 neue MaxPlanck-Institute, 24 Institute der Blauen Liste, 3 Großforschungseinrichtungen, 27 universitäre Arbeitsgruppen. Das ist doch nicht ein Nichts, das ist doch der Beginn einer Wissenschaftslandschaft! Das ist nicht nur eine verlängerte Werkbank, sondern der Beginn von Forschung und Entwicklung in den neuen Ländern mit allen Chancen, die dahinterstekken, und mit allen Möglichkeiten.
Wir geben im Jahr 1 Milliarde DM für Projektförderung aus, 1 Milliarde für institutionelle Förderung. Wir haben im übrigen schon hervorragende Ergebnisse: in den Geowissenschaften in Potsdam, in der molekularbiologischen Forschung in Berlin.
Herr Kollege Fischer, an dieser Stelle beginnt meine Kritik an Ihnen. Sie haben, was Forschung und Entwicklung, Biotechnologien betrifft, eher die Haltung der Angst. Wir haben eher die Haltung der Zuversicht. Sie haben den Glauben, Sie könnten wissenschaftliche Neugier untersagen.
Wir wissen aus der Geschichte: Das wird niemals gelingen. Nur Menschen entscheiden über die Handhabung von Forschungsergebnissen und die Möglichkeit, etwas zu erforschen, niemand anders und keine staatlichen Ge- und Verbote.
Wenn wir in unserem Land in den Forschungsansätzen freier, entideologisierter und nicht weiter so engstirnig wären, hätten wir viel größere Chancen in der Entwicklung, Industrien bei uns zu erhalten und zum Entstehen zu bringen, die wir für die Zukunftsfähigkeit sicher brauchen.
Dr. Wolfgang Gerhardt
Es ist eben ein Unterschied, ob man die Technologie bejaht oder ob man nur vor den Folgen warnt und die Folgen des Verzichts nicht im Auge behält.
Es ist nicht nur eine Frage, ob man große und kleine Anbieter bei der Öffnung des Marktes in der Telekommunikation hat, es ist die Voraussetzung für Beschäftigung in der Zukunft, an Stelle des Monopols der Telekom endlich viele Anbieter regionaler und lokaler Netze auf dem Markt zu haben und nicht nur einige EVUs, die sich aus ihrem Monopolbereich heraus in einen anderen hineinbegeben. Wir wollen die Chancen für mittelständische, für mittlere und kleinere Unternehmen und für Beschäftigung in Deutschland.
- Sehr schön! Wir können das dann in den politischen Debatten beobachten.
Seit Jahren trägt meine Partei, die F.D.P., im Deutschen Bundestag, in der Koalition vor, daß wir die Gewerbekapitalsteuer für eine Substanzbesteuerung von Unternehmen halten, daß sie die Schaffung von Arbeitsplätzen behindert, da sie schon gezahlt werden muß, wenn noch überhaupt kein Gewinn gemacht worden ist. Wir tragen seit Jahren unter heftiger Beschimpfung von Sozialdemokraten vor, daß es doch gut wäre, diese Steuer abzuschaffen, wenn man die Beschäftigung in Deutschland stimulieren will.
In diesem Herbst hat Herr Struck zum erstenmal signalisiert, daß es jetzt wohl gehe. Das heißt, es ist jetzt eine Situation eingetreten, Herr Kollege Scharping, in der wir neue Chancen nutzen und die strukturellen Veränderungen aufnehmen müssen.
Es gibt eigentlich nur ein Land, in dem es politische Gruppierungen gibt, die glauben, daß man durch weniger Arbeit mehr Produktivität erziele. Es gibt kein anderes Land auf der Welt, in dem nicht über flexible Beschäftigungsverhältnisse geredet würde, in dem nicht über Arbeitszeiten geredet würde, in dem nicht Jahresarbeitszeitbudgets diskutiert würden. Namhafte Sozialdemokraten mahnen einen Modernisierungsschub in ihrer eigenen Partei an. Die heutige Debatte zeigt doch, daß Sie mehr Auskünfte geben müssen als wir.
Unsere Politik zielt auf den strukturellen Wandel. Wir wollen mit dem Haushalt diese Bewegung bringen. Wir wollen Märkte öffnen. Wir wollen deregulieren. Wir wollen den Staat verschlanken, das öffentliche Dienstrecht reformieren, Genehmigungsverfahren verkürzen. Auf Ihrer Seite sitzen die Tabuwächter, vor allem in Gestalt von Herrn Dreßler, die mit jedem Totschlagargument kommen, wenn auch nur eine neue Idee präsentiert wird, wie wir bei der Beschäftigung in Deutschland vielleicht weiterkämen.
Natürlich kann eine Regierung kritisiert werden, wenn sie Haushaltsansätze nicht ausreichend bringt. Eine Regierung ist nicht unangreifbar. Aber Tatsache ist, daß wir in diesem Land nicht ausschließlich sagen dürfen, Tarifverhandlungen sind gut, wenn sie Ergebnisse bringen, die dem sozialen Frieden dienen. Tarifverhandlungen müssen auch Beschäftigung animieren und beschäftigungswirksam sein.
Nur beides macht den Erfolg aus. Leider kann man sehr offen sagen, daß eine Kette von Tarifverträgen nicht immer beschäftigungswirksam in Deutschland war und daß in der eigenen Verantwortung der Tarifvertragsparteien nicht immer dieses Ziel erreicht wurde. Es gibt Tarifverträge, die jede Produktivität überschritten und die Betriebe überfordert haben. Jeder weiß, daß mittelständische Betriebe den Verbänden davonlaufen, weil sie in den großen Flächen und in den großen Regionen keine Luft zum Atmen mehr haben.
Der Koalition geht es nicht um das Abschneiden von sozialen Sicherungssystemen.
Uns geht es aber um neue und mobile Wege für mehr Beschäftigung, weil die beste soziale Sicherheit ein Arbeitsplatz ist und nicht Arbeitslosenhilfe und nicht der zweite Arbeitsmarkt. Das ist der klare Unterschied zu all dem, was hier gesagt worden ist.
Das ist eben die Deregulierung.
Nehmen wir das Beispiel in einer ideologisierten Beschäftigungsdiskussion. Sie wissen wie ich, daß bei Sozialdemokraten und Grünen - einen grünen Verbündeten habe ich ja in Hessen, Herr Kollege Fischer, Ihren Fraktionsvorsitzenden Hertle - eine andere Auffassung besteht. Sie wissen, daß die Lebenswirklichkeit in Deutschland auch darin besteht, daß Menschen mit 580-DM-Verträgen arbeiten. Das sind nicht alles geknechtete Menschen. Da sind viele darunter, die möchten das so. Sie wollen sich auch so etwas dazuverdienen. Sie fragen sogar an, ob das nicht so möglich ist. Ich sage Ihnen, wenn die Lebenswirklichkeit solche Beschäftigungen ermöglicht, bin ich dafür und bin nicht für Abstrafung dieser Beschäftigungen, mit welchem Motto auch immer.
Ich finde, daß es wichtig ist, daß man nicht den Versuch macht, die Menschen völlig zu ändern. Es fühlen sich auch viele, die etwas dazuverdienen, in diesen Beschäftigungsverhältnissen wohl. Es ist auch verständlich, Herr Fischer - Sie haben es selbst gesagt, Oberkante Unterlippe -, daß bei der Steuerbelastung, die wir haben, jemand so eine Beschäftigung sucht, um einer weiteren Steuerbelastung zu entgehen.
Dr. Wolfgang Gerhardt
Mich freut es, wenn die Menschen Beschäftigung haben. Ich ärgere mich nicht darüber, daß man ihnen jetzt nicht steuerlich nachkommen kann. Im übrigen müssen Sie wirklich einmal sehen, daß, wenn die Bundesversicherungsanstalt für einen Rentenanspruch von 6,31 DM pro Jahr einen monatlichen Beitrag von 107 DM berechnet, dies doch absurd ist.
Lassen Sie doch die Menschen, die in diesen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten wollen, auch in ihnen arbeiten. Deshalb wehren wir uns, daß jetzt ganze Landesregierungen mit dem moralischen Zeigefinger kommen und sagen, das müßte man beseitigen. Das gilt auch für das berühmte Dienstmädchenprivileg. Es gibt eben Frauen, die hochclever und klug sind, mit guter Lebenserfahrung ausgestattet, die gerne einen Haushalt führen, die gerne eine Beschäftigung ausführen würden zum Management in einem Haus. Lassen wir sie doch, wenn man solche Beschäftigungen in unserer Gesellschaft anbieten kann, anstatt sie zu beschimpfen und das nicht wahrzunehmen.
- Ich wußte, daß Sie sich so aufregen. Ich bleibe aber trotzdem dabei. Frau Matthäus-Maier, zwischen Ihnen und mir besteht ein Unterschied: Sie versuchen Macht über das Denken von Menschen zu gewinnen, indem Sie Argumente vortragen, an die Sie selbst nicht glauben, und nur auf Wirkung warten. Ich versuche die wahre Lebenswirklichkeit von Menschen in Deutschland zu beschreiben. Das ist der Unterschied.
Wir wollen für die F.D.P. sagen: Wir haben so viele Veränderungen. Mit unseren bisherigen Tarifverhandlungen, mit unserem bisherigen Beschäftigungssystem, mit unserer Hinnahme - sehenden Auges - der Entwicklung der Lohnnebenkosten werden wir Arbeitsplätze aus diesem Land eher vertreiben als schaffen. Deshalb ist es das Gebot der Stunde, wie wir es machen wollen: zu deregulieren, zu öffnen, ein Stück mehr Flexibilität zu bekommen, konkurrenzfähige Unternehmensbesteuerung vorzunehmen, niedrigere Lohnnebenkosten zu erreichen. Das wird auf der Seite der Politik und der Tarifvertragsparteien geklärt werden müssen. Nur niedrigere Lohnnebenkosten heißt, eine offene Diskussion zu führen, wer am Entstehen von Lohnnebenkosten beteiligt ist, wer sie zu verantworten hat, wie wir sie zumindest nicht explosionsartig weiter steigen lassen müssen. Denn es gibt zwei Wettbewerber: einmal andere, die billiger als wir produzieren, und dann die junge Generation, die bei uns für die Zukunft Arbeitsplätze nachfragt. Wer glaubt, der jungen Generation ehrlicherweise sagen zu können, es soll so bleiben, wie es ist, nichts soll sich ändern, es soll immer nur kürzere Arbeitszeiten und mehr Lohn geben, der soll das vertreten. Er betrügt die junge Generation in Deutschland um ihre Zukunft.
Deshalb muß hier die ethische Frage gestellt werden, wer eigentlich die größeren Chancen für die Zukunft anbietet.
Es sind außenpolitische Bemerkungen von Herrn Kollegen Scharping und von Herrn Kollegen Fischer gemacht worden. Ich bin immer froh, wenn heute, nachdem wir am 30. Juni noch streitig diskutiert haben, etwa zwischen den Grünen und mir unstreitiger diskutiert werden kann. Aber eine Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen: Wir haben damals recht gehabt. Ich glaube, wir haben die richtige Entscheidung getroffen. Wir haben sie nach heftiger und schwieriger Debatte auch mit Stimmen aus den Reihen der Grünen und der Sozialdemokraten getroffen. Heute müßten Sie eigentlich die Größe haben, zuzugeben, daß Sie sich damals geirrt haben, daß wir wohl richtig entschieden haben. Zumindest müßte die moralische Dimension des Vorwurfs, wir würden in ein außen- und verteidigungspolitisches Abenteuer gehen, heute herausgenommen werden. Ich habe das Gefühl, die Bürger der Bundesrepublik Deutschland haben diese Koalition bei der Bundestagswahl zu Recht mit Mehrheit gewählt.
Bei der Juni-Entscheidung hat sich gezeigt, daß diese Wahl richtig war.
Das ist nun noch nicht zu Ende. Aber die Chance für eine politische Konfliktlösung ist heute eher gegeben als vor unserer Entscheidung und auch vor den Entscheidungen der NATO. Ich erwähne das deshalb, weil wir uns in der Innenpolitik manche Fehler leisten können. Viele sollten wir uns nicht leisten, aber Fehler in der Innenpolitik sind erträglich, wenn wir nach einer Entscheidung sagen: Das war wohl doch nicht so richtig. In der deutschen Außenpolitik darf man sich möglichst keinen Fehler erlauben. Der Bundeskanzler hat es einmal so ausgedrückt: Weil es ein Kernbestand der erfolgreichen Geschichte unseres Landes ist, ist Außen- und Bündnispolitik für Deutschland Staatsräson. Italien mag sich einige Sonderwege leisten können, auch unsere französischen Nachbarn, wie wir sehen, können manche Entscheidungen treffen: Wir können das nicht. Wir sind auf das Vertrauen der internationalen Völkergemeinschaft am stärksten angewiesen: wegen unserer geographischen Lage und wegen unserer Geschichte. Wer das nicht begreift, der sollte in Deutschland keine Regierungsverantwortung haben.
Das ist der Kern dieser wichtigen Entscheidung. Deshalb sage ich das in Richtung sozialdemokratische Partei. Herr Verheugen wollte im Sommer alles streitig stellen.
Ein Parteiprogramm erreicht seine Grenze dann, wenn man weiß, daß man Regierungsverantwortung in Deutschland übernehmen will. Dann kann man nicht in Parteiprogramme schreiben und auf Partei-
Dr. Wolfgang Gerhardt
tagen nicht beschließen, was die internationale Völkergemeinschaft und unsere Verbündeten irritiert.
- Sie haben schon eine gewaltige Dimension der Nichtfähigkeit zur Übernahme internationaler Pflichten erreicht.
Ich finde, die großen politischen Gruppierungen haben alle Kraft zusammenzunehmen, den Bürgern unseres Landes beizubringen, daß die Zeiten des Windschattens von Mauer und Stacheldraht bei den gegenwärtigen internationalen Herausforderungen vorbei sind und daß wir uns einigen Problemen nicht durch Wegschauen entziehen können. Sie machen die Leute glauben, sie könnten sich dem durch Wegschauen entziehen. Wer Ihren saarländischen Ministerpräsidenten zum Thema Blauhelme reden hört und abschnittsweise seine Aussageunfähigkeit zu anderen Themen mitbekommt, wo es ernst wird, der muß sagen: Solange dieser Zustand bei Ihnen so bleibt, sollte Sie die Mehrheit der Bürger nicht mit Regierungsverantwortung in Deutschland beauftragen. Wir wollen das mit unserer Beteiligung auch so halten.
Die Opposition in diesem Hause ist in Kernfragen der deutschen Außenpolitik, in schwierigen Fragen, wenn es ernst wird, wenn man zu etwas stehen muß, nicht auskunftsfähig. Das hat der heutige Vormittag gezeigt.
Die ökologische Dimension ist vorgetragen worden, Herr Kollege Fischer. Das nehmen wir gerne auf. Wir haben uns verabredet, im Herbst über ökologische Steuerungselemente zu reden. Wir haben auch der SPD das Gespräch angeboten. Sie, Herr Fischer, haben neulich erwähnt, daß Sie zu der Erkenntnis gekommen seien, daß das nicht mit Draufsatteln ginge. Vielmehr müsse man vorher wissen, wo die steuerliche Entlastung herkommen solle. Sie sind allmählich zum echten Minderheitensprecher bei den Grünen geworden.
Denn Sie haben darauf hingewiesen: Ob das bei allen so sei, sei noch nicht sicher. Ich sage nur eines: Wir sind bereit, über ökologische Steuerungselemente zu reden. Aber wir sind nicht bereit, über diese Elemente zu reden, bevor nicht auch klargeworden ist, wo wir andere Steuern senken.
Es geht nämlich nicht um Draufsatteln, es geht um Umsteuern, wenn wir etwas unternehmen.
Deshalb ist das der Weg der Koalition. Es gibt zu diesem Vorgehen bei einer Steuerbelastung Oberkante Unterlippe, wie Sie sich ausdrücken, keine Alternative. Dann bemächtigen Sie sich aber argumentativ soweit Ihrer Bündnisgrünen, Herr Kollege Fischer, daß die nicht nahezu jeden Tag eine neue Steuer erfinden, bevor sie überhaupt gesagt haben, wo die Steuerbelastung heruntergehen soll.
Diesen Weg können wir nicht beschreiten.
Wir wollen überhaupt nicht bestreiten, daß wir in dieser Koalition Haltungs-, Meinungs- und Bewertungsunterschiede haben. Etwas anderes wäre auch unnatürlich. Drei Parteien bilden die Koalition. Es ist überhaupt keine Frage, daß wir Reibungspunkte und viel Arbeitsbedarf in Bereichen der Innen- und Rechtspolitik haben.
Wir haben vereinbart, im Jahr 1996 die Gesetze aus der letzten Legislaturperiode zu überprüfen. Wir werden das objektiv tun und werden dann entscheiden, wo Handlungsbedarf besteht.
Es ist auch klar, daß wir im Staatsbürgerschaftsrecht gerne weitergehen würden.
- Ich komme dazu. - Wir haben immer erklärt, daß wir für die Kinder der dritten Generation einen weiteren Schritt brauchen und daß das eine große Geste dieses Landes wäre. Wir wissen, daß das der Koalitionspartner anders sieht.
Wir sind weiterhin in Gesprächen.
Es ist auch in einer Koalition viel Reibung, weil sich natürlich ein enormer Arbeitsbedarf ergibt. Es gibt auch Ermüdungserscheinungen,
weil manche Verhandlungsrunden genauso sind wie im richtigen Leben. Aber eines ist dann auch klar: Wir sind ein Partner, der in dieser Koalition auch seinen Erfolgsteil hat.
Wir sind auch ein Partner, der dann, Herr Kollege Fischer, wenn es um das Thema der weltanschaulichen Neutralität des Staates geht, Stellung nimmt.
Dr. Wolfgang Gerhardt
Ich habe das Verfassungsgerichtsurteil begrüßt. Dennoch sage ich dazu: Klüger, entschiedener und klarer von Anfang an hätte das Verfassungsgericht das behandeln können.
Wir werten aber - das füge ich hinzu - jemanden, der christlicher Lebensüberzeugung ist, nicht ab. Ich habe hohen Respekt vor Glaubensintensität und vor Engagement. Nur, ich sage dazu: Dieser Staat hat nun einmal weltanschauliche Neutralität zu vertreten. Meines Erachtens ist das sogar ein Schutzrecht für die Konfessionen; denn die Konfessionen haben dadurch Schutz, daß der Staat sich nicht in ihre Belange einmischt, sondern heraushält.
Wir sind auch mit Erscheinungsformen konfrontiert, die aus unserer Sicht nicht mehr in die heutige Zeit passen. Die französischen Atomversuche sind ein Stück alter Politik. Sie führen überhaupt nicht weiter. Wir wissen aber auch, daß in den politischen Auseinandersetzungen der heutigen Tage sich Nationen und Nachbarn nicht anders als durch das Wort und durch das Argument ihre Meinung sagen sollten. Das habe ich für meine Fraktion ausgedrückt; zu jeder Stunde wiederhole ich das, und ich teile es jedem, der es hören will, mit. Die Bundesregierung hat die französische Regierung wissen lassen, wie unsere Haltung ist.
Es gibt einen Bewertungsunterschied in der Frage, ob wir hier noch mit einer Resolution nachfassen sollten. Ich finde, man sollte Nachbarn im freien Wort und in freier Debatte seine Auffassung zu diesem Vorgang sagen. Nicht unbedingt müssen Resolutionen beschlossen werden, die dann auch psychologisch bei den Nachbarn und bei befreundeten Nationen und deren Regierungen vielleicht doch nicht so gut wirken.
Wir haben in der Koalition vor, uns in diesem Herbst über Steuerreduzierungen Gedanken zu machen. Es gibt einen Bewertungsunterschied, was den Solidarzuschlag betrifft. Er ist einer auf Zeit, er ist kein Jahrhundertvertrag. Wir haben vereinbart, ihn jährlich zu überprüfen. Wenn es die wirtschaftliche und finanzielle Lage hergibt - der Finanzminister hat das gestern erklärt -, kann man in einem Zeitrahmen, der nach unserem Wunsch 1997, nach seiner Feststellung 1998 bedeutet, mit der Reduzierung des Solidarzuschlags beginnen. Das können wir ganz objektivierbar in der Koalition machen.
Wir wissen, daß wir jetzt auch noch eine gewaltige Wegstrecke im Spannungsfeld von Freiheit, Verantwortung und Recht vor uns haben. Das ist nicht mit einfachen Lösungen zu bearbeiten. Die zunehmende Gewalt in unserer Gesellschaft ist nicht nur mit neuen Gesetzen zurückzudrängen, und der Schutz des Bürgers durch den und im Staat läßt sich manchmal nicht ohne kontroverse Diskussion bewerkstelligen.
Eines sage ich aber für die Freie Demokratische Partei: Auch bei unterschiedlichen Bewertungen von Fragen einzelner Gesetze gibt es überhaupt keinen Unterschied in der Haltung, Kriminalität zu bekämpfen, alles zu tun, um Gewalt entgegenzutreten und Rechtsbrecher in diesem Land vor Gericht zu bringen. Das ist ganz eindeutig.
Wir haben viel Arbeit. Es gibt Probleme. Wir haben aber auch große Chancen. Diese Koalition hat bedeutende Herausforderungen großartig gemeistert. Sie hat die deutsche Einheit eingebettet. Sie hat notwendige Entscheidungen getroffen, um ein Zusammenwachsen zwischen Ost und West zu ermöglichen. Sie legt jetzt einen ernsthaften Sparhaushalt vor. Sie will solide finanzwirtschaftliche Bedingungen für die Zukunft haben. Sie hat auch die Sommerpause recht gut hinter sich gebracht. Nach meiner Einschätzung war das die beste Sommerpause, die je eine Regierung in Deutschland hinter sich gebracht hat. Wir haben uns dabei ganz gut erholt, und die Richtung stimmt.
Wir werden weiter dafür eintreten, daß die deutsche Außenpolitik mit Klaus Kinkel an der Spitze europäisch eingebettet und weltoffen bleibt und daß wir in den internationalen Bündnissen auch unsere Pflichten wahrnehmen.
Wir werden einen klaren marktwirtschaftlichen Kurs zu produktiven Arbeitsplätzen am ersten Arbeitsmarkt steuern. Wir wollen Belastungen reduzieren, und wir wollen den Weg der ökologischen Verantwortung am Markt statt des Staatsdirigismus gehen.
Wir wollen in dieser Koalition Forschungs- und Qualifizierungsanstrengungen zum Schutz der Umwelt unternehmen, zur Verbesserung der Produkte und der Produktion, und wir wollen in der Mitfinanzierung für den beruflichen Einstieg der jungen Generation eine erste Chance in der Aufstiegsfortbildung geben.
Wir gehen auch auf dem Weg der Privatisierung und Entbürokratisierung weiter. Wir wollen verkürzte Genehmigungsverfahren, die Reform des öffentlichen Dienstes. Wir wollen aber dann die tatsächliche Privatisierung in den Bereichen Bahn und Post und nicht nur eine organisationsrechtliche.
Das muß in dieser Legislaturperiode erledigt werden.
Wir setzen im Kern - und das ist unser Unterschied zur versammelten Opposition - eher auf die Verantwortung des einzelnen, weil wir wissen: Für die künftige Freiheit und den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes brauchen wir Tugenden, die eine innere Demokratie stabilisieren. Das sind Selbstvorsorge und Eigenverantwortung, das ist das Leistungsprinzip, das ist die Toleranz.
Dr. Wolfgang Gerhardt
Solche Verhaltensweisen zu stützen und zu belohnen und zu ihnen zu ermuntern - das ist die Aufgabe von Politik in Deutschland. Das sind notwendige Haltungen in einer Demokratie. Sie müssen gesichert werden, um denen helfen zu können, die sich nicht ausreichend selbst helfen können. Das ist im Kern das tiefe moralische Ziel von Politik, weil wir in Deutschland wissen, daß Demokratie immer gefährdet ist, wenn wir große Verwerfungen haben.
Die Koalition hat diese Aufgabe bisher mit Erfolg auf ihrem Weg gemeistert. Herr Kollege Schäuble, wir wollen das auch vertrauensvoll in guter Zusammenarbeit fortsetzen. Mich beschleicht das tiefe Gefühl, daß sich erst jetzt, auch in der heutigen Debatte, in dem Zustand der Opposition das, was wir tun, rechtfertigt: Die Bürger haben zu Recht diese Regierung haben wollen,
und wir wollen diesen Wählerwillen respektieren. Auf gute Zusammenarbeit!