Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beratung erfolgt zu später Stunde; aber das Thema ist ja sehr, sehr wichtig.
Das Antragspaket, das wir hier heute vorlegen, ist Mitte März von meiner Fraktion verabschiedet und in die öffentliche Debatte eingebracht worden. Damals stand uns allen drohend vor Augen, was jetzt eingetreten ist: der Ausbruch der dritten Runde des Kriegs in Jugoslawien. Damals wurde befürchtet, was jetzt geschieht: Sarajevo unter verschärfter Belagerung, die Lebensmittelversorgung über den Flugplatz seit mehr als sechs Wochen erneut unterbrochen, die heimtückischen Angriffe auf die Zivilbevölkerung durch Heckenschützen, die erneute Beschießung der offenen Stadt durch Mörser.
Vor Tagen wurden zehn Menschen durch Mörserbeschuß umgebracht, täglich weitere durch Heckenschützen. Die Blauhelme rufen nach entlastender Luftunterstützung, die gelähmte UN-Vermittlung verhindert sie, und der Einsatz der Blauhelme wird von Tag zu Tag schwieriger. Dabei sind wir uns doch fast alle einig, daß ohne UNPROFOR der UNHCR nicht arbeiten kann, daß die Logistik des Überlebens nach wie vor bei den so vielfach gedemütigten Blauhelmen liegt.
Weniger Rücksicht auf diplomatische Opportunität muß glücklicherweise der Internationale Strafgerichtshof walten lassen. Wir begrüßen, daß die Mörder nicht nur, von der internationalen Öffentlichkeit unbemerkt, vor bosnischen Gerichten angeklagt werden, sondern daß endlich auch der Strafgerichtshof sie benannt hat: Karadzic, Mladic, Stanisic.
Wir stellen trotz der Entwicklung der letzten Wochen unseren Antrag hier zur Debatte, weil wir eine Perspektive für den zukünftigen Friedensprozeß vorschlagen, die in den bisherigen Verhandlungen, so finden wir, zu kurz gekommen ist.
Dazu zählt erstens: Es ist notwendig, zu politisch klaren moralischen Bewertungen zu kommen, Täter zu benennen und Täter und Opfer nicht zu verwechseln, weil sonst Diplomatie, weil sonst Politik unglaubwürdig wird. Deshalb gibt es die politischen Feststellungen in Teil 1 des Antrages.
Aber wir müssen auch zwischen dem Gang des Rechts, der abgesichert sein muß, und den Notwendigkeiten eines politisch- diplomatischen Prozesses unterscheiden, der das Überleben der Bevölkerung sichern muß und der sich auf die Nationalitäten in gleicher Weise beziehen muß.
Zweitens: Wenn aber die Auseinandersetzung der Nationalitäten, zugespitzt in der Politik der Repräsentanten, die für sie zu sprechen meinen, nur noch um den Gedanken von Sieg und Niederlage kreist - ausgedrückt in territorialem Gewinn und Verlust -, wenn in Sarajevo der Chef der zivilen Administration der UNPROFOR, der Spanier Aguilar, sagt: „Ich höre viele militärische Begriffe, das einzige Wort, das ich nie höre" - egal von welcher Partei -, „ist das Wort Verständigung", so bedarf es des Versuchs, eine andere lebenswerte Perspektive von außen zu entwikkeln und an den Prozeß heranzubringen.
Nachdem die Fünfergruppe praktisch im Frühjahr gescheitert ist, nachdem auch die Juppé-Initiative, d. h. der Vorschlag, diejenigen, die die Fünfervorschläge akzeptiert hatten, dazu zu bewegen, sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen und sich damit anzuerkennen, zu keinem Erfolg führte, sind wir mit unserem Vorschlag den kleinen logischen Schritt weitergegangen.
Wir haben uns gefragt: Weshalb soll jemand den anderen anerkennen, wenn er nur im Ringen um Sieg und Niederlage mit ihm verbunden ist und die Perspektive einzig Sieg oder Niederlage heißt? Können wir nicht eine andere Perspektive setzen? Da kommt dann die Frage: Wohin gehören diese Länder eigentlich?
In Essen hat es sich die deutsche EU-Präsidentschaft hoch angerechnet, daß sie den beitrittswilligen Ländern Osteuropas, die in den nächsten Jahren noch nicht beitreten können, weil sie die wirtschaftlichen Kriterien noch nicht erfüllen, den strukturierten Dialog anbietet und ihnen Stühle am Rande des Europäischen Rats aufstellt.
Wir haben uns gefragt: Warum nur diesen sechs? Warum selbst ein rumänischer und ein bulgarischer Stuhl? Wohin gehört eigentlich dieser westlich von Rumänien, westlich von Bulgarien liegende Raum
Dr. Helmut Lippelt
des ehemaligen Jugoslawien? Muß ihnen, den Nachfolgevölkern Jugoslawiens, nicht deutlich gesagt werden, auch sie gehören zu Europa und werden den Zugang zur EU haben?
Wenn wir alle davon überzeugt sind, daß selbst für Polen und Tschechien bis zum Ende des Jahrtausends der Vollzug des Beitritts noch nicht möglich sein wird, warum dann nicht auch Stühle für jene Nachfolgestaaten mit der klaren Bedingung, daß sie zunächst einen Friedensprozeß einzuleiten haben? So muß die Forderung gegenseitiger Anerkennung, die Forderung nach einem Friedensprozeß verbunden werden mit der Perspektive: Ihr gehört zu Europa.
Ich denke, eine der großen Schwierigkeiten der diplomatischen Behandlung der Vorgänge im ehemaligen Jugoslawien ist, daß die westeuropäischen Nationen unterschiedliche geographisch-historische Interessen eingebracht haben. Für Deutschland und Österreich lag es nah, den Abmarsch der Nordregionen Slowenien und Kroatien in Richtung Europa zu unterstützen. Aber wovor liefen diese dann weg?
- Darüber werden wir sehr streiten, und dazu hätte ich gern einmal einen Untersuchungsausschuß. Da würden wir anders streiten.
Aber was wird dann die künftige Bestimmung von Serbien und von Belgrad - ganz unabhängig von Milosevic oder anderen Staatsmännern - sein? Beginnt dort etwa die Barbarei?
Wir waren der Meinung, für einen Friedensprozeß ist Voraussetzung, daß über die Zukunft der Nationalitäten als Gleichberechtigte nachgedacht werden muß, daß die Fragen der Gerechtigkeit nicht zurückgestellt werden, sondern dem Internationalen Strafgerichtshof überantwortet werden, daß aber die Einleitung eines Friedensprozesses nur in dem gleichen Appell an die Nationalitäten geschehen kann und daß es auch nicht so sein darf, daß sich Franzosen und Engländer, wie zu Beginn des Konfliktes, eher der alten Freundschaft zu Serbien entsinnen, die Deutschen und Österreicher eher der alten Verbindung zu Kroatien. Das ist schädlich gewesen.
Drittens. Man konnte schon vor Jahren oft von der Opposition, die es ja trotz allem gab, in Belgrad hören: Sie - damit waren die früheren Vermittlungskommissionen Carringtons und Owens sowie dann die Expertenkommission wie die von Badinter gemeint - sprechen nur mit den Regierenden, Sie sprechen mit den Mördern, Sie sprechen mit den Funktionären des alten Regimes, Sie sprechen aber nicht mit uns.
Klar ist, daß die Regimes ihre Kraft aus dem totalitären Zugriff auf die Gesellschaften über die Beherrschung der Medien bezogen. Sträflich vernachlässigt haben wir den Durchbruch dieser Medienblockade durch Funkstationen, durch Funkschiffe, durch die
vielfachen Möglichkeiten, wie sie doch bereits im Zweiten Weltkrieg entwickelt worden sind. Ich jedenfalls habe als Kind mehr BBC gehört als das deutsche Radio.
Deshalb sehen wir als ein weiteres Element in diesem Antrag vor: Bringen wir diese „Einladung nach Europa" nicht nur den Regierenden zur Kenntnis, bringen wir sie den Völkern, den Nationalitäten zur Kenntnis, damit sie nicht mehr der Propaganda folgen, die ihnen weismachen will, daß es für sie nur den Weg heroischen Widerstands gegen eine Welt von Feinden gibt.
Viertens. Wunden, so tief wie sie geschlagen sind, bedürfen zum Ausheilen einer ganzen Generation. Deshalb müssen für den Friedensprozeß Forderungen durchgehalten werden, auch wenn sie nicht sofort umgesetzt werden können. Deshalb ist es uns wichtig, die Prinzipien der Londoner Konferenz, vor allem das vornehmste Prinzip, das Recht auf Rückkehr eines jeden Vertriebenen in seine frühere Heimat, aufrechtzuerhalten und im Rahmen eines langen Friedensprozesses durchzusetzen. Es wird deshalb versucht, in dem Antrag angemessen mit der Notwendigkeit einer zeitlichen Perspektive umzugehen.
Meine Damen und Herren, ich habe die Grundelemente einer solchen „Einladung nach Europa" hier dargelegt. Wir begleiten den Antrag mit entschiedenen Forderungen zur Aufrechterhaltung der humanitären Hilfe für die Opfer dieses Krieges. Dafür nur ein bedrückendes Beispiel: Der deutsche Konvoi, diese 40 Lkws - nur halb so viele, wie sie das kleine Dänemark in Bosnien stellt -, ist nicht nur im Streit zwischen Auswärtigem Amt und Finanzministerium zur Verbilligung auf einen neuen Kontraktnehmer umgestellt worden, sondern auch nur noch bis Ende Juni finanziell abgesichert.
Ich bin sicher, daß alle Fraktionen dieses Hauses mit uns einig sind, daß wir alles tun wollen, um dem bosnischen Volk sein schwieriges Los zu erleichtern. Ich bin sicher, daß wir hier eine gemeinsame Lösung finden werden, die den Hilfsorganisationen endlich die notwendige zeitliche Perspektive für ihre Arbeit absichert.
Ich habe nur diesen einen Punkt exemplarisch hervorgehoben. Ich hoffe aber, daß wir uns über diesen und über die anderen Punkte unserer Anträge, über humanitäre Hilfe und über stärkeres Engagement, in den Ausschüssen verständigen können.