Horst Friedrich
Rainer Funke
Hans-Dietrich Genscher Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther (Plauen)
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel
Detlef Kleinert (Hannover) Roland Kohn
Dr. Heinrich L. Kolb Jürgen Koppelin
Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Dr. Otto Graf Lambsdorff Heinz Lanfermann
Sabine LeutheusserSchnarrenberger Uwe Lühr
Jürgen W. Möllemann Günther Friedrich Nolting
Dr. Rainer Ortleb Lisa Peters
Dr. Günter Rexrodt Dr. Klaus Röhl
Helmut Schäfer (Mainz) Cornelia Schmalz-Jacobsen Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Irmgard Schwaetzer
Dr. Hermann Otto Sohns
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)
Enthaltungen
SPD
Klaus Barthel Konrad Kunick
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN
Gila Altmann (Aurich) Monika Knoche
F.D.P.
Dr. Burkhard Hirsch
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich
Adler, Brigitte SPD 30. 6. 95
Antretter, Robert SPD 30.6. 95
Behrendt, Wolfgang SPD 30. 6. 95
Bierstedt, Wolfgang PDS 30.6. 95
Böttcher, Maritta PDS 30. 6. 95
Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 30.6. 95
Erler, Gernot SPD 30. 6. 95
Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 30.6. 95
Horn, Erwin SPD 30.6. 95
Hornung, Siegfried CDU/CSU 30. 6. 95
Jung (Düsseldorf), Volker SPD 30.6. 95
Lengsfeld, Vera BÜNDNIS 30.6. 95
90/DIE
GRÜNEN
Dr. Luft, Christa PDS 30.6. 95
Lummer, Heinrich CDU/CSU 30. 6. 95
Marten, Günter CDU/CSU 30.6. 95
Pfannenstein, Georg SPD 30.6. 95
Dr. Probst, Albert CDU/CSU 30.6. 95
Dr. Scheer, Hermann SPD 30.6. 95
Schulte (Hameln), Brigitte SPD 30.6. 95
Schumann, Ilse SPD 30. 6.95
Siebert, Bernd CDU/CSU 30.6. 95
Such, Manfred BÜNDNIS 30.6. 95
90/DIE
GRÜNEN
Terborg, Margitta SPD 30. 6. 95
Wallow, Hans SPD 30.6. 95
Zierer,Benno CDU/CSU 30. 6. 95
Anlage 2
Erklärungen nach § 31 GO
zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung
zu dem Antrag der Bundesregierung:
Deutsche Beteiligung an den Maßnahmen
zum Schutz und zur Unterstützung des schnellen
Einsatzverbands im früheren Jugoslawien
einschließlich der Unterstützung eines eventuellen
Abzugs der VN-Friedenstruppen und
zu den Entschließungsanträgen der Fraktionen
der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie zu
dem Entschließungsantrag der Gruppe der PDS
(Tagesordnungspunkt 17)
Dr. Eberhard Brecht (SPD): Auf der Grundlage des Beschlusses 998 des VN-Sicherheitsrates vom 16. Juni 1995 ist eine Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland beim Schutz und bei der UnterstütAnlagen zum Stenographischen Bericht
zung des schnellen Einsatzverbandes vorgesehen, der für die Sicherheit der in Bosnien-Herzegowina stationierten Blauhelmsoldaten sorgen soll. Da die bosnischen Serben UNPROFOR zur Kriegspartei erklärt haben, ist ein solcher Schutz im Zusammenhang mit einer Umgruppierung erforderlich. Deutschland sollte den internationalen Einsatzverband mit denjenigen Mitteln unterstützen, die aller Voraussicht nach nicht zu einer Eskalation des Konfliktes führen.
Ich vermag nicht zu erkennen, warum der Einsatz einiger weniger deutscher ECR-Tornados zu einer Eskalation des Konflikts führen soll, zudem diese erst dann einen Einsatzbefehl erhalten, wenn Blauhelme in Gefahr geraten sind. Weder werden die ECR-Tornados militärische Attacken fliegen noch sich an der Überwachung des Flugverbotes im Rahmen von Deny Flight beteiligen. Dieser defensive Auftrag kann daher kaum für serbische Propagandazwecke nutzbar gemacht werden. Wenn ECR-Tornados einen Schutz gewähren, den andere Waffensysteme nicht zu leisten vermögen, kann ich diese deutsche Schutzkomponente für die Blauhelmsoldaten und die sie schützende Eingreiftruppe nicht verweigern.
Dies hat nichts mit einer Militarisierung deutscher Außenpolitik zu tun, sondern mit der moralischen Verpflichtung, jenen jungen Blauhelmsoldaten zu helfen, die - auch für uns - in Bosnien-Herzegowina den Versuch unternehmen, zu deeskalieren und einen derzeit nur schwer vorstellbaren Friedensprozeß zu befördern. Zudem befinden sich die Vereinten Nationen im Jahr ihres fünfzigjährigen Bestehens in einer schweren Krise, da sich zuwenig Länder solidarisch an der Finanzierung sowie an der Material-und Truppenbereitstellung für friedenserhaltende Maßnahmen beteiligen. Die von der Bevölkerung unseres Landes mehrheitlich befürwortete Beteiligung Deutschlands an Blauhelmaktionen der Vereinten Nationen kann aus historischen Gründen für das ehemalige Jugoslawien nur eingeschränkt gelten. So wird sich die Bundeswehr nicht unmittelbar am Mandat von UNPROFOR beteiligen, sondern nur Hilfe für deren Schutzkomponente übernehmen.
Dennoch habe ich Probleme mit meiner Zustimmung zur Regierungsvorlage. Meine Kritik bezieht sich vor allem auf drei Punkte:
Erstens. Durch die Umgruppierung der Blauhelmsoldaten wird zwar deren persönlicher Schutz erhöht, die Ausübung des Mandates aber faktisch eingeschränkt, da sich dann keine UNPROFOR-Soldaten mehr auf jenem Gebiet Bosnien-Herzegowinas aufhalten, das von den bosnischen Serben kontrolliert wird. Damit kann physisch nur noch auf das Verhalten einer Konfliktpartei Einfluß genommen werden. Angesichts der zudem weitgehenden Schutzlosigkeit der Schutzzonen, der Remilitarisierung der Umgebung von Sarajevo, der immer schlechter werdenden Versorgung der Zivilbevölkerung mit Wasser, Lebensmitteln und Medikamenten sowie der sich verfestigenden Absicht der Kriegsparteien, den Konflikt militärisch lösen zu wollen, stellt sich immer zwin-
gender die Frage, ob nicht die UNPROFOR-Mission gescheitert ist.
Ich vermag nun nicht zu entdecken, inwieweit der Eingreifverband und dessen Unterstützung durch die Bundeswehr die Durchsetzung des Mandates befördern werden. Weder werden die Grenzen zu Restjugoslawien undurchlässiger, über die die bosnischen Serben ständig mit militärischen Gütern versorgt werden, noch können humanitäre Transporte nun ungehindert an ihren Bestimmungsort gelangen. Damit gewährt der schnelle Einsatzverband lediglich einen begrenzten Aufschub für die Beantwortung der entscheidenden Frage: Verändertes Mandat im Sinn einer „mission defense" oder Abzug? Dabei gebe ich der ersten Option angesichts der Position Rußlands innerhalb der Kontaktgruppe kaum eine Chance. Wenn ich dem Regierungsantrag dennoch zustimme, so zugunsten der geschundenen Menschen in Bosnien-Herzegowina, denen durch das kleine Zeitfenster zwischen Verstärkung und Abzug noch eine kleine Hoffnung auf eine friedliche Konfliktlösung eingeräumt wird.
Zweitens. Ich teile eine wesentliche Kritik des Antrages der SPD-Bundestagsfraktion. Sowohl im deutsch-französischen Feldlazarett in Kroatien als auch auf dem italienischen Flugplatz Piacenza werden Wehrpflichtige eingesetzt, deren eigentliche Aufgabe die Landes- und die Bündnisverteidigung ist. Sicherlich befindet sich die Basis Piacenza auf NATO-Gebiet, und die Wehrpflichtigen in Kroatien sind mit nichtmilitärischen Aufgaben betraut. Dennoch ist die Bundesregierung bemüht, mit diesem und früheren Einsätzen ein Gewohnheitsrecht zu installieren, das mit meinem Rechtsverständnis unvereinbar ist. Mein Ja zum deutschen Einsatz auf dem Balkan ist daher kein Präjudiz für spätere Entscheidungen in dieser Frage.
Drittens. Nach wie vor habe ich formaljuristische Vorbehalte gegen den Antrag der Bundesregierung. Sicherlich ist die Rechtsauffassung der Abteilung VNMH des Auswärtigen Amtes zutreffend, der entsprechend für den Abzug einer zeitlich begrenzten friedenserhaltenden Mission kein gesonderter Rückzugsbeschluß notwendig ist. Wenn jedoch die NATO und andere Staaten den Abzug von Blauhelmsoldaten militärisch absichern müßten, wäre eine entsprechende Mandatierung durch den Sicherheitsrat erforderlich, wovon übrigens auch die NATO-Planung für den Rückzug ausgeht. Somit wäre meines Erachtens für die Unterstützung eines UNPROFOR-Rückzuges durch die Bundeswehr eine erneute Befassung und ein weiterer Beschluß des Deutschen Bundestages erforderlich. Diese juristische Frage sollte unbedingt geprüft und gegebenenfalls durch einen zweigeteilten Beschluß korrigiert werden. Dieser Vorbehalt berührt jedoch nicht meine inhaltliche Entscheidung zur Solidarität mit den Entsenderstaaten des Blauhelmkontingents in Bosnien-Herzegowina und den in diesem Land leidenden Menschen.
Hans Martin Bury (SPD): Wir leben auf Kosten der Welt, die wir zur zweiten und dritten degradiert haben. An den Gedanken haben wir uns zwar gewöhnt, doch ein schlechtes Gewissen plagt uns mitunter dennoch. Dessen Dasein verdanken diverse Spendenorganisationen das ihre. Wenn weder Geld noch Ausreden uns aus der Klemme helfen, schicken wir neuerdings Soldaten mit blauen Helmen in die Welt, auf daß sie dazu beitragen, die garstigen Bilder aus den Nachrichten zu vertreiben oder wenigstens dadurch zu camouflieren, daß deutsche Blauhelme Brunnen bohren und Schulen bauen. Diese helfen zwar genauso wenig, die Ursachen von Elend und (Bürger-)Krieg zu bekämpfen wie die Spendenmilliarden, aber die Hilfe für einzelne entlastet die Millionen zu Hause.
Neuerdings, da die zweckentfremdeten Soldaten mit den blauen Kopfbedeckungen selbst der Hilfe bedürfen, ist eine Schwarz, Blau+Gelb = Grün und Rote-Koalition zur Stelle, um den bedrohten Beschützern richtige Soldaten nachzuschicken. Die sollen freilich auch nicht in den eigentlichen Konflikt eingreifen, sondern nur die eigene Vorhut schützen. Die schnellen Eingreiftruppen wiederum sind entweder die Vorhut für Kampftruppen oder sie flankieren den Rückzug.
Kein Zweifel, die internationale Politik hat sich gründlich verheddert. Neu dabei ist nur, daß Deutschland aus Angst vor dem Freund - sie ist weniger neu - diesmal militärisch mitmacht. Das Scheitern ist zwar programmiert aber die Alternative wäre offenbar schmerzhafter: Wir müßten Konsequenzen aus Predigten und Parteitagsbeschlüssen ziehen und unseren Beitrag leisten, um den Boden anders zu bestellen, auf dem heute ethnische, religiöse, nationale Konflikte gedeihen. Das aber kostete materiellen Wohlstand und ökonomische Hegemonie. Es würde uns politisch Handelnde auch zwingen, uns wieder Grundfragen zuzuwenden, statt mit tagespolitischen Antworten zu glänzen.
Die Konsequenz für die Entscheidung um den Einsatz von Bundeswehrsoldaten im ehemaligen Jugoslawien? Ein klares Nein, verbunden mit dem Eingestehen des Scheiterns der UN-Intervention und einem Ende der Heuchelei unter der Überschrift „Die Blauhelme müssen bleiben" . Ihr Einsatz ist gescheitert, sie sollten sich zurückziehen. Es gibt keinerlei Voraussetzungen dafür, daß sie zu einer Beendigung der Kämpfe und der zugrundeliegenden Konfliktsituation beitragen könnten.
Es gibt zu viele Plätze auf der Welt, auf denen grausame Kämpfe ausgetragen - aber nicht übertragen! - werden, als daß wir uns von den Geldspenden auf das Opfern junger Männer in Uniform verlegen könnten und dürften. Wer sich nicht nur den Deckmantel der Mitmenschlichkeit umhängt oder eigene Hilflosigkeit bemänteln möchte, soll - wenn er für eine militärische Option votiert - für einen Kriegseinsatz auch von Bodentruppen eintreten - und sich möglichst gleich selbst dafür melden. Der Krieg light wird nicht zu gewinnen sein. Wer auf die Militarisierung der Außenpolitik setzt, beginnt sich, so fürchte ich, aus der politischen Verantwortung zu stehlen.
Dr. Marliese Dobberthien (SPD): Ich werde dem heute vorgelegten Antrag der SPD trotz grundsätzlicher Bedenken, die ich hier formulieren möchte, zustimmen.
Die Diskussion um den Krieg im ehemaligen Jugoslawien und über die Frage, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um diesen Krieg zu beenden oder wenigstens einzudämmen, zeigen in erster Linie, wie hilflos und ratlos die Völkergemeinschaft und damit auch wir sind. Nicht einmal das Embargo funktioniert. Wir finden heute im ehemaligen Jugoslawien eine nahezu aussichtslose Situation vor. Diese hat sich ergeben, weil eine Eskalation des Krieges hingenommen wurde, weil viele Fehler seitens der UNO, der EU und einzelner Staaten gemacht wurden, die den Krieg weiter angeheizt haben, und weil keine politische Zielvorstellung - weder supranational noch national - formuliert wurde, wie das ehemalige Jugoslawien dauerhaft befriedet werden kann.
Die UNO hat sich in diesen Konflikt offenkundig weitgehend unvorbereitet und konzeptionslos immer tiefer verstrickt und steht heute mehr hilflos als planvoll einem brutalen Krieg gegenüber, der unter der Zivilbevölkerung die meisten Opfer findet. Um zukünftig nicht in vergleichbare Situationen zu geraten, ist es unverzichtbar, gemeinsam Strategien zur Früherkennung von Konflikten, die das Potential von Bürgerkriegen in sich tragen, zu entwickeln, sich auf Deeskalisierungsmaßnahmen zu einigen, alternative Sicherheitskonzepte zu erarbeiten und eine Reform der UNO voranzutreiben.
Der Antrag der Bundesregierung läßt eine überzeugende Konzeption zur Förderung der Friedensherstellung vermissen. Eher ist das Leitmotiv erkennbar: „Dabeisein ist alles" . Der Einsatz von Tornados, wie ihn die Regierung vorsieht, wird mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Eskalation des Krieges beitragen. Es ist nicht auszuschließen, daß der Antrag der Bundesregierung Auftakt einer breiten, nicht mehr steuerbaren Militäraktion außerhalb des NATO-Gebietes werden kann; denn die geplanten Maßnahmen enthalten weder einen schlüssigen friedenspolitischen Ansatz, noch sind der Zeitrahmen und Umfang klar begrenzt. Und die Militarisierung unseres politischen Denkens schreitet kontinuierlich voran.
Während wir gestern noch darüber gestritten haben, ob und in welchem Rahmen Blauhelmeinsätze erlaubt sein sollen, streiten wir heute bereits über den Einsatz bestimmter Waffensysteme. Auch die Regionen eines Einsatzes werden beliebig. Gestern Somalia, heute Rest-Jugoslawien. Und morgen? Was bewirkt der Einsatz deutscher Tornados? Wird er als offene Provokation verstanden? Werden neue Geiseln genommen? Ist er der letzte Versuch, das Scheitern der Blauhelmmission zu kaschieren? Streiten wir morgen über eine militärische Einsatztruppe, jederzeit einsetzbar und gesteuert durch jene Atommächte, deren Votum im Weltsicherheitsrat nur sie selber korrigieren können?
Mehr Fragen als Antworten, und die Bundesregierung behauptet, sie sei isoliert, wenn sie nicht dabei sei. Dabei gibt es bis heute keine Anforderung seitens der NATO oder der UNO, deutsche Tornados im Kriegsgeschehen einzusetzen. Mit dem von der Bundesregierung vorgeschlagenen Einsatz wird sich die Bundesrepublik also aus freien Stücken erstmals an einer kriegerischen Auseinandersetzung aktiv beteiligen. Das ist ein historischer Wendepunkt mit unübersehbaren Konsequenzen, verantwortet vom Bundestag, aber nicht abgeklärt in einer breiten öffentlichen Diskussion. Es ist ein falscher Weg, wenn die NATO, bisher Verteidigungsbündnis, sich eine Eingreiftruppe schafft, ohne daß ein globales Friedenskonzept entwickelt worden wäre.
Der aus der Erfahrung zweier von Deutschland entfesselter Kriege gewonnene Konsens „Nie wieder Krieg" darf nicht ins Wanken geraten. Es gibt viele Wege der unblutigen Konfliktbewältigung. Sie sind mit allen Mitteln zu fördern, nicht die militärischen Maßnahmen. Die Verkürzung der Konfliktlösung auf militärischen Aktionismus kann langfristig nur scheitern. Doch politische Grundsätze und Zielsetzungen entheben hier und heute niemanden des Zwangs, sich mit der aktuell vorhandenen Situation in Ex-Jugoslawien auseinanderzusetzen. Jeder Pragmatismus greift zu kurz und ist dennoch unverzichtbar, wenn er hilft, dem Frieden näher zu kommen. Den Verbleib der UNO-Truppen zur Ausübung ihres humanitären Auftrags gilt es zu unterstützen.
Die im SPD-Antrag aufgeführten Maßnahmen sind von zwei Grundsätzen geleitet. Unterstützung dieses humanitären Auftrages, keine militärische Eskalation. Eine Zustimmung für die Maßnahmen, wie sie im SPD-Antrag aufgeführt sind, ist der Versuch, ohne militärische Eskalation der Zivilbevölkerung weiteres schweres Leiden zu ersparen. Daher stimme ich dem Antrag der SPD zu und lehne den Antrag der Bundesregierung entschieden ab.
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich kann dem Antrag der Bundesregierung nicht zustimmen. Aber ich habe dafür andere Gründe als der Großteil meiner Fraktion.
Unsere heutige Abstimmung stellt eine entscheidende Weichenstellung in der deutschen Geschichte und Politik, aber auch in der internationalen Politik dar. Sie wird von den verschiedensten Seiten und auf den unterschiedlichsten Ebenen gewürdigt werden. Deshalb ist es mir wichtig, die Gesichtspunkte meiner Entscheidung, die in wichtigen Punkten von der Mehrheitsposition meiner Fraktion abweichen, darzulegen.
Erstens. Im ehemaligen Jugoslawien tobt kein „Bürgerkrieg". Die verbreitete Haltung, wir sollten uns heraushalten, wenn, wie es so oft behauptet wird, „die sich im Balkan wieder einmal die Köpfe einschlagen", ist zynisch und hat mit den Realitäten im ehemaligen Jugoslawien überhaupt nichts zu tun. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina und Teilen Kroatiens ist ein Eroberungs- und Vernichtungskrieg. Er fiel nicht vom Himmel, „brach" nicht „aus", sondern wurde über lange Zeit angekündigt, erstmalig etwa in der viel zu wenig wahrgenommenen Akademierede von Slobodan Milosevic schon in den 80er Jahren. Das diesem Krieg zugrundeliegende Konzept, überall, wo Serben leben, müsse auch Serbien sein, trägt faschistische Züge und ist in einer pluralistischen, multiethnischen Welt unerträglich.
Seit Jahren wurden Hunderttausende ermordet, vertrieben, vergewaltigt, gefoltert. Die Weltgemeinschaft schaut zu. Milosevic, Karadzic und andere verhöhnen und demütigen die Vereinten Nationen fast täglich, spielen geschickt und gewissenlos die unterschiedlichen Interessen der Staatengemeinschaft gegeneinander aus. Kein Waffenstillstand wird eingehalten, kein Friedensvertrag wird akzeptiert, die von der UNO sichergestellten schweren Waffen wurden gewaltsam zurückerobert, praktisch täglich wird von serbischen Stellungen aus auf Zivilisten, Frauen, Kinder in Sarajevo geschossen.
Zweitens. Ich möchte ein eindeutiges Bekenntnis zum Ziel des Friedens, der Menschenrechte und der weltweiten konsequenten Abrüstung ablegen. Von diesem Ziel, das viele von uns politisiert und zusammengeführt hat, werde ich nicht ablassen. Aber - das habe ich nie anders gesehen - gerade eine dem Ziel des Friedens und der Menschenrechte verpflichtete Politik darf nicht zulassen, daß der Frieden zerstört, Menschenrechte mit Füßen getreten, friedliche, waffenlose, pluralistische Gesellschaften ausgelöscht und „ethnische Säuberungen" betrieben werden.
Die Lehre, die den Menschen im ehemaligen Jugoslawien und insbesondere in Bosnien-Herzegowina gegenwärtig nahezu täglich erteilt wird, ist eine schwere, tragische, folgenschwere Lehre: Gewalt zahlt sich aus. Wer zur Waffe greift, andere vertreibt und erschießt, wird belohnt. Er bekommt und darf behalten, was er sich genommen hat. Wer dagegen gewaltlos und friedlich bleibt, wird zur Zielscheibe, muß um sein Leben fürchten, ohne daß ihm jemand beisteht. Es ist eine schreckliche, unmenschliche Lehre, die unter den Augen der Weltgemeinschaft nicht weit von uns den Menschen Tag für Tag erteilt wird. Was wundert es da, daß inzwischen die Saat der Gewalt aufgegangen ist und sich die verschiedenen am Krieg beteiligten Seiten im Hinblick auf die Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit immer mehr annähern.
Wer nicht hilflos zuschauen und mitschuldig werden will, wie nicht weit von uns Menschen auf Grund ihrer ethnischen Zugehörigkeit umgebracht werden und eine über lange Zeit multikulturelle und -ethnische Gesellschaft ausgelöscht wird, der muß sich der Debatte über eine internationale Streitmacht stellen, die im Namen und unter dem Befehl der Vereinten Nationen Friedensbrecher in die Schranken weisen und den Menschen Schutz bieten kann. Dies sollen dann allerdings nach meiner Auffassung gerade nicht mehr nationale Armeen oder die NATO sein, sondern Soldaten eines supranationalen Kontingentes unter alleiniger Verfügung der Vereinten Nationen.
Drittens. Die Menschen in Sarajevo und anderen Teilen Bosniens sind zum Teil von jeder Nahrungsmittel- und humanitären Versorgung abgeschnitten. Ohne die internationale Hilfe des UNHCR und anderer Hilfsorganisationen werden sie dem sicheren Tod ausgeliefert. Ohne UNO-Blauhelmsoldaten im Kriegsgebiet wird diese Hilfe nicht mehr fortgesetzt werden können. Schon heute kommen zum Teil monatelang keine Flüge und keine Transporte mehr durch. Die Serben blockieren die Versorgungswege, lassen Transporte nur nach Gutdünken und oft nach Plünderung oder Beschlagnahme eines Großteils der Hilfsgüter durch und machen sich so die Bevölkerung wie die Hilfsorganisationen zu Geiseln.
Ein Abzug würde den Krieg verschärfen und den Tod zigtausender weiterer Menschen zur Folge haben. Aber die vor Ort stehenden Blauhelmsoldaten wurden spätestens durch die serbischen Geiselnahmen zu Marionetten gemacht. Ihr Auftrag war von Anfang an unzureichend und Folge der Unentschiedenheit der europäischen und internationalen Mächte. Ihre Entsendung war eher Ausdruck schlechten Gewissens als einer klaren Politik. Sie haben nicht einmal das Recht, Hilfskonvois zu schützen und die wenigen lebensnotwendigen Versorgungswege freizuhalten. Die serbische Seite hat das früh erkannt und die Blauhelme immer wieder als Werkzeug oder Geiseln ihrer Politik genutzt. Nicht erst die jüngsten Demütigungen haben NATO und UNO zu Plänen geführt, alle Blauhelmsoldaten abzuziehen.
Viertens. Die Beteiligung der Bundeswehr ändert an dieser Lage nichts. Der Auftrag für die UN-Soldaten in Kroatien und Bosnien-Herzegowina wurde nicht geändert. Damit hängt der Einsatz buchstäblich in der Luft. Er ändert nichts an den Realitäten und Verhältnissen. Das Morden wird weitergehen. Schon durch das jahrelange Zögern ist eine vernünftige, wirkungsvolle Politik immer schwerer geworden. Was jetzt geschieht, ist weit mehr symbolische als reale Politik. Dafür hebe ich nicht die Hand in der vielleicht schwersten politischen Entscheidung dieses Jahrzehnts, schon gar nicht, wenn ich mit meiner Entscheidung nicht nur einem denkbar vagen Auftrag, sondern - gänzlich gegen meine Überzeugung und mein Gewissen - möglicherweise sogar der Vorbereitung eines Abzuges der UNO-Truppen aus dem ehemaligen Jugoslawien meine Zustimmung erteilen müßte.
Fünftens. Die Entscheidung über die aktive Rolle der Bundeswehr und damit Deutschlands in der Welt stellt eine entscheidende Weichenstellung dar, über die nicht nur wir, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger gründlich diskutieren müssen. Es ist eine Frage, die mehr als viele andere in ihrer Konsequenz das ganze deutsche Volk berührt. Wir alle sollten uns deshalb die Frage stellen, wie wir die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes an dieser dringend notwendigen Entscheidung beteiligen können. Ich möchte diese Debatte führen, sie ist dringend erforderlich. Aber sie verlangt einen Konsens sowie vernünftige, ehrliche Grundlagen. Sie muß Antwort auf all die Fragen geben, die der Antrag der Bundesregierung heute offenläßt.
Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Toleranz bedeutet für mich nicht unbeteiligtes Danebenstehen, heißt auch nicht Laissez-faire, sondern Toleranz bedeutet für mich, dem anderen bei der Wahrung seiner Eigenständigkeit und seiner Rechte zur Seite zu stehen. Sicher tun wir uns alle schwer mit dem Verlust des Glaubens daran, daß wir einen neuen Grad des zivilisierten Umganges miteinander erreicht hätten. Die so deutlich vorgeführte Anfällig-
keit und Zerbrechlichkeit des zivilisatorischen Prozesses nach dem Zweiten Weltkrieg machen uns erneut die große Ambivalenz des Menschen bewußt. Vielleicht ist es meine Schwäche, nicht mitansehen zu können, daß die Bosnier wegen der Entscheidungsunfähigkeit des UN-Sicherheitsrates geopfert werden sollen. Deshalb lehne ich den Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in dieser Konsequenz ab. Dem Antrag der Bundesregierung kann ich nicht zustimmen, weil er eine so deutliche Klausel zur Rückzugssicherung der UN-Truppen enthält und ich diese Verknüpfung der Hilfe mit der Androhung, sich ansonsten zurückzuziehen, nicht mittragen kann.
Stephan Hilsberg (SPD): Ich schließe mich den von Norbert Gansel in seiner Rede dargelegten Positionen an.
Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Ich kann mich nicht dazu entschließen, dem Antrag der Bundesregierung, Drucksache 13/1802, zuzustimmen, bewaffnete Streitkräfte zur Unterstützung des sogenannten schnellen Einsatzverbandes einzusetzen.
Wir sind in eine politische Lage geraten, in der jede Entscheidung falsch ist. Für jeden bewaffneten Einsatz, früher Krieg genannt, muß zuvor eindeutig bestimmt werden, welches politische Ziel erreicht werden soll, für das das Leben von Soldaten eingesetzt und geopfert wird. Dieses Ziel kann ich nicht erkennen.
Inhaltlich läuft die geforderte Beteiligung auf eine Teilnahme an dem Einsatz der Blauhelme UNPROFOR hinaus. Blauhelme sollten ursprünglich mit Zustimmung der kriegführenden Parteien durch Neutralisierung einen unbeabsichtigten Ausbruch kriegerischer Auseinandersetzungen verhindern.
Diese Aufgabe kann weder mit den vorhandenen, noch mit den nun geforderten Streitkräften erreicht werden. Wir werden vielmehr Schritt für Schritt in einen Krieg hineingezogen, den wir nicht verhindern, und in dem die Beteiligung deutscher Soldaten - nach allen bisherigen und berechtigten Erklärungen der Bundesregierung - eher eskalierend wirken wird.
Solidarität im Bündnis ist nowendig. Sie entbindet aber nicht von der Verpflichtung, rationale Entscheidungen zu treffen. Ich könnte es verstehen, wenn bewaffnete Hilfe angeboten werden soll, um den Abzug der UNPROFOR-Einheiten zu ermöglichen. Ich könnte es auch verstehen, wenn die Demütigung der Völkergemeinschaft durch Geiselnahme von Soldaten der UNPROFOR beantwortet werden soll mit der entschlossenen Sicherung der Schutzzonen im Kriegsgebiet mit jeder Form militärischer Macht unter Beteiligung aller Staaten der NATO oder mit eigenen militärischen Einheiten der Vereinten Nationen, wie sie in ihrer Charta vorgesehen sind. Ich könnte es auch verstehen, wenn das Waffenembargo für das gesamte Kriegsgebiet konsequent mit allen denkbaren Mitteln der Völkergemeinschaft durchgesetzt werden soll.
Noch besser wäre es allerdings, die Mittel, die jetzt für militärische Einsätze aufgewendet werden sollen, dafür einzusetzen, durch den Bau von Wohnungen, Straßen, Krankenhäusern, Schulen und Infrastruktur soziale und ethnische Konfliktherde zu beseitigen.
Ich kann es aber nicht akzeptieren, daß wir uns immer weiter in eine aussichtslose Lage hineinziehen lassen und dafür das Leben unserer Soldaten einsetzen.
Das Ziel, entweder nur humanitäre Hilfe zu leisten oder sich an einem wirksamen militärischen Einsatz der gesamten Völkergemeinschaft zu beteiligen, kann ich durch keine Form der Stimmabgabe zu den vorliegenden Anträgen erreichen. Darum werde ich mich der Stimme enthalten.
Birgit Homburger (F.D.P.): Die heutige Entscheidung läutet eine neue Epoche in der deutschen Außenpolitik ein. Grundlage der heutigen Entscheidung ist der Gedanke, den Menschen in Bosnien helfen zu wollen. Wir müssen uns bewußt sein, daß diese Hilfe im Rahmen der internationalen Staatengemeinschaft auch den Tod deutscher Soldaten bedeuten kann. Wir alle hoffen, daß es dazu nicht kommt. Wir dürfen aber nicht allein im Glauben auf diese Hoffnung entscheiden. Jedem einzelnen von uns muß bewußt sein, welche Konsequenzen diese Entscheidung haben kann, und wir sind es den Bürgerinnen und Bürgern schuldig, dies ehrlich anzusprechen.
Mit Blick auf die deutsche Geschichte und zur Sicherung des Friedens in Europa ist es konsequent, daß die Bundesrepublik Deutschland sich in die internationale Staatengemeinschaft integriert. Dies bedeutet, daß nach intensiver Diskussion und Erörterung des Einzelfalls auch ein Einsatz deutscher Soldaten bei allen militärischen Einsätzen im Rahmen der internationalen Staatengemeinschaft möglich sein muß. Den politischen Auftrag, den wir heute der Bundeswehr erteilen, ist verantwortbar. Ich fordere die Verantwortlichen bei der Bundeswehr, an ihrer Spitze den Bundesminister der Verteidigung, auf, sicherzustellen, daß nur entsprechend gut ausgebildete Soldaten für den Einsatz ausgewählt werden und daß alle organisatorischen Maßnahmen für eine optimale Vorbereitung und für die Sicherheit der deutschen Soldaten getroffen werden. Darüber hinaus vertraue ich auf die Zusage des Verteidigungsministeriums, daß bei einem eventuellen Einsatz von Wehrpflichtigen oder Reservisten nur Freiwillige zum Einsatz kommen. Ich halte es weiterhin für notwendig, freiwillige Wehrpflichtige oder Reservisten nur dann zum Einsatz zuzulassen, wenn es von deren Ausbildungsstand und der individuellen Leistungsfähigkeit verantwortbar ist.
Ich akzeptiere, daß es weit über die Bundesrepublik Deutschland hinaus eine große Übereinstimmung gibt, die den Verbleib der UNO-Soldaten in Bosnien als notwendig erachtet. Ich bin persönlich anderer Auffassung. Angesichts der Lage in Bosnien glaube ich nicht daran, daß die internationale Staatengemeinschaft es mit den derzeitigen Maßnahmen schaffen wird, Frieden in Bosnien zu sichern. Die Verantwortlichen für den Tod vieler Menschen in Bosnien sind auch die Verantwortlichen für die Gefangennahme von UNO-Soldaten. Sie zeigen keiner-
lei Reue. Es ist deshalb nicht davon auszugehen, daß sie sich ändern. Ich befürchte im Gegenteil, daß Männer wie Karadzic die Beteiligung deutscher Soldaten für eine unberechtigte, aber bewußt vorangetriebene Eskalation mißbrauchen wollen. Die Verantwortlichen, insbesondere der bosnische Serbenführer Karadzic, sind in meinen Augen Mörder. Sie handeln internationale Vereinbarungen aus und brechen sie jedesmal. Sie versuchen mit unwürdigen Mitteln, die internationale Staatengemeinschaft vorzuführen. Mit solchen Männern sollte nicht weiter verhandelt werden. Sie sollten zur Rechenschaft gezogen werden. Daher bin ich persönlich der Meinung, daß die UNO-Soldaten aus Bosnien abgezogen und das Waffenembargo aufgehoben werden sollte.
Da ich mit dieser Meinung als einzelne gegen eine große Mehrheit stehe, werde ich diese persönliche Auffassung nicht zur Grundlage meiner heutigen Entscheidung machen. Wenn auf der Grundlage einer derart großen Übereinstimmung für den Verbleib der UNO-Soldaten in Bosnien deutsche Soldaten sich nun freiwillig zum Einsatz melden, weil sie davon überzeugt sind, daß sie anderen Menschen helfen können, wenngleich sie sich persönlich in Lebensgefahr begeben, müssen sie dafür die Unterstützung und Hilfe der deutschen Politiker haben. Da ich außerdem den Einsatz für verantwortbar halte, werde ich dem Antrag der Bundesregierung zustimmen.
Gleichwohl halte ich fest, daß in der Zukunft eine intensive politische Diskussion über eine klare Umstrukturierung und moderne Organisation der Bundeswehr mit Blick auf neue Anforderungen geführt werden muß. In diesem Zusammenhang erkläre ich, daß ich bei meiner Auffassung bleibe, daß wir den zukünftigen Herausforderungen an die Bundeswehr nur mit einer Freiwilligenarmee gerecht werden können.
Gerhard Jüttemann (PDS): Stundenlang und leidenschaftlich ist in diesem Hohen Hause über die folgenlose Frage der Verhüllung des Reichstages diskutiert worden. Nun wollen Sie die Frage entscheiden, ob Deutschland wieder tauglich ist, sich an Kriegen zu beteiligen, und möchten möglichst wenig darüber debattieren. Warum eigentlich, was haben Sie denn zu verbergen? Hat es vielleicht damit zu tun, daß Ihre Motive doch nicht so lauter und redlich sind, wie Sie es glauben machen möchten?
Ich vermute es, und zwar deswegen, weil Deutschland im jugoslawischen Konflikt von Anfang an eine sehr unrühmliche Rolle gespielt hat. Zunächst als EU-Vorreiter für die Anerkennung Kroatiens. Es war der bosnische Präsident Izetbegovic, der damals dringend vor dieser Anerkennung gewarnt hat. Denn wenn es unmöglich war, daß Kroaten noch länger mit den Serben in einem einzigen multikulturellen Jugoslawien zusammenleben konnten, dann galt die gleiche Logik doch auch für das multikulturelle Bosnien-Herzegowina. Die Anerkennung Kroatiens hat also den Krieg sehr wahrscheinlich gemacht, die wiederum von Deutschland forcierte Anerkennung Bosniens hat dann maßgeblich zu seiner Auslösung beigetragen. Izetbegovic hat das gewußt, und die verantwortlichen deutschen Politiker wollen das nicht gewußt haben?
In der Folgezeit haben dann z. B. England und Frankreich immer wieder versucht, politische Lösungen zu vermitteln, was ja nur möglich ist, wenn man in dem Konflikt nicht Partei ergreift. Für Deutschland dagegen waren von Anfang an die Serben die blutrünstige Bestie und Moslems und Kroaten das unschuldige Lamm. Dabei will ich gar nicht in Frage stellen, daß der Nationalismus der größten Nation, also der serbischen, natürlich der gefährlichste ist. Der Krieg aber ist Ausdruck des Auf einandertreffens aller drei unvereinbaren Nationalismen in Jugoslawien, des serbischen, des kroatischen und des moslemischen.
Der deutschen Politik werfe ich vor, daß sie in dieses ohnehin so hochexplosive Gemisch noch ihren eigenen Nationalismus hineinkatapultiert. Sie versuchen seit geraumer Zeit, Ihr Standort-DeutschlandSüppchen nun auch mit militärischen Zutaten zu würzen. Ich fordere Sie deshalb zur radikalen Umkehr auf: Beteiligen Sie sich an der Suche politischer Lösungen, die die Rechte aller beteiligten Konfliktparteien berücksichtigen. Lassen Sie ab von dem abenteuerlichen Versuch, deutsches Militär wieder deutsche Außengrenzen überschreiten zu lassen.
Ich jedenfalls verweigere den von Ihnen gewünschten Kriegskrediten die Zustimmung. Ich sage nein zu Kampfeinsätzen der Bundeswehr im Krisengebiet des ehemaligen Jugoslawien oder irgendwo sonst auf der Welt.
Volker Kröning (SPD): Der anhaltende Völker- und Menschenrechtsbruch in Bosnien-Herzegowina, die Leiden der Zivilbevölkerung und die Gefährdung der Blauhelmsoldaten verlangen von der Staatengemeinschaft eine politische Antwort, die dem Recht zur Durchsetzung verhilft und vor allem der Beendigung des bewaffneten Konflikts dient.
Die deutsche Politik kann im ehemaligen Jugoslawien nur wenig tun, doch das muß sie tun. Ich stimme deshalb der Maßnahme zu, um deren Billigung die Bundesregierung den Deutschen Bundestag ersucht, und enthalte mich bei dem SPD-Antrag.
Die Entscheidung enthebt die Bundesrepublik nicht der Pflicht zu weiteren Anstrengungen im Zusammenwirken mit den anderen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der NATO.
Horst Kubatschka, Klaus Barthel, Uwe Hiksch, Christa Lörcher, Antje-Marie Steen (alle SPD): Der Deutsche Bundestag trifft heute eine historische Entscheidung: Er entscheidet über einen Kriegseinsatz von deutschen Soldaten. Wir sind politisch aktiv geworden, in die SPD eingetreten, um den Frieden zu erhalten - eine Politik gegen den Krieg zu betreiben. Krieg löst keine Probleme. Dies ist sozialdemokratische Überzeugung.
Nach diesem Beschluß wird die NATO ihr Gesicht geändert haben. Das Verteidigungsbündnis wird sich zum Interventionsbündnis wandeln. Gleichzeitig verändert sich die Bundeswehr. Auch sie wird von einer
Verteidigungs- zu einer Interventionsarmee umstrukturiert. Aus der Wehrpflichtigenarmee wird mittelfristig eine Berufsarmee. Damit wird nach unserer Auffassung der Auftrag und Rahmen des Grundgesetzes verlassen. Bisher konnte der Staat von seinen Bürgern die Selbstverteidigung verlangen. Diese fand in einem Bündnis statt, dessen Verteidigungsauftrag auf das Gebiet der verbündeten Länder beschränkt war. Mit dem Eingreifen im ehemaligen Jugoslawien, also außerhalb des Bündnisgebietes, wird der bisherige Auftrag grundlegend negativ verändert.
Aus diesen Gründen können wir dem Entschließungsantrag der SPD-Fraktion nicht zustimmen.
Helfen wir mit dem Einsatz der Bundeswehr den Opfern dieses Krieges? Nein, der Krieg wird angeheizt. Es wird noch mehr Opfer geben. Wollen wir nochmals Blauhelme als Geiseln erleben? Wollen wir noch einmal in die Falle der Kriegsparteien laufen? Jede deutsche Beteiligung wird zu einer Eskalierung des Krieges führen. Dadurch entsteht die Gefahr, daß mit deutschen Soldaten und deutschen Waffen trotz historischer Erfahrung eine Kriegsbeteiligung in Gang gesetzt wird. Mit Bomben und Raketen kann dieser Konflikt nicht gelöst werden. Helfen können nur Verhandlungen. Die Kriegsparteien lassen sich nicht an den Verhandlungstisch bomben. Dies zeigt der bisherige Verlauf des Krieges. Das Versagen der Außenpolitik kann nicht durch militärische Handlungen ersetzt werden. Von der Außenpolitik - auch von der deutschen - wurde bisher keine politische Lösung für Bosnien-Herzegowina erarbeitet. Bomben und Raketen sind keine politischen Konzepte. Die Außenpolitik hat insofern abgedankt. Die Antragsbefürworter setzen Zeichen der Hilflosigkeit.
Innerhalb von 6 Monaten wird dieser Militäreinsatz mindestens 345 Millionen Mark verschlingen. Statt dessen sollten wir einen Plan vorlegen, das geschundene Land wieder aufzubauen. Diese 345 Millionen Mark könnten wir als Starthilfe einsetzen. Die Mittel müßten allen Konfliktparteien angeboten werden. Damit könnten Zeichen gesetzt werden.
Wir leiden an den Kriegsbildern im ehemaligen Jugoslawien, an den Morden in Bosnien-Herzegowina, wir leiden mit den Menschen in Bosnien. Doch Krieg mit Krieg bekämpfen zu wollen ist falsch und wird den Konflikt noch massiv verschärfen.
Mit der Anerkennung von Slowenien und Kroatien hat der ehemalige Außenminister Genscher historische Schuld auf sich geladen. Wir sollten durch den Einsatz deutscher Soldaten nicht erneut Schuld auf uns nehmen. Durch diese Maßnahme wird der Krieg ernährt und nicht verzehrt.
Aus diesen Gründen lehnen wir den Antrag der Bundesregierung entschieden ab.
Konrad Kunick (SPD): Zur Erklärung meines Abstimmungsverhaltens gebe ich unverkürzt den Brief zu Protokoll, den ich dem Vorsitzenden meiner Fraktion - Rudolf Scharping - in dieser Angelegenheit geschrieben habe:
Lieber Rudolf,
ich möchte Dich in Kenntnis setzen, daß ich aus der ganzen Erfahrung meines Lebens einen Antrag ablehne, der dem Bundestag anträgt zu beschließen, einen schnellen Einsatzverband zum Schutz der UN-Friedenstruppen auch mit Kräften der Bundeswehr zu unterstützen. Ich will auf keinen Fall, daß meine Söhne an einer solchen Operation teilnehmen müßten und dementsprechend mute ich es auch nicht den Söhnen anderer Bürger unseres Staates zu. Ich habe der alten Bundesrepublik den Kriegsdienst verweigert, nachdem ich zwei Jahre Wehrdienst abgeleistet hatte; meine Söhne haben statt dessen Behinderte gepflegt.
In der gegenwärtigen politischen Situation sehe ich überhaupt keinen Anlaß, daß die SPD irgendeinen militärischen Einsatz mitträgt, weil unsere Verbündeten nicht in Europa angegriffen werden und mit Hinweis auf die Bündnispflichten militärische Unterstützung durch deutsche Truppen anfordern. Erst in einem solchen Fall bin ich bereit, zu differenzieren zwischen meinem individuellen Verhalten als Kriegsdienstverweigerer und politischen Beschlüssen, die in einer bestimmten Situation geboten sind. Im Augenblick sehe ich die SPD in der Situation, daß sie mit ihren Beschlüssen zwar zu bremsen versucht, aber letztlich doch Stück für Stück Verantwortung übernimmt für die Umwandlung der um sechs hilfsbedürftige Länder größer gewordenen Bundesrepublik zu einer mitteleuropäischen Großmacht und in einem Prozeß, der leicht enden kann in einem Krieg zwischen Serbien und einer Anzahl europäischer Staaten. Den Weg dorthin will ich mit meinem Stimmverhalten so schwer wie möglich machen. Deshalb lehne ich den Antrag der Regierung und den Antrag der SPD-Fraktion ab. Anträgen anderer Fraktionen oder Gruppen werde ich auch nicht zustimmen.
Meine derzeit ablehnende Haltung wird zusätzlich noch durch die historischen Ereignisse getragen, die Deutschland und das ehemalige Jugoslawien verbinden. Die unerträgliche Rolle, die die zweite ehemalige deutsche Wehrmacht im zweiten Weltkrieg auf dem Balkan gespielt hat, erzeugt auch für mich verständliche Vorbehalte der serbischen Bevölkerungsgruppen, ohne daß ich damit die von serbischer Seite auszugehenden Aggressionen rechtfertigen will. Ferner widerspricht ein Einsatz deutscher Truppen auf dem Balkan auch dem sinnvollen Grundsatz der UNO, nach Möglichkeit die UN-Truppen nur aus Ländern zu rekrutieren, die mit dem Einsatzland nicht eng historisch verbunden sind.
Die Lage im früheren Jugoslawien, lieber Rudolf, wirft für mich die Frage auf, ob wir den Krieg als Mittel deutscher oder europäsicher Politik im Obergang zu einem neuen Jahrhundert sich wieder einschleichen lassen in das Selbstbewußtsein unserer Bevölkerung. Ich weiß, daß das niemand aus den seriösen Parteien des Bundestages will. Trotzdem kann das die Folge auch unseres Handelns sein.
Ich verstehe natürlich Deinen Antrag als Versuch,
Militärpolitiker und Außenpolitiker der Fraktion da-
von abzuhalten, daß sie dem Regierungsantrag zustimmen. Nur glaube ich, daß wir auch mit diesem Versuch der Entwicklung „neue Leine" geben. Und das Schlimme ist ja, daß die meisten Kriege im Bewußtsein begonnen worden sind, daß irgendeine Situation so unerträglich sei, daß nunmehr die Anwendung und Steigerung militärischer Mittel geboten sei. Ich halte die Situation in Bosnien auch für unerträglich, denke aber auch an Kennedys Steigerung militärischer Mittel in einem Krieg, der nicht zu gewinnen war. Und gänzlich unerträglich ist es mir, mit ansehen zu müssen, wie die frühere westdeutsche Friedensbewegung tröpfchenweise den Willen zum Kriege gebiert.
Waltraud Lehn (SPD): Ich habe keine Bedenken, dem Antrag der Bundesregierung nicht zuzustimmen.
Den Antrag der SPD-Fraktion „Deutsche Unterstützung im ehemaligen Jugoslawien" kann ich nur eingeschränkt unterstützen. Vor allem die in Punkt 4 d geforderte Unterstützung des schnellen Einsatzverbandes bei seinen Operationen für die VN-Friedenstruppen durch Aufklärungsflugzeuge findet nicht meine Zustimmung. Ich habe erhebliche persönliche Bedenken, wenn zum jetzigen Zeitpunkt deutsche Streitkräfte zur Unterstützung des schnellen Eingreifverbandes nach Bosnien entsandt werden, da die Gefahr besteht, daß im Falle einer Provokation die schnelle Eingreiftruppe gezwungen sein könnte, ihr Mandat zu überschreiten, und somit eine Eskalation des Konfliktes entstehen könnte.
Wenn ich dem SPD-Antrag dennoch unter großen Bedenken zustimme, dann vor allem wegen der Gesamtintention des Antrags, den Menschen in diesem Kriegsgebiet Schutz zu gewähren, und auf Grund der Tatsache, daß die Zustimmung zu einem deutschen Einsatz zeitlich befristet ist, um dem Parlament unter veränderten Umständen eine Überprüfungsund Korrekturmöglichkeit zu geben.
Margot von Renesse (SPD): Dem Antrag der Bundesregierung kann ich nicht zustimmen. Er entspricht nicht den Anforderungen des Verfassungsgerichtsurteils zu Out-of-area-Einsätzen der Bundeswehr. Danach kann die Bundesregierung nur dann die Zustimmung des Parlaments zu Out-of-area-Einsätzen beantragen, wenn zunächst eine Anforderung der UN dazu ergangen ist. Diese aber liegt für den Teil des Beschlußantrags, der den Bundeswehreinsatz für einen eventuellen Abzug der UN-Friedenstruppen vorsieht, nicht vor.
Bezöge sich der Beschlußantrag der Bundesregierung allgemein auf einen Unterstützungsplan zugunsten von UN-Friedenstruppen und des schnellen Einsatzverbandes, so könnte sie - bei Zustimmung - wegen ihrer Entscheidungsprärogative auch dazu ermächtigt sein, den genehmigten Sicherungsbeitrag auf einen Abzug der Blauhelme zu erstrecken. Statt eines allgemein gehaltenen Antrags hat sie aber detaillierte Absichten in ihrer Beschlußvorlage dargelegt und dafür um Genehmigung durch das Parlament nachgesucht. Ich stimme dagegen, da ich hier - mangels UN-Anforderung - verfassungsrechtliche Bedenken habe.
Zusätzlich verweigere ich meine Zustimmung, da ich es für politisch - wenn auch nicht rechtlich - verfehlt halte, die Einbeziehung von Wehrpflichtigen in Out-of-area-Kampfeinsätze nicht auszuschließen. Die Bundesregierung will den Einsatz zwar, wie sie im Rechtsausschuß kundgetan hat, von der Zustimmung der Wehrpflichtigen abhängig machen. Eine solche Zustimmung hebt aber die vorrangige Verantwortung des Staates für jede Form des Einsatzes von Wehrpflichtigen nicht auf. Sie sind als Soldaten nur auf Grund der gesetzlichen Wehrpflicht eingezogen, als solche sollten sie auch eingesetzt werden. Wehrpflicht ist nur mit Verteidigungsbereitschaft zu begründen, nicht mit anderen - noch so nachvollziehbaren - Zielen und Absichten. Auch darum lehne ich den Antrag 13/1802 ab.
Bei der Abstimmung zum Antrag der SPD kann ich mich nur enthalten. Er überzeugt mich deshalb nicht, weil ich seine Logik nicht erkennen kann. Das Bleiben der UN-Friedenstruppe wird bejaht,, ihre Unterstützung durch eine schnellere Einsatztruppe wird begrüßt, Hilfeleistung durch Sanitätssoldaten, Stabsmitglieder aus der Bundeswehr, Transportflüge und Aufklärungs-Tornados werden zugesichert. Nur der Einsatz von ECR-Tornados soll „ausdrücklich" ausgeschlossen sein. Da aber nicht nur die Verwendung dieser Waffe, sondern schon die Beteiligung an Einsatzstäben und die Aufklärung in der Luft als Beteiligung von Kombattanten an möglichen ECR-Kampfhandlungen zu werten ist, scheint mir der dezidierte Ausschluß der Tornados, der als neue Qualität für mich nicht erkennbar ist, schwer zu begründen. Das gilt um so mehr, als ECR-Tornados erst dann eingesetzt werden können, wenn zuvor von Raketenstellungen gegen die Blauhelme und die Einsatztruppe eine Aggression ausgegangen ist. Die Sorge, der Einsatz der ECR-Tornados könne zu einer weiteren Eskalation des Kriegsgeschehens führen, kann ich deshalb nur schwer teilen, auch wenn ich in den vergangenen Tagen intensiv nach plausiblen Argumenten dafür gesucht habe.
Zu meinem Kummer muß ich mich daher bei der Abstimmung zum Antrag meiner Fraktion der Stimme enthalten. Ich kann - weil mir die außen-und militärpolitischen Kenntnisse und Erfahrungen fehlen - nicht ausschließen, daß es überzeugende Argumente gibt, die mir nicht begegnet sind. Da ich mir dessen bewußt bin, stimme ich nicht mit Nein, sondern enthalte mich.
Waltraud Schoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute möchte ich am liebsten nicht in meiner Haut stecken. Vor zwölf Jahren in der Nachrüstungsdebatte habe ich eine persönliche Erklärung abgegeben, in der ich mich gegen die Nachrüstung und für die Abschaffung von Waffen ausgesprochen habe.
Ich halte an der Position fest, daß die Produktion von Waffen menschliche Kompetenzen bindet, die im Sinne der Gestaltung einer friedlicheren Welt notwendig anders eingesetzt werden müßten. Ich halte auch an der Position fest, daß der Handel mit Waffen und die Anhäufung von Waffenarsenalen der Armut von Menschen besonders in den Entwicklungsländern Vorschub leisten. Ich weiß heute die überstaatli-
chen Institutionen wie die UN, die NATO, die OSZE u. a. zu schätzen, die sich der friedlichen Konfliktregelung, der Vermeidung von Kriegen, der Verteidigung der Menschenrechte und der Demokratieentwicklung verpflichtet haben. Ich halte ihre Existenz für notwendig, politisch richtig und unentbehrlich, auch wenn sie an vielen Stellen reformiert werden müssen und ich nicht alle in ihrem Namen durchgeführten Maßnahmen billigen kann.
Heute werde ich einer Beteiligung deutscher Soldaten in Bosnien zustimmen. Diese Entscheidung werden viele nicht verstehen, das ist mir klar; denn wir leben in einem Land mit einem pazifistischen Grundton, der als Resultat unserer Geschichte entstanden ist, die sich aus der Sicherheit nährt, die uns die Westbindung gewährt hat.
Ich möchte meine Entscheidung an drei Punkten verdeutlichen:
Erstens. Auf dem Boden des ehemaligen Jugoslawien findet ein Eroberungskrieg statt, dessen Ziel die Bildung eines ethnisch homogenen faschistisch-großserbischen Reiches ist. Der Einsatz der Blauhelme durch die Weltgemeinschaft ist der Versuch, den Krieg einzudämmen und durch Verhandlungen Frieden zu erreichen. Die heute zu entscheidende Verstärkung der Blauhelme ist der letzte Versuch, wenigstens den Status quo zu sichern. Die Kontaktgruppenmitglieder haben den Eroberungen Karadzics durch den Vorschlag der 51/49 Regelung im Grunde genommen ihre Zustimmung gegeben. Ein Abzug der Blauhelme aber würde die Ausdehnung des Krieges bedeuten, denn die Wahnvorstellung eines großserbischen Reiches würde vor dem Kosovo und anderen Gebieten nicht haltmachen.
Zweitens. Man mag die Arbeit der Kontaktgruppe an vielen Stellen kritisieren. Ihre unterschiedlichen nationalen Interessen und sich widersprechenden Grundkonzeptionen haben sie auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner agieren lassen; dazu kam die mangelnde Bereitschaft der Europäer, dem Aggressor entgegenzutreten. Aber die Bildung der Kontaktgruppe unter Einschluß Rußlands deutet doch auf sich abzeichnende Konturen einer europäischen Friedens- und Sicherheitspolitik hin.
Der sich vorsichtig anbahnende Prozeß einer europäischen Friedensordnung durch die Partnerschaft für den Frieden, den NATO-Kooperationsrat und durch die Bildung der Kontaktgruppe unter Einschluß Rußlands kann gefährdet werden, wenn Deutschland sich durch Abstinenz auf Dauer in eine isolationistische Haltung bringt. Die Gefahr eines deutschen Sonderweges stände wieder am Horizont. Deshalb bin ich dafür, daß deutsche Soldaten sich beteiligen, weil eine gemeinsame europäische Politik auch bedeutet, gemeinsam die Risiken zu tragen.
Drittens. Die Vergeiselung der Blauhelme bedeutet den Rückfall in die Brutalisierung internationaler Beziehungen. Es bedeutet den Bruch aller menschenrechtlichen Verträge und Vereinbarungen. Es bedeutet den Angriff auf die UN als die Organisation, die einzig und allein den weltweiten Problemen und Konflikten entgegentreten kann. Wer dem Versuch der Denunziation der Weltgemeinschaft nicht entgegentritt, begibt sich nicht nur in die Gefahr der Renationalisierung von Sicherheitspolitik, sondern gefährdet auch die notwendige übernationale Zusammenarbeit, die bei anderen Problemen wie ökologischen Fragen oder organisierter Kriminalität notwendig sind.
Ich stimme für die Beteiligung deutscher Soldaten im Bewußtsein, daß Entscheidungen auch falsch sein können.
Josef Vosen (SPD): Weder kann ich dem Antrag der Bundesregierung „Deutsche Beteiligung an den Maßnahmen zum Schutz und zur Unterstützung des schnellen Einsatzverbandes im früheren Jugoslawien einschließlich der Unterstützung eines eventuellen Abzugs der VN-Friedenstruppen", Drucksache 13/1802, zustimmen, noch kann ich dem Entschließungsantrag der SPD-Bundestagsfraktion zum Antrag der Bundesregierung, Drucksache 13/1835, zustimmen. Ich werde gegen beide Anträge stimmen.
Zur Begründung meiner ablehnenden Haltung erkläre ich: Ich lehne den Einsatz deutscher Flugzeuge, einschließlich Aufklärungsflugzeuge, über dem Kriegsgebiet von Bosnien-Herzegowina ab. Ich nehme international bemannte AWACS-Flugzeuge ausdrücklich von meiner Ablehnung aus.
Der Antrag der SPD ist meines Erachtens vor allem im Punkt 4 d - „Unterstützung des schnellen Einsatzverbandes bei seinen Operationen für die VN-Friedenstruppen durch Aufklärungsflugzeuge"- nicht konsequent. Er stellt einen Formelkompromiß dar, den ich in dieser schwierigen Frage des Einsatzes der Bundeswehr im Kriegsgebiet für mich nicht akzeptieren kann.
Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Ich stimme gegen den Antrag der Bundesregierung, der deutsche Kampfflugzeuge ins ehemalige Jugoslawien schikken will.
Der Einsatz deutscher Kampfflugzeuge im ehemaligen Jugoslawien wird den Krieg verschärfen und führt dazu, daß Deutschland in den Krieg im ehemaligen Jugoslawien schlittert und zum Truppensteller wird. Die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien laden damit schwere Schuld auf sich. Die Bundesregierung hat von Anfang an eine Politik im ehemaligen Jugoslawien verfolgt, die die Konflikte verschärft und geschürt hat. Die Anerkennung der einzelnen Republiken ohne Sicherung der Rechte der jeweiligen Minderheiten und der gewaltfreien Trennung der Republiken voneinander hat von Anfang an die Gewalt mit verschärft.
Die westlichen Länder haben und verfolgten über lange Zeit absolut unterschiedliche Politikansätze gegenüber den einzelnen Republiken des ehemaligen Jugoslawien. Sie haben es alle zusammen nicht geschafft, die Waffenexporte in die unterschiedlichen Republiken zu verhindern, im Gegenteil, manche von ihnen lassen es ganz bewußt zu, daß das Waffenembargo gebrochen wird.
Die Bundesregierung hat sich bisher als unfähig erwiesen, politische Lösungen im ehemaligen Jugo-
slawien zusammen mit den europäischen und den westlichen Partnern zu bewirken. Hätte die Bundesregierung genausoviel politische Diplomatie und politische Phantasie aufgewandt, um dazu beizutragen, die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien zu entschärfen, wie sie in den letzten Jahren aufgewandt hat, um Schritt für Schritt die Hürden für den militärischen Einsatz der Bundeswehr zu senken, dann wären vielleicht politische Lösungen im ehemaligen Jugoslawien leichter vorangekommen.
Aber sie will ihre eigene Verantwortung dafür, daß sie Deutschland zum Truppensteller macht, nicht offen zugestehen. Da wird von „Hilfe" und „Solidarität" für die Verbündeten gesprochen. Aber die Konsequenz wird das Hineinschlittern in einen Krieg sein - in einem Land, einer Region, die Deutschland einst mit Krieg überzogen hat.
Meine Partei hat niemals Krieg über unser Land und Europa gebracht. Willy Brandt hat aus den schrecklichen Erfahrungen unseres Volkes mit den Kriegen dieses Jahrhunderts die Sehnsucht der Menschen nach Frieden, nach Versöhnung und Gewaltverzicht in seiner Ostpolitik und in seinen Vorschlägen zum Ausgleich zwischen Nord und Süd verwirklicht. Dies ist die Tradition des Helfens und des Rufbauens. In dieser Tradition steht die Sozialdemokratische Partei in den Beschlüssen ihrer Willensbildungsgremien und auch in ihrer Entscheidung heute. In dieser Tradition stimme ich gegen den Antrag der Bundesregierung, Kampfflugzeuge im ehemaligen Jugoslawien einzusetzen.
Ich habe große Skepsis, ob der sogenannte schnelle Einsatzverband seine Aufgaben im geplanten Sinne im ehemaligen Jugoslawien tatsächlich verwirklichen kann. Wenn er sein Mandat im Sinne von Peace-keeping wirklich wahrnehmen kann und wahrnimmt, steht er vor den gleichen Problemen wie bisher die Blauhelme. Wenn er sein Mandat überschreitet, werden die Auseinandersetzungen zunehmen. Wir können also nur hoffen, daß die Blauhelme tatsächlich wirkungsvoll ihre Aufgabe der Verhinderung weiterer Eskalation wahrnehmen können, daß der Rahmen des Mandates nicht überschritten wird, damit die Blauhelme in letzter Konsequenz nicht abgezogen werden müssen. Das wäre der Beginn eines weiteren schrecklich eskalierenden Krieges. Deshalb führt an der Suche nach einer politischen Lösung kein Weg vorbei.
Die Regierungsparteien behaupten, die gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik mache den Einsatz der ECR-Tornados notwendig, er sei quasi ein Beitrag dazu. Mit dieser Art und Weise würdigen und werten sie die Perspektive gemeinsamer europäischer Außen- und Sicherheitspolitik ab, die für Europa erst entwickelt werden muß. Die Frage, wie die Bundesrepublik ihren Beitrag zur Hilfe im Rahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union leistet, kann sie selbst entscheiden. Volker Rühe und die Bundesregierung selbst haben den Einsatz der ECR-Tornados angeboten.
Die deutsche Außenpolitik sollte vielmehr zu einer anderen gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik beitragen, aus der Europa und die Welt große Vorteile ziehen könnten. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die aus friedenspolitischen Traditionen und Verpflichtungen gemeinsames Handeln ableitet und die Europas Stärke in der Welt zur Verhinderung von Waffenexporten, zur Konversion und zu einer vorausschauenden Außenpolitik und vorbeugender Konfliktlösung sieht und einsetzt.
Dr. Winfried Wolf (PDS): Mein Nein zu dem Beschluß, Bundeswehrtruppen in das ehemalige Jugoslawien zu entsenden, begründet sich in einer antimilitaristischen Haltung, die ich seit 28 Jahren vertrete.
Erstens. 1967 stimmte ich mit Nein zur Bundeswehr und wurde mit politischer Begründung Kriegsdienstverweigerer. Den Hintergrund bildete der Militärputsch in Griechenland vom 21. April 1967 unter Führung einer faschistischen Junta, die u. a. Internierungslager für die politischen Gefangenen, darunter Mikis Theodorakis, eingerichtet hatte. Den Bezug zur Bundeswehr sah ich insbesondere in der Tatsache, daß der dem Putsch zugrunde liegende Plan „Prometheus" im Rahmen der NATO entwickelt wurde. In den achtziger Jahren nahm ich zur Kenntnis, daß die NATO-Innenstruktur „Gladio" für die meisten NATO-Staaten vergleichbare Putschpläne entwickelt hatte.
Zweitens. In den 70er und 80er Jahren sagte ich nein zur militarisierten DDR-Gesellschaft und solidarisierte mich mit der demokratischen DDR-Opposition und deren Losung „Schwerter zu Pflugscharen".
Drittens. In den 80er Jahren sagte ich nein zur beschleunigten atomaren Hochrüstung von NATO und Bundeswehr und zum „NATO-Doppelbeschluß", verabschiedet von der Mehrheit in der SPD, CDU, CSU und F.D.P., und nahm an den Mobilisierungen der bundesdeutschen Friedensbewegung teil.
Viertens. Nach dem Ende des Kalten Krieges sah ich im Golfkrieg 1990/91 den Beginn einer neuen Ära heißer Kriege von Regierungen und Militärs der Ersten Welt gegen Länder an der Peripherie und in der Dritten Welt, u. a. um Weltmarkt und Rohstoffe, z. B. Erdöl, zu kontrollieren, und engagierte mich gegen diesen Krieg, u. a. mit der Herausgabe der Antikriegszeitung „desert!"
Fünftens. Meinem heutigen Nein zum Beschluß, Bundeswehr auf den Balkan zu entsenden, liegt die Auffassung zugrunde: Ohne die inneren Wurzeln des Krieges im ehemaligen Jugoslawien zu verkennen, sehe ich in diesem ein Experimentierfeld der militärisch stärksten Mächte dieser Welt, die in der NATO zusammengeschlossen sind, doch zugleich eigene machtpolitische Interessen verfolgen. Wenn erneut der Balkan als Testgebiet der Händler des Todes dient und wenn die hier bestehenden nationalen Spannungen genutzt und angeheizt werden, so sehe ich darin eine unselige Tradition, die u. a. in den Balkan-Kriegen vor dem Ersten Weltkrieg ihre Parallele findet. Wenn wieder deutsche Truppen in einen Balkankrieg entsandt werden, so knüpft dies fast nahtlos an die vorausgegangenen prokroatischen und an-
tiserbischen Engagements deutscher Militärs in den vorausgegangenen Kriegen auf dem Balkan an.
Nein zum neuerlichen Einsatz deutscher Militärs auf dem Balkan heißt für mich Ja zur Kriegsdienstverweigerung und Ja zur Desertion - z. B. von serbischen, bosnischen, kroatischen oder deutschen Soldaten.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Gerd Andres, Ingrid MatthäusMaier, Rudolf Purps, Verena Wohlleben, Horst
Schild, Dietmar Thieser, Christine Kurzhals, Dieter
Schloten, Sabine Kaspereit, Volkmar Schultz (Köln),
Reinhard Schultz (Everswinkel), Reinhold Robbe,
Kurt Palis, Wieland Sorge, Susanne Kastner, Arne
Börnsen (Ritterhude), Peter Zumkley, Manfred Hampel, Karl Hermann Haack (Extertal), Brigitte Schulte
(Hameln), Walter Kolbow, Robert Leidinger, Rolf
Schwanitz, Christian Müller (Zittau), Hans Berger,
Hermann Rappe (Hildesheim), Volker Neumann
(Bramsche), Erwin Horn, Ernst Kastning, Tilo
Braune, Thomas Krüger, Markus Meckel, Johannes
Singer, Karsten D. Voigt (Frankfurt), Renate Jäger,
Hans-Ulrich Klose, Gerhard Neumann (Gotha),
Dr. Eberhard Brecht (alle SPD) zur Abstimmung
über die Beschlußempfehlung zu dem Antrag der
Bundesregierung:
Deutsche Beteiligung an den Maßnahmen zum
Schutz und zur Unterstützung des schnellen Einsatzverbands im früheren Jugoslawien einschließlich
der Unterstützung eines eventuellen Abzugs der
VN-Friedenstruppen und zu den Entschließungsanträgen der Fraktionen von SPD und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie zu dem Entschließungsantrag
der Gruppe der PDS
(Tagesordnungspunkt 17)
Erstens. Die Unterzeichner werden in der Abstimmung über die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an Maßnahmen im Rahmen des UNO-Mandats (UNPROFOR) den Vorschlägen der Bundesregierung zustimmen und sich bei der Abstimmung über den SPD-Antrag enthalten.
Zweitens. Zu dieser Entscheidung sind wir nach reiflicher Diskussion und Überlegung gelangt und begründen diese Haltung kurz wie folgt:
Wir sind der Überzeugung, daß durch den Einsatz der UN-Blauhelmsoldaten im ehemaligen Jugoslawien Hunderttausende von Menschen gerettet wurden. Deshalb unterstützen wir die Position, die Vereinten Nationen in die Lage zu versetzen, den UNPROFOR-Einsatz fortzusetzen.
Die Entwicklung insbesondere der vergangenen Monate hat uns deutlich gemacht, daß die Sicherheit der UN-Soldaten gefährdet ist und daß zur Durchführung des UNO-Auftrages zusätzliche Maßnahmen erforderlich sind. Deshalb unterstützen wir ausdrücklich die Entscheidung der Vereinten Nationen, ihre in
Bosnien eingesetzten Friedenstruppen mit Hilfe des schnellen Einsatzverbands zu schützen und zur wirkungsvollen Erfüllung ihres Auftrages zu befähigen.
Wir stimmen der Entsendung deutscher Soldaten im Rahmen der Beschlußfassung zu. Wir wollen damit einen Beitrag zur Unterstützung und zum Schutz der Blauhelme sowie zur Solidarität mit den Soldaten der Entsendestaaten leisten, die Verläßlichkeit der Bundesrepublik Deutschland in kritischen Phasen kollektiver Sicherheit unterstreichen und der besonderen Verantwortung Europas für die Wiederherstellung von Frieden auf unserem Kontinent Rechnung tragen.
Dazu gehört nach unserer Auffassung auch die Bereitstellung von ECR-Tornados, die nach genau festgelegten Kriterien zusammen mit den Einheiten des schnellen Einsatzverbandes den Schutz der UN-Friedenstruppen mit gewährleisten sollen. Sie sollen Raketenangriffe auf UN-Flugzeuge verhindern und dadurch vorbeugend zur Deeskalation beitragen.
Drittens. Darüber hinaus verweisen wir auf den Redebeitrag unseres Kollegen Norbert Gansel, der in der Debatte für diejenigen gesprochen hat, die so wie wir votieren.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zu Tagesordnungspunkt 20
(Antrag: Einsetzung einer Enquete-Kommission
„Gleichstellung von Menschen mit Behinderung")
Heinz Schemken (CDU/CSU): Mit dem von der PDS eingebrachten Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission „Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen" ergibt sich die Frage nach der Notwendigkeit einer solchen Kommission. Die gleichberechtigte Teilnahme behinderter Menschen am Leben in der Gesellschaft ist eine Aufgabe, die trotz zahlreicher erzielter Verbesserungen noch nicht abgeschlossen ist, sondern sich immer wieder in neuen Zusammenhängen stellt.
Im vergangenen Jahr hat der Gesetzgeber den Belangen von Behinderten insofern Rechnung getragen, als durch die Ergänzung des Grundgesetzes ein Benachteiligungsverbot zugunsten behinderter Menschen erreicht werden konnte. Damit sind wir auf dem Weg zu einer gleichberechtigten Teilnahme behinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben einen wesentlichen Schritt weitergekommen.
Wichtig ist insbesondere für die Einschätzung des Benachteiligungsverbotes behinderter Menschen, daß es bereits jetzt unmittelbar geltendes Recht ist. Der Grundgesetzartikel 3 Abs. 3 Satz 2 gibt dem einzelnen Behinderten einen Anspruch darauf, daß Maßnahmen der öffentlichen Gewalt grundsätzlich nicht wegen der Behinderung - ob körperlich, geistig oder seelisch -, zu einer Ungleichbehandlung führen darf. Das Benachteiligungsverbot ist somit ein Grundrecht und bindet als Vorschrift unmittelbar Ge-
setzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung. Das Grundrecht des Benachteiligungsverbots gilt innerhalb von Rechtsbeziehungen Privater untereinander nicht unmittelbar, sondern entfaltet als element einer objektiven wertgebundenen Ordnung seine Gültigkeit im Rahmen der sogenannten Drittwirkung, d. h., die Rechtsbeziehungen Privater untereinander müssen mehr unter Berücksichtigung der betroffenen Grundrechte ausgelegt werden. Beispiel dafür ist ein Gerichtsurteil aus Flensburg, wonach einer Familie die Minderung des Reisepreises zugebilligt worden war, weil sie die Mahlzeiten im Hotel gemeinsam mit einer Gruppe behinderter Menschen einnehmen mußte. Solches Urteil darf es und wird es heutzutage auf Grund des Benachteiligungsverbotes, das damals noch nicht galt, nicht mehr geben.
Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 GG erfordert kein Handeln des Gesetzgebers, so daß es daher eher sinnvoll erscheint, das Benachteiligungsverbot im Rahmen der einfachen Gesetzgebung zu konkretisieren und zu ergänzen. Danach müßten Regelungen geändert werden, die als diskriminierend oder benachteiligend für Behinderte anzusehen sind, daß z. B. Fristen zu vereinbaren sind, innerhalb derer Behinderte vollen Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln usw. erhalten sollen. Diese Regelungen sollen allerdings nicht im Rahmen eines sogenannten Antidiskriminierungsgesetzes getroffen werden, sondern eines schon in der vergangenen Legislaturperiode begonnenen Gesetzgebungsvorhabens, nämlich der Neuordnung des Rehabilitations- und Schwerbehindertenrechts ins Sozialgesetzbuch, SGB IX. Die Bundesregierung wird dazu voraussichtlich Ende des Jahres einen Gesetzentwurf vorlegen. Diese Gesetzesvorlage ist im übrigen auch Bestandteil der Koalitionsvereinbarung.
Es ist sinnvoller, Regelungen, die Benachteiligungen Behinderter entgegenwirken sollen, im Zusammenhang mit einer Neugestaltung der besonderen Rechtsvorschriften für Behinderte im SGB IX zu fixieren, als durch ein „Antidiskriminierungsgesetz", das die Vielfalt und Unübersichtlichkeit der einschlägigen Regelungen weiter erhöhen würde. Auf Grund dessen ist nicht zu erwarten, daß eine einzusetzende Enquete-Kommission bessere oder sachgerechtere Vorschläge erarbeiten würde, als dies auf dem obengenannten Weg möglich ist.
Eine solche von der PDS geforderte Enquete-Kommission würde den bereits eingeleiteten Abklärungsprozessen hinterherlaufen und die Erarbeitung von Regelungen, die auf eine gleichberechtigte Teilnahme Behinderter am gesellschaftlichen Leben zielen, verzögern. Der Antrag der PDS ist daher aus den genannten Gründen abzulehnen.
Karl Hermann Haack (Extertal) (SPD): Wir alle haben den Auftrag bekommen, ein neues Grundrecht, welches längst überfällig war, in den Alltag umzusetzen. Ich meine den Auftrag unserer neuen Verfassung, formuliert in den Worten: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" - so die Ergänzung zu Art. 3 Abs. 3 GG. Diese Hinzufügung zum Art. 3 GG ist auf Antrag der SPD erfolgt und fand die notwendige Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag.
Gerade deswegen, weil wir zu unserem Antrag stehen, sehen wir die Verpflichtung, schnelle Schritte einzuleiten, dieses Grundrecht Alltag werden zu lassen.
Der Antrag der PDS erweckt den Eindruck, daß hier bei der Umsetzung des Grundrechtes auf ein Benachteiligungsverbot für Behinderte Neuland zu betreten ist. Nicht Neuland ist zu betreten, sondern Bewährtes bei manchem Überholtem durch die Zeit und neues Denken sind weiterzuentwickeln.
Ich bemerke: Die Fraktion der SPD hat eine Große Anfrage - Drucksache 13/1333, Arbeitswelt und Behindertenpolitik, die auch Fragen zur Problematik der Gleichstellung beinhaltet - eingebracht. Wir erwarten dazu eine Antwort der Bundesregierung Ende September dieses Jahres. Sobald die Antworten vorliegen, wird auch eine aktuelle Bestandsaufnahme möglich sein. Im Rahmen der Debatte wird dann den Parteien dieses Hauses erstmalig in dieser Legislaturperiode die Gelegenheit gegeben, ihre Vorstellungen zum zukünftigen Umgang und den Chancen von Behinderten in unserer Gesellschaft vorzustellen.
Des weiteren ist beabsichtigt, in dieser Legislaturperiode das Sozialgesetzbuch IX einzuführen und damit zu einer generellen Neuordnung u. a. des Behindertenrechts zu kommen. Auch hier gibt es also die Chance, Gerechtigkeit gegenüber Benachteiligten in unserer Gesellschaft zu üben. Koalition und SPD haben die Absicht, mit den parlamentarischen Beratungen 1996 zu beginnen und diese - so die SPD - hoffentlich 1996 zum Abschluß zu bringen.
Im Rahmen der Gesetzgebung zum SGB IX sind auch Schritte eingeleitet, die das soziale Recht jedes Behinderten auf Eingliederung in Gesellschaft, Beruf und Arbeit sichern.
Der PDS-Antrag auf Einsetzung einer EnqueteKommission hinkt dieser Entwicklung hinterher. Somit bitten wir dafür um Verständnis, daß wir als SPD dem Antrag der PDS nicht folgen können.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gegen anfänglich große Widerstände aus der Koalition ist es der Behindertenbewegung gelungen, im Grundgesetz ein verfassungsrechtliches Benachteiligungsverbot zu verankern. Diesem Benachteiligungsverbot in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 kommt unmittelbare Wirkung nur gegenüber der öffentlichen Gewalt zu. Es bindet die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Diese Wertentscheidung unserer Verfassung ist aber auch eine Aufforderung an den Gesetzgeber, im einfachen Recht Benachteiligungen von Behinderten zu beseitigen und im Hinblick auf das Sozialstaatsgebot Behinderte so zu fördern, daß ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht wird.
Unsere Gesellschaft muß die diskriminierten Minderheiten endlich „einbürgern". BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wollen daher mit einem Antidiskriminie-
rungsgesetz den Gleichheitsartikel des Grundgesetzes im einfachen Recht verankern. Niemand darf auf Grund seiner Hautfarbe, Nationalität, ethnischen Herkunft, seiner sexuellen Identität, Kultur und Religion oder auf Grund seiner Behinderung benachteiligt werden. Es geht uns darum, allen Menschen gleiche demokratische Rechte und - das ist bei Behinderten besonders wichtig - gleiche soziale Chancen zu geben. Es geht dabei nicht um Mitleid oder die Gewährung eines Gnadenrechts. Gleichstellung ist eine zentrale Frage unserer Demokratie.
Wir schlagen ein Antidiskriminierungsgesetz vor, das neben einer Generalklausel für alle Minderheiten ein Verbandsklagerecht und zivilrechtliche Sanktionsregelungen vorsieht. In Artikelgesetzen wollen wir rechtliche Diskriminierungen einzelgesetzlich beseitigen.
Antidiskriminierungsgesetze bestehen in vielen europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten. Sie haben sich bewährt. Deutschland ist beim rechtlichen Schutz von Minderheiten dagegen ein Entwicklungsland. Das müssen wir ändern! Mit der Verfassungsänderung von 1994 haben wir hierfür auch eine gute Grundlage. Sie verpflichtet uns, niemand auf Grund seiner Behinderung bei der Wahrnehmung seiner Grundrechte zu benachteiligen. Um dieses zu gewährleisten, gibt es für Legislative und Exekutive noch einiges zu tun. Nur zwei Beispiele:
Art. 33 Abs. 2 unserer Verfassung garantiert jedem Deutschen nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung Zugang zu jedem öffentlichen Amt. Was ist aber, wenn schon auf Grund von Zugangshindernissen für gehbehinderte Bewerber diese faktisch ausscheiden. Berücksichtigen wir beim Umzug nach Berlin, bei den neuen Bauten von Bundesregierung und Bundestag die Bedürfnisse von Rollstuhlfahrern, Blinden und anderen Behinderten ausreichend? Hier im Hochhaus Tulpenfeld kann z. B. kein Blinder allein Aufzug fahren. Wir sollten bei der Beratung des Antrages von der Bundesregierung einen Bericht über die Berücksichtigung der Bedürfnisse von Behinderten bei den Neu- und Umbauten in Berlin verlangen. Wie ich höre, soll hier manches im Argen liegen. Hier müssen wir handeln, bevor vom Bundesbauministerium zu viele Fakten geschaffen werden.
Ein zweites Beispiel: Professor Herdegen weist in seinem Gutachten für den Deutschen Bundestag darauf hin, daß faktische Zugangshindernisse für Gehbehinderte in einem nicht rollstuhlgerecht gestalteten Schulgebäude nach der Grundgesetzänderung nun verfassungswidrig sind.
Zwei Beispiele, die zeigen wie dringlich eine Überprüfung rechtlicher Normen und der Verwaltungspraxis von Bund, Ländern und Kommunen hinsichtlich der Verheißung dieses neuen Verfassungssatzes ist. Lassen Sie uns die von Behindertenverbänden erarbeiteten Vorschläge zur Novellierung der Sozialgesetzgebung (u. a. SGB IX), Personenbeförderungsrecht, Baurecht und Reisevertragsrecht überprüfen und zu einem umfassenden Antidiskriminierungsgesetz zusammenfassen. An sich wäre es ja die Aufgabe der Bundesregierung, uns einen Vorschlag für die Umsetzung des neuen Verfassungsgrundsatzes ins einfache Recht zu unterbreiten. Aber da können wir ja wahrscheinlich lange warten.
Aber auch eine Enquete-Kommission kostet uns nur unnötige Zeit. Sie würde unsere Arbeit nur verzögern. Dringend notwendige Reformen würden mit Hinweis auf die Enquete-Kommission vertagt. Lassen Sie uns statt dessen lieber nach der Sommerpause damit beginnen, mit konkreten parlamentarischen Initiativen für Behinderte gleiche soziale und demokratische Rechte in allen Lebensbereichen zu schaffen.
Uwe Lühr (F.D.P.): „Einander verstehen - miteinander leben" , war das anspruchsvolle Motto des Internationalen Jahres der Behinderten 1981. Weltweit gab es die bekannten Beteuerungen, daß es mit den Aktionen in diesem Jahr nicht sein Bewenden haben dürfe.
1992 erklärten die Vereinten Nationen, im Dezember jeden Jahres solle ein Tag den Menschen mit Behinderung gewidmet werden, um deren besondere Situation nicht ins vergessene Abseits gelangen zu lassen. Vor wenigen Wochen fand ein europaweiter Protesttag für die Gleichstellung behinderter Menschen statt.
Wenn die Bundesrepublik auch international zur Spitze der Staaten gehört, in denen die objektive Entwicklung dem Anspruch am nächsten kommt, so muß doch auch bei uns noch weit mehr getan werden, um den Behinderten das Miteinanderleben mit Nichtbehinderten in unserer Gesellschaft zu ermöglichen. Bloße Appelle und Jahrestage helfen da nur wenig.
Da hilft aber auch keine Enquete-Kommission! Die Probleme behinderter Menschen in unserer Gesellschaft sind bekannt! Alle freien Träger, die in der Arbeit mit Behinderten stehen, ihre Verbände, aber auch die Mitarbeiter in den zuständigen Behörden verfügen über hohe fachliche Kompetenz. Wenn die PDS da nicht auf Kenntnisse und Erfahrungen in ihrem Erbe zurückgreifen kann, sollte das für den Deutschen Bundestag nicht Veranlassung sein, eine Enquete-Kommission mit Recherchen zu beauftragen.
Entgegen dem Votum in der Verfassungskommission hat die F.D.P. engagiert mit für die Aufnahme des Diskriminierungsverbotes ins Grundgesetz gestritten. Seit der Grundgesetzänderung des letzten Jahres schützt unsere Verfassung Behinderte ausdrücklich vor Diskriminierung. Diese Wertung des Grundgesetzes wirkt sich nicht nur auf die öffentliche Gewalt aus, sondern sie wirkt auf unsere gesamte Rechtsordnung.
Damit sind, denke ich, auch in Zukunft solche beschämenden Urteile ausgeschlossen, die - wie in der Vergangenheit vereinzelt geschehen - z. B. Reiseveranstalter zur Minderung des Reisepreises verpflichteten, wenn Urlauber an ihrem Urlaubsort auf Behinderte trafen.
Nach dieser Verfassungsänderung wäre es allerdings - entgegen der hier erhobenen Forderung - nicht sinnvoll, ein Diskriminierungsverbot zusätzlich
in zahlreiche einfache Gesetze aufzunehmen, da diese Verbote keinen besseren tatsächlichen Schutz Behinderter vor Diskriminierung sicherstellen können.
Die Gleichstellung behinderter Mitbürger geschieht in der Praxis. Behinderte brauchen und sie haben ein Recht auf unsere Hilfe, aber sie wollen und dürfen nicht in ein Korsett von Regelungen der öffentlichen Verwaltung und Fürsorge eingezwängt werden. Nicht bevormundende Betreuung, sondern Begleitung in rechtlich und finanziell gesichertem Lebensraum, das muß die Devise sein.
Die Politik hat die Pflicht, dafür die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Die öffentliche Verwaltung auf allen Ebenen, die freien Träger und schließlich wir alle haben für die konkrete Umsetzung zu sorgen. Das beginnt, wie wir wissen, ganz lapidar bei der Ausstattung und dem Service unserer öffentlichen Verkehrsmittel. Das betrifft die Zugänglichkeit öffentlicher Straßen, Wege und Plätze, Gebäude, Geschäfts- oder Betriebsräume.
Dazu gehört, daß die öffentliche Hand als helfende Hand bei der Beschäftigung von Behinderten endlich ihre Vorbildfunktion wahrnimmt. Es ist ja erfreulich, daß der Bund vor einigen Tagen die Erfüllung der gesetzlichen Auflagen im Durchschnitt vermelden konnte, aber die geforderten sechs Prozent stellen das Minimum dar.
Es gehört dazu, daß die gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern in Kindergarten und Schule nicht die Ausnahme bleibt, sondern möglichst bald zum Regelfall wird.
Diese Verpflichtung umfaßt z. B. auch die Verbesserung der Rechtsstellung der Behinderten in den Werkstätten (WfB). Gerade Behinderte brauchen Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Behinderte brauchen eine materielle und soziale Sicherung, die sie der existentiellen Abhängigkeit von Dritten soweit wie möglich enthebt. Diese Sicherung muß erreichbar sein, ohne einen Pfad schlagen zu müssen durch einen Dschungel von Gesetzen, Verordnungen und Richtlinien.
Seit dem 15. November 1993 liegt der Referentenentwurf zum IX. Buch des Sozialgesetzbuches vor. Das IX. Buch soll endlich die unübersichtlichen Einzelregelungen im Behindertenrecht zusammenfassen und das Sozialrecht auch in diesem Teil übersichtlicher gestalten. Die Koalitionsvereinbarung mit der Union sieht diese ebenso wichtige wie schwierige Arbeit in dieser Legislaturperiode, und zwar im 2. Halbjahr 1995 vor. Der Bundesminister für Arbeit ist aufgefordert, in Abstimmung mit dem Bundesminister für Gesundheit erneut einen Referentenentwurf vorzulegen.
Ich gehe davon aus, daß nach einer Anhörung eine intensive Beratung stattfinden wird, in der die unterschiedlichen Belange eingehend erörtert werden können. Dann ist Handeln angesagt, nicht Diskussion in der Enquete-Kommission mit Zwischenbericht 1996!
Die F.D.P.-Fraktion lehnt diesen Vorschlag der PDS, der nur weitere Verzögerungen bedeuten würde, ab.
Petra Bläss (PDS): Menschen mit Behinderungen sind in vielen Lebensbereichen nach wie vor erheblichen Benachteiligungen ausgesetzt. Sie werden in ihren Entfaltungsmöglichkeiten behindert, in ihren Entscheidungen bevormundet. Sie werden in vielfacher Weise bei der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben diskriminiert und sind häufig von Dauerarbeitslosigkeit betroffen. Selbst das Lebensrecht behinderter Menschen wird verstärkt zur Disposition gestellt.
Nach wie vor haben Menschen mit Behinderungen unter alltäglicher, oft schwer faßbarer gesellschaftlicher Ausgrenzung und Isolierung sowie einer Diskriminierung und Ungleichbehandlung im Recht und in der Rechtsprechung zu leiden.
Erstmals in der deutschen Verfassungsrechtsgeschichte wurde nun in das Grundgesetz der BRD ein eigenes Grundrecht zugunsten behinderter Menschen aufgenommen. Mit der Grundgesetzergänzung um den Zusatz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" im Art. 3 Abs. 3 wurde ein sehr bedeutsamer Schritt zum Abbau und zur Beseitigung von Diskriminierungen und Benachteiligungen behinderter Menschen gegangen. Die Rechtsstellung von Menschen mit Behinderungen ist hierdurch grundsätzlich verbessert worden. Das wurde von einer breiten Öffentlichkeit, namentlich durch die Behindertenverbände freudig begrüßt.
Zugleich wurde sowohl von seiten der behinderten Menschen als auch von Politikern darauf verwiesen, daß allein mit der Grundgesetzergänzung noch keine einzige reale Diskriminierung beseitigt ist. Gefordert wurde und wird der nächste Schritt: konkrete Umsetzung und Ausgestaltung des neuen Verfassungsgrundsatzes auf einfachgesetzlicher Ebene.
Obwohl diese Aufgabe spätestens seit der Annahme der Verfassungsreform im Herbst 1994 auf der Tagesordnung steht, wartete die PDS mit der Einbringung ihres Antrages. Mit der Koalitionsvereinbarung der regierenden Parteien wurden jedoch ihre Hoffnungen auf weitere Schritte der Bundesregierung zum zügigen Abbau von Benachteiligungen behinderter Menschen enttäuscht. Nicht ein Wort zu dem sich aus der Grundgesetzergänzung ergebenden Verfassungsauftrag ist in der Koalitionsvereinbarung zu finden. Demgegenüber versteht die PDS die Grundgesetzergänzung als „Ermahnung und Ermunterung, eine offensive, Impulse gebende Gesellschaftspolitik zu entfalten, die behinderten Menschen in allen Lebensbereichen gleiche Chancen anbietet wie Nichtbehinderten" - und sieht sich damit in Übereinstimmung mit Behinderten- und Sozialverbänden.
Auch die Bundesregierung anerkennt auf diesem Gebiet Handlungsbedarf. So ist im 3. Bericht zur Lage der Behinderten und zur Entwicklung der Rehabilitation nachzulesen, daß die Bundesregierung bei der notwendigen Beseitigung von Diskriminierungen behinderter Menschen davon ausgeht, „daß
es an Stelle eines Antidiskriminierungsgesetzes wesentlich erfolgversprechender ist, in den konkreten Gesetzen für die verschiedenen Rechtsbereiche . . . diskriminierende oder eingliederungshemmende Regelungen abzuschaffen oder zu verändern."
Obwohl also der Handlungsbedarf seitens der Bundesregierung nicht in Frage gestellt wird, passiert auf diesem Gebiet nichts. Bereits vorhandene Vorschläge, insbesondere des Forums behinderter Juristlnnen und der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte, werden nicht aufgegriffen. Diese Vorschläge zeigen jedoch den Umfang und die Kompliziertheit der Aufgabe, die Grundgesetzergänzung einfachrechtlich umzusetzen und auszugestalten. Dabei ist zu unterstreichen, daß es nicht nur um die Sozialgesetzgebung geht, sondern um alle Rechtsbereiche, die im Lichte der neuen Norm des Grundgesetzes angepaßt bzw. geändert werden müssen. Das betrifft z. B. die Sozialgesetzbücher einschließlich des noch zu schaffenden SGB IX, das Personenbeförderungsgesetz, das Allgemeine Eisenbahngesetz, das Fernmeldegesetz, das Strafgesetzbuch, das Zivil-, Straf-, Verwaltungs- und Sozialprozeßbuch, das Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen - um nur die wichtigsten zu nennen. Diese Vielzahl der anzupassenden und zu verändernden Gesetze, der dazugehörenden Verordnungen und Regelungen, darf nicht der Zufälligkeit anheimfallen. Im Selbstlauf wird sich nichts ändern.
Die von der Bundestagsgruppe PDS beantragte Enquete-Kommission „Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen" soll wichtige Arbeiten zur Beseitigung bestehender Benachteiligungen behinderter Menschen anregen und bündeln. Insbesondere soll mit der Enquete-Kommission das historisch gewachsene und gültige Recht der Bundesrepublik mit dem Ziel überprüft werden, alle Regelungen, Festlegungen, Formulierungen sowie Tatbestände im deutschen Recht, die Menschen mit Behinderungen benachteiligen oder diskriminieren, zu benennen und Veränderungen vorzuschlagen. Es geht also darum - wie in einem unlängst von Kollegen Regenspurger vorgestellten Rechtsgutachten ausgeführt wird -, „das einfache Gesetzesrecht nach Regelungen ,durchzuforsten', bei denen das rechtspolitische Anliegen einer verbesserten Integration Behinderter Änderungen indiziert" .
Da die Bundesregierung einerseits Handlungsbedarf im Sinne der Veränderung einfacher Gesetze anerkennt, andererseits für die laufende Legislaturperiode nur die seit Jahren anstehende Schaffung eines SGB IX als Aufgabe benennt, hält die PDS es für die originäre Aufgabe des Bundestages als höchstem Gesetzgeber, hier weitergehende Impulse zur Umsetzung des Grundgesetzes zu geben.
Bei der Besetzung der Enquete-Kommission „Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen" sind auf möglichst vielfältige Art und Weise behinderte Menschen und ihre Organisationen unmittelbar zu berücksichtigen und an der Arbeit zu beteiligen. Ohne den Einsatz, die Sachkenntnis und die Überzeugungsarbeit, die viele Menschen mit Behinderungen in den vergangenen drei Jahren engagiert leisteten, würde es keine Grundgesetzergänzung geben. Auch jetzt haben behinderte Menschen uns Parlamentarier erneut mit ihren Vorschlägen für unumgängliche Veränderungen auf einfachgesetzlicher Ebene aufmerksam gemacht. Ihr Mitwirken an Veränderungen in den Rechtsbereichen sowie die Einbeziehung von Vertretern der Behindertenorganisationen in die Arbeit sind für den Erfolg der EnqueteKommission unerläßlich.
Lassen Sie mich abschließend nochmals aus dem Gutachten „Der neue Diskriminierungsschutz für Behinderte im Grundgesetz " zitieren:
Der Diskriminierungsschutz für Behinderte verstärkt in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und der Gewährleistung der Menschenwürde die Möglichkeiten - und die Verpflichtung - des Gesetzgebers, der Verwaltung und der Justiz, bestimmten diskriminierenden Auswüchsen im Privatrechtsverkehr entgegenzutreten. Dies gilt sowohl für Einschränkungen der Privatautonomie durch neue Gesetze als auch durch die Anwendung schon bestehender Normen des bürgerlichen Rechts.
Davon ausgehend möchte ich Sie auffordern: Betrachten Sie den Antrag zur Einrichtung der Enquete-Komission „Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen" als einen Weg, möglichst schnell und umfassend bestehende Diskriminierungen und Benachteiligungen behinderter Menschen zu benennen und zu beseitigen. Zugleich schaffen wir uns damit ein Forum, um über einen längeren Zeitraum die Problematik einer realen Gleichstellung behinderter Menschen ergebnisorientiert zu diskutieren.
Anlage 5
Amtliche Mitteilungen
Der Bundesrat hat in seiner 686. Sitzung am 23. Juni 1995 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß § 77 Abs. 2 GG nicht zu stellen:
- Zweites Gesetz zur Änderung des Futtermittelgesetzes
- Zweiunddreißigstes Gesetz zur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes (32. ÄndG LAG)
- Erstes Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler
- Gesetz über die Rechtsstellung ausländischer Streitkräfte bei vorübergehenden Aufenthalten in der Bundesrepublik Deutschland (Streitkräfteaufenthaltsgesetz - SkAufG)
- Gesetz zu dem Abkommen vom 25. März 1981 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königgreich Marokko über Kindergeld
- Gesetz zu dem Abkommen vom 20. September 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tunesischen Republik über Kindergeld
- Drittes Gesetz zur Änderung des Sozialgesetzbuchs (3. SGBÄndG)
- Gesetz zur Anpassung vermögensrechtlicher und anderer Vorschriften Vermögensrechtsanpassungsgesetz - VermRAnpG)
Zu dem letztgenannten Gesetz hat der Bundesrat folgende Entschließung gefaßt:
Der Bundesrat verzichtet zu dem vom Bundestag beschlossenen Gesetz zur Anpassung vermögensrechtlicher und anderer Vorschriften (Vermögensrechtsanpassungsgesetz — VermRAnpG) auf die Anrufung des Vermittlungsausschusses, obwohl der Bundestag nicht in vollem Umfang dem Anliegen des Bundesrates aus dem am 4. November 1994 beschlossenen Gesetzentwurf (BRDrucks. 893/94 - Beschluß -) gefolgt ist. Er befürwortet ebenfalls die vom Bundestag zusätzlich in das Gesetz aufgenommenen Regelungen.
Der Bundesrat verweist in diesem Zusammenhang auf den mit Beschluß vom 2. Juni 1995 beim Bundestag eingebrachten „Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes der Nutzer und zur weiteren Erleichterung von Investitionen in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet (Nutzerschutzgesetz - NutzSchG)" (BR-Drucks. 184/95 - Beschluß -), der weitere Regelungen im Bereich der offenen Vermögensfragen und benachbarter Rechtsgebiete enthält. Seine baldige Verabschiedung ist nach Ansicht des Bundesrates - vor allem wegen der derzeit bestehenden Möglichkeit einer Umgehung des Vermögensgesetzes durch Klage vor den ordentlichen Gerichten - dringend erforderlich.
Der Bundesrat nimmt insbesondere wegen des Interesses der Wohnungsunternehmen der neuen Länder an einem baldigen Inkrafttreten des Vermögensrechtsanpassungsgesetzes von der Möglichkeit Abstand, die im Entwurf eines Nutzerschutzgesetzes enthaltenen Regelungen im Rahmen der Beratung des Vermögensrechtsanpassungsgesetzes erneut einzubringen.
Der Bundesrat fordert die Bundesregierung aus diesem Anlaß auf, ihre Stellungnahme zum Entwurf eines Nutzerschutzgesetzes unverzüglich vorzulegen. Zugleich bittet er den Bundestag, den Gesetzentwurf so bald wie möglich zu behandeln.
In diesem Zusammenhang weist der Bundesrat auf die von der Conference on Jewish Material Claims against Germany, Inc. vorgebrachten weiteren Vorschläge zur Anderung vermögensrechtlicher Vorschriften hin. Der Bundesrat spricht sich für die schnellstmögliche abschließende Behandlung der Vorschläge im Rahmen der Beratung des Entwurfs eines Nutzerschutzgesetzes aus.
Die Fraktion der SPD hat mit Schreiben vom 28. Juni 1995 ihren Antrag „Einsetzung eines Untersuchungsausschusses" - Drucksache 13/1781- zurückgezogen.
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EU-Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Beratung abgesehen hat:
Petitionsausschuß
Drucksache 12/7795, 13/725 Nr. 1
Auswärtiger Ausschuß Drucksache 13/44, 13/269 Nr. 11
Ausschuß für Wirtschaft Drucksache 13/725 Nr. 94
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Drucksache 13/218 Nr. 87 Drucksache 13/269 Nr. 2.1
Ausschuß für Verkehr Drucksache 13/343 Nr. 2.1 Drucksache 13/725 Nr. 162 Drucksache 13/725 Nr. 163 Drucksache 13/725 Nr. 164 Drucksache 13/837 Nr. 2.1 Drucksache 13/1096 Nr. 2.3 Drucksache 13/1096 Nr. 2.17 Drucksache 13/1234 Nr. 1.8
Ausschuß für Post und Telekommunikation Drucksache 13/1096 Nr. 2.22
Drucksache 13/1442 Nr. 1.5
Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Drucksache 13/1338 Nr. 2.12
Ausschuß fit. Fremdenverkehr und Tourismus Drucksache 13/725 Nr. 175
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Drucksache 13/478 Nr. 1.1 Drucksache 13/478 Nr. 1.3 Drucksache 13/478 Nr. 1.4 Drucksache 13/614 Nr. 1.2 Drucksache 13/1096 Nr. 1.1 Drucksache 13/1096 Nr. 1.2 Drucksache 13/1096 Nr. 1.3