Herr Kollege, das ist ein Ablenkungsmanöver von Ihnen.
Sie wissen genau, daß 85 Tatbestände, davon auch einige im unternehmensnahen Bereich, vorgeschlagen wurden, und daß wir es waren, die alle Vorschläge ausgewogen prüfen wollten. Wir wollten eine Anhörung des Finanzausschusses dazu durchführen. Das ist von Ihnen mit 21 zu 20 Stimmen abgelehnt worden. Gehen Sie bitte weiter Ihrer verantwortlichen Tätigkeit als Parlamentarischer Staatssekretär nach, Herr Kollege, und versuchen Sie nicht, hier Ablenkungsmanöver zu veranstalten! Das bringt nichts.
Herr Faltlhauser und Herr Waigel, so wie Sie darf man nicht mit dem Verfassungsgericht umgehen, auch nicht mit den von Ihnen selbst beauftragten Wissenschaftlern. So geht das nicht.
Sie haben gegen den Rat der Wissenschaftler einen Tarif vorgeschlagen, der von der SPD-Bundestagsfraktion sofort als „Buckeltarif" entlarvt wurde. Offenbar waren Sie über den „Buckel" ebensowenig informiert wie über die Tatsache, daß durch Ihren Tarif in etwa 600 000 Fällen Ehegatten höher besteuert worden wären als unverheiratete Paare.
Der Splittingvorteil hätte sich in einen Splittingnachteil verwandelt.
Daß ein CSU-Finanzminister einen derartigen Vorschlag macht, hätte sich noch vor wenigen Wochen wohl niemand hier im Saal vorstellen können.
Mit Ihrem zweiten Vorschlag haben Sie immerhin den häßlichen „Buckel" zurückgenommen. Aber auch dieser Vorschlag ist gleich aus mehreren Gründen nicht akzeptabel, vor allem deshalb, weil der von Ihnen als Existenzminimum vorgesehene Betrag in Höhe von 12 000 DM viel zu niedrig ist. Das Verfassungsgericht hatte bereits 1992 von 12 000 DM bis 14 000 DM gesprochen. Angesichts der seitdem eingetretenen Entwicklung muß für 1996 mindestens von 13 000 DM ausgegangen werden.
Die von Ihnen vorgelegten Berechnungen zur Höhe des Existenzminimums, mit denen Sie, Herr Waigel, welch Wunder, auf einen Betrag von knapp 12 000 DM kommen,
sind offensichtlich falsch. Sie gehen beispielsweise für einen alleinstehenden Erwachsenen von monatlichen Mietkosten in Höhe von 324 DM aus. Nach der Wohngeldstatistik lag aber bereits 1993 die durchschnittlich anerkannte monatliche Miete für Sozialhilfeempfänger um 80 DM höher. Allein durch Zugrundelegung des zutreffenden Ansatzes der Mietkosten ergibt sich ein um rund 1 000 DM höheres Existenzminimum.
Der von uns genannte Betrag von 13 000 DM ist also nicht nur gerechtfertigt. Er stellt auch das Minimum dar, damit der Tarif vor dem Verfassungsgericht bestehen kann.
Das ist im übrigen typisch für Ihre Politik, Herr Waigel. Bei den kleinen Leuten knausern, soweit es geht, und bei den Besserverdienenden großzügig sein - das ist die Schlagseite Ihrer Politik.
Ihr viel zu niedrig angesetzter Betrag für das Existenzminimum erweckt noch einen ganz anderen Verdacht. Sie gehen bereits davon aus, daß die Sozialhilfeleistungen, die Maßstab für das steuerliche Existenzminimum sind, herabgesetzt werden.
Ihr Kollege Seehofer hat anscheinend schon einen Gesetzentwurf in der Schublade, durch den die Sozialhilfeleistungen gekürzt werden sollen. Eine niedrigere Sozialhilfe bedeutet aber auch ein niedrigeres steuerfreies Existenzminimum und damit weiterhin zu hohe Steuern für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen.
Der neue Vorschlag von Herrn Waigel ist aber auch aus steuersystematischer Sicht vollkommen verfehlt. So wird der seit Jahrzehnten bewährte Grundfreibetrag gestrichen. Nach der in dem Gesetzentwurf abgedruckten Steuertabelle sind bereits ab einem Einkommen von 54 DM im Jahr Steuern zu zahlen. Bei einem Einkommen in Höhe von 5 616 DM, der Höhe des heutigen Grundfreibetrages, sind hiernach 376 DM Steuern fällig. Dieser Einkommensteuertarif - da sind wir uns wohl einig - wäre für sich betrachtet glatt verfassungswidrig.
Joachim Poß
Das sieht auch das Bundesfinanzministerium so. Deshalb ist in dem neuen § 34h, bei der sogenannten Grundentlastung, geregelt, daß bis zu einem zu versteuernden Einkommen von rund 12 000 DM die Steuer 0 DM betragen soll.
Weshalb, so muß man sich fragen, wird in der Steuertabelle ein Betrag ausgewiesen, der durch eine andere Vorschrift wieder auf Null gesetzt wird? Die Antwort, meine Damen und Herren, ist überraschend: Der Bundesfinanzminister will nämlich durch diesen Trick eine Sonderregelung für Sozialrentner einführen. Diese willkürliche Manipulation, die Herr Faltlhauser auf eine Anfrage des Kollegen Spiller bestätigt hat, ausgerechnet bei Rentnern mit einem geringen Einkommen, werden wir nicht mitmachen. Ich habe Ihre Rede, Herr Minister, so verstanden, daß Sie dies im weiteren Verfahren nachbessern wollen.
Vollkommen willkürlich ist auch, daß bei Arbeitslosen, jungen Müttern und anderen Personen, die sogenannte Lohnersatzleistungen erhalten, in bestimmten Einkommensbereichen eine Besteuerung von über 100 % eintritt, wie jetzt die „Wirtschaftswoche" aufgedeckt hat. Offensichtlich gilt für Sie, Herr Waigel, nicht mehr das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Für Sie ist das Prinzip der Beliebigkeit endgültig zur obersten steuerrechtlichen Maxime geworden.
Das ist eine Steuerpolitik frei nach dem Werbespruch von Toyota: Nichts ist unmöglich bei Theo Waigel.
Der Vorschlag von Herrn Waigel sieht weiterhin vor, daß die Steuerfreistellung des Existenzminimums bereits bei Einkommen von knapp über 12 000 DM schrittweise abgebaut wird. Das führt dazu, daß die Steuersätze in dem kleinen Einkommensbereich von 12 000 bis 15 000 DM von 0 auf 29 % ansteigen. Das ist ein kräftigerer Anstieg als im Bereich des gesamten weiteren Tarifs, in dem die Steuersätze bis 120 000 DM um weitere 24 % ansteigen. Die Grenzbelastung durch Lohnsteuer, Solidaritätszuschlag und Sozialversicherungsbeiträge steigt damit bereits ab einem Jahreseinkommen von 15 000 DM auf über 50 %. Den sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmern bleibt damit von Lohn- und Gehaltssteigerungen deutlich weniger übrig als bisher.
Wollen Sie so Ihren Slogan: „Leistung soll sich wieder lohnen" verwirklichen?
Offensichtlich haben Sie bei Ihrer Steuerpolitik immer nur die Interessen der Bezieher höherer Einkommen im Auge.
Ihr neuer Tarif enthält nämlich gleichzeitig eine Steuerentlastung de luxe für die Bezieher hoher und höchster Einkommen, zu der überhaupt kein Anlaß besteht.
Spitzenverdiener werden hierdurch sechsmal so hoch entlastet wie Normalverdiener. Um Ihren Einwand gleich vorwegzunehmen: Auch prozentual ist die Entlastung der Spitzenverdiener mit 1,7 % ihrer bisherigen Steuerschuld höher als die der Normalverdiener mit 1,3 %. Diese Steuerentlastung der Spitzenverdiener ist teuer und überflüssig. Die hierfür eingesetzten finanziellen Mittel sollten vielmehr für eine verfassungsrechtlich ausreichende Steuerfreistellung des Existenzminimums eingesetzt werden.
Nach Auffassung der SPD kommt daher nur folgende Lösung in Betracht:
Erstens. Ab dem 1. Januar 1996 muß ein Existenzminimum von 13 000 DM für Alleinstehende und 26 000 DM für Verheiratete steuerfrei gestellt werden. Damit fällt die Steuerentlastung für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen höher aus, als von der Bundesregierung vorgesehen.
Zweitens. Das Existenzminimum muß entsprechend der bisherigen bewährten Systematik durch einen Grundfreibetrag im Tarif steuerfrei gestellt werden. Die von Bundesfinanzminister Waigel mit der Grundentlastung eröffneten Manipulationsmöglichkeiten darf es nicht geben.
Drittens. In dem neuen Einkommensteuertarif muß die Steuerentlastung auf die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen und damit die breite Mehrheit der Bürger konzentriert werden. Eine Steuerentlastung für die Bezieher hoher und höchster Einkommen ist angesichts der Situation der öffentlichen Haushalte derzeit nicht möglich.
Joachim Poß
Viertens. Die Steuerfreistellung des Existenzminimums muß mit einem Abbau überflüssiger Steuersubventionen verbunden werden.
Wir haben dazu bereits in der Vergangenheit, z. B. beim sogenannten Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz, eine Vielzahl von Vorschlägen unterbreitet. Sie haben sich bislang ebenso wie bei den Vorschlägen der Bareis-Kommission geweigert, sich hiermit überhaupt sachlich auseinanderzusetzen. Statt dessen wollen Sie z. B. die Steuersubventionen im Bereich der Landwirtschaft und bei der Beschäftigung von privatem Hauspersonal sogar noch ausbauen.
Kapitalgesellschaften sollen durch eine erhebliche Komplizierung des Körperschaftsteuerrechts neu die Möglichkeit erhalten, verdeckte Gewinnausschüttungen im Fall eines Aufdeckens durch die Betriebsprüfung steuermindernd wieder rückgängig machen zu können.
Das ist nicht nur eine neue Steuervergünstigung, sondern auch eine Einladung zur Steuerhinterziehung,
deren finanzielle Folgen überhaupt noch nicht abgeschätzt werden können.
Wenn auf diese Regelungen ebenso wie auf die vollkommen unsinnige Kurzveranlagung, die auf Grund von Mitnahmeeffekten zu einem Steuerausfall von 2 Milliarden DM jährlich führt, verzichtet wird, stehen ausreichende finanzielle Mittel für die notwendige Steuerfreistellung des Existenzminimums zur Verfügung.
Anders als die verfassungsrechtlich notwendige Entlastung der Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen ist die im Gesetzentwurf vorgesehene Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer weder verfassungsrechtlich geboten noch von der Sache her erforderlich.
Dieser Teil ist nur Ballast für die anstehenden Gesetzesberatungen,
weil Sie, Herr Waigel, trotz Ihrer Ausführungen vorhin, heute an dieser Stelle auf Grund fehlender Statistiken nicht sagen können, wie sich diese Maßnahmen auf die einzelnen Gemeinden auswirken.
Da Sie noch keine Vorstellungen darüber haben, wie der Schlüssel für die Beteiligung der Gemeinden an der Umsatzsteuer endgültig - das betone ich - aussehen könnte, werden Sie wohl auch nicht ernsthaft davon ausgehen, daß wir Ihnen einen Blankoscheck zur Amputation der Gewerbesteuer in Form einer Zustimmung zur Änderung des Grundgesetzes ausstellen.
Wir werden auch die von Ihnen beabsichtigte Höherbelastung des investierenden Mittelstandes - da können Sie reden, wie Sie wollen; die Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen ist eine Höherbelastung des investierenden Mittelstandes - zur Finanzierung von Steuersenkungen für Banken und Versicherungen nicht mitmachen.
Das gesamte Vorhaben ist ja auch in Ihren eigenen Reihen umstritten. So sagte z. B. Herr Haungs - Ihr Wirtschaftssprecher -: Wer die Kommunen quasi ohne Vorwarnung überfällt, muß mit einer solchen Abwehrreaktion rechnen.
Herr Waigel, immer auffälliger wird deutlich, wie sehr Ihre Autorität auch innerhalb der Koalition schwindet. Beim Familienleistungsausgleich sind Sie mit Ihrem Konzept eines Ausbaus der unsozialen Kinderfreibeträge gescheitert. Sie haben gar nicht gemerkt, daß auch innerhalb der Koalition die familienpolitische Diskussion längst über Ihre Vorschläge hinweggegangen war.
Familienpolitiker in der Union und in der F.D.P. haben den Reformbedarf beim Familienleistungsausgleich anerkannt und gegen Sie einen Vorschlag durchgesetzt, der einen Schritt in Richtung auf das seit Jahren von der SPD geforderte einheitliche Kindergeld als Abzug von der Steuerschuld bedeutet.
Für über 90 % aller Familien soll es künftig statt des von Ihnen immer wieder verteidigten ungerechten Freibetrags ein einheitliches Kindergeld geben. Allerdings sind die jetzt von der Koalition vorgesehenen Leistungen für die Familien immer noch zu gering. Der CDU-Abgeordnete Fell hat recht,
wenn er das angesetzte Existenzminimum für Kinder als zu gering bezeichnet. Der CDU-Abgeordnete Link hat recht, wenn er die drohende Höherbelastung der Familien mit mehreren Kindern kritisiert. Das zeigt, daß unser 250 DM-Kindergeldmodell nach wie vor
die bessere Alternative ist.
Joachim Poß
Herr Waigel hat es bisher nicht geschafft, Gesetzesformulierungen zur Neuregelung des Familienleistungsausgleichs vorzulegen. Daher fehlt dieser Teil in dem heute vorliegenden Gesetzentwurf vollkommen. Herr Waigel, hier müssen Sie schleunigst Ihre Hausaufgaben nachholen, hier haben Sie eine Bringschuld.
Es darf nicht sein, daß wegen der Schludrigkeit des Finanzministers die Familien auch über den 1. Januar 1996 hinaus noch von dem Existenzminimum der Kinder Steuer zahlen müssen. Die Familien müssen bessergestellt werden, und zwar ab dem 1. Januar 1996.
Herr Waigel hat seine Hausaufgaben auch im Bereich der Wohnungsbauförderung noch nicht gemacht.
Auch da sind seine Vorschläge von den Experten der Koalition, deren Auffassungen ja im übrigen weitgehend mit denen der SPD-Experten übereinstimmen, verworfen worden. Herr Waigel, geben Sie auch in diesem Punkt Ihren Widerstand auf! Sonst erleiden Sie hier die gleiche Niederlage wie beim Familienleistungsausgleich.
Meine Damen und Herren, die bisherige Geschichte des Jahressteuergesetzes 1996 ist eine Geschichte der Pannen des Herrn Waigel.
Es fehlt mir leider die Zeit, um auf die vielen Punkte einzugehen, die noch zu nennen wären. Erinnern möchte ich nur an Ihre Absicht, im Schnelldurchlauf eine Umsatzsteuerpflicht für kommunale Müll- und Abwasserbetriebe einzuführen und damit eine neue Steuererhöhung für die Bürger durchzusetzen. Denn das hätte natürlich eine Steuererhöhung für die Bürger bedeutet. Sie können reden, wie Sie wollen: Die Mehrwertsteuer ist eine Überwälzungssteuer. Die Bürger, die schon jetzt unerträglich belastet sind, würden von Ihnen, Herr Waigel, bis zur Schmerzgrenze gepeinigt. Damit muß Schluß sein, das kann so nicht weitergehen.
Wir als Sozialdemokraten werden dafür sorgen, daß das Jahressteuergesetz 1996 nicht vollends zu einem Debakel wird. Deshalb fordere ich Sie auf, Ihre unsinnigen Vorschläge zurückzuziehen. Notwendig ist eine Konzentration auf die Wiederherstellung einer verfassungskonformen Besteuerung zur Reduzierung der Steuerlasten der Bürgerinnen und Bürger.
Notwendig ist aber auch eine grundlegende Durchforstung und Vereinfachung des Steuerrechts. Das Steuerchaos muß endlich beseitigt werden. Wir sind bereit, dazu beizutragen.