Rede von
Rudolf
Scharping
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Selten ist für eine so dünne und widersinnige Suppe so häufig der Ausdruck „historische Chance" bemüht worden.
Angesichts eines völlig zerfledderten Steuerkonzeptes können Sie, Herr Waigel, doch nicht ernsthaft erwarten, daß wir Ihnen einen Blankoscheck ausstellen; denn wir haben die Erfahrung gemacht, daß Sie noch nicht einmal mit beschlossenen Gesetzen sorgfältig umgehen, geschweige denn mit Blankoschecks.
Ich will zunächst ein paar kurze Bemerkungen zur Situation des Steuerstaates Bundesrepublik Deutschland machen. Wir haben zur Zeit eine Belastung der Einkommen und Löhne mit Steuern und Abgaben von 48 %, der höchsten Quote seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Der Anteil der Lohnsteuern hat sich in den letzten 20 Jahren von rund 23 % auf 36 % des Steueraufkommens erhöht. Der Anteil der veranlagten Einkommensteuer und der Steuern auf Unternehmen ist von 22,8 % auf 13,1 % gesunken.
In den letzten zehn Jahren ist das Volumen der Steuereinnahmen in Deutschland um rund 89 % gestiegen. Dabei hat die Lohnsteuer überproportional zugenommen, nämlich um rund 100 %, die Umsatzsteuer um 104 %, die Mineralölsteuer um 140 %.
Die unternehmensnahen Steuern sind dagegen in ihrem Aufkommen gestiegen, um 36 % bei der Vermögensteuer, um 60 % bei der Gewerbesteuer. Die geringste Zunahme weisen die Aufkommen bei der Körperschaftsteuer und bei der veranlagten Einkommensteuer aus - es sind jeweils rund 17 %.
Mit diesen Zahlen ist eines überdeutlich gesagt: Sie verfolgen seit Jahren eine Finanzpolitik, die wirtschaftlich schädlich und gleichermaßen sozial ungerecht ist.
Sie beschädigen Kaufkraft, Sie belasten ständig die Einkommen - und dann wollen Sie uns mit einem so unausgegorenen und erneut wirtschaftlich unsinnigen Vorschlag etwas von einer „historischen Chance" erzählen.
Nur 16 % - nach Ihrer eigenen Begründung - aller Gewerbebetriebe zahlen Gewerbekapitalsteuer. Was Sie hier geflissentlich verschwiegen haben, ist die Auseinandersetzung wie beim Standortsicherungsgesetz. Sie wollen sich das ja nicht irgendwo holen, sondern bei denen, die investieren.
Dieses Land hat eine unverantwortlich hohe Arbeitslosigkeit. Dieses Land hat einen unverantwortlich hohen Mangel an Ausbildungsplätzen. Und deshalb ist und bleibt es auch unverantwortlich, jetzt ausgerechnet die investierenden Unternehmen dafür bezahlen zu lassen, daß ganz wenige steuerlich entlastet werden.
Sie bemänteln doch mit großen Worten Ihre eigene Unfähigkeit zu einem geschlossenen steuerpolitischen Konzept.
Riesige Worte und dann die Konzeption eines Jahressteuergesetzes, in dem zentrale Teile nicht enthalten sind!
Was haben Sie uns denn alles angekündigt: eine Reform der Wohnungsbauförderung, § 10e Einkommensteuergesetz - riesiger Streit in der Koalition. Ergebnis: Thema wird ausgeklammert.
Luftnummer! Eine schlichte Luftnummer!
Sie haben uns auch angekündigt, Sie wollten die Familien und die Kinder entlasten. Dann schreiben Sie den sozialdemokratischen Finanzministern, sie sollten Vorschläge machen, wie ein Gesetz aussehen könnte.
Ja, Herr Waigel, wenn Sie schon so stolz darauf sind, daß Sie mit knappster Mehrheit in der Regierung bestätigt worden sind, dann nehmen Sie doch gefälligst wenigstens Ihre Pflichten wahr
und legen Sie vollständige Gesetzentwürfe auf den Tisch!
Wenn Sie Ihre Hausaufgaben nicht machen und kein geschlossenes Konzept vorlegen können, dann können Sie doch nicht erwarten, daß die Opposition bei einer Grundgesetzänderung mitmacht, von der der Deutsche Städtetag im übrigen ja auch sagt, das sei völlig unannehmbar.
Rudolf Scharping
Was Sie da machen, ist das Verkünden guter Absichten. Über die könnte man im Zweifel - das will ich ausdrücklich sagen - im Zuge einer Gemeindefinanzreform sogar noch reden,
die dann den Gemeinden, soweit es um sie geht, Sicherheiten für das schafft, was da im einzelnen geschehen wird, die dafür sorgt, daß alle Beteiligten Klarheit haben.