Rede von
Joachim
Poß
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich ist die Zeit für den Deutschen Bundestag viel zu schade, um sich heute mit dem von Bundesfinanzminister Waigel vorgelegten und von den Koalitionsfraktionen unbesehen übernommenen Gesetzentwurf zum Jahressteuergesetz 1996 auseinanderzusetzen. Denn, Herr Minister, das einzig Sichere an diesem Ihrem Gesetzentwurf ist, daß er so niemals im Bundesgesetzblatt stehen wird.
Herr Waigel, Sie stehen vor einem Scherbenhaufen und wahren nur mühsam den äußeren Schein. Der Beifall der Koalitionsfraktionen sollte die vielen Wunden heilen helfen, die Ihnen in den letzten Wochen auch aus den eigenen Reihen zugefügt wurden.
Mit Ihrer Rede haben Sie, Herr Waigel, die Welt schöngeredet. Das ist allerdings bei den Schwierigkeiten und Problemen, die Sie zu bewältigen nicht in der Lage sind, verständlich. Der Gesetzentwurf ist ein heilloses Sammelsurium von unausgegorenen und steuersystematisch verfehlten Regelungen. Durch den Gesetzentwurf würde die sozial ungerechte Schlagseite der Besteuerung weiter verschärft werden. Die vom Bundesverfassungsgericht bescheinigte Verfassungswidrigkeit der zentralen Regelungen der Einkommensbesteuerung würde nicht beseitigt werden. Statt der vollmundig angekündigten Steuervereinfachung würde es sogar zu einer weiteren Komplizierung und Unübersichtlichkeit des Steuerrechts kommen.
Das bisher von Herrn Waigel angerichtete Steuerchaos würde bei einer Annahme des Gesetzentwurfs noch größer werden.
Noch nie klafften Anspruch und Wirklichkeit bei einem Steuergesetz weiter auseinander als bei dem jetzt vorliegenden Entwurf. Vor der Bundestagswahl hat die Bundesregierung für das Jahr 1995 großspurig den großen Wurf in der Steuerpolitik versprochen. Alle im Jahre 1995 vorgesehenen, ab 1996 wirksam werdenden gesetzlichen Änderungen auf dem Gebiete des Steuerrechts sollten in einem Jahressteuergesetz 1996 zusammengefaßt werden. Zugleich sollte das Steuerrecht vereinfacht, der Abbau von Steuervergünstigungen fortgesetzt und steuerliche Sonderregelungen zurückgeführt werden.
Bundesfinanzminister Waigel hat sich aus wahltaktischen Gründen viel zu spät an die Arbeit gemacht. Vor der Bundestagswahl waren weder Entwürfe aus dem eigenen Hause noch Vorschläge aus der Wissenschaft erwünscht. Unter Zeitdruck hat Herr Waigel jetzt ein Stückwerk ohne Hand und Fuß abgeliefert.
Herr Waigel, Sie verhalten sich wie ein Pennäler, der seine Hausaufgaben nicht rechtzeitig gemacht hat und sich jetzt hektisch irgend etwas aus den Fingern saugt.
Wer so arbeitet, darf sich nicht wundern, wenn seine Werke als ungenügend bewertet werden.
„Der vorliegende Entwurf ist nur ein Torso, ein Flickwerk, das letztendlich nur zur weiteren Komplizierung des Steuerrechts beiträgt", sagt die Deutsche Steuergewerkschaft. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" spricht von „Wursteleien in der Steuerpolitik"
und befürchtet, das Jahressteuergesetz 1996 drohe zu einem weiteren unrühmlichen Kapitel in der bundesdeutschen Steuergeschichte zu werden.
Mit neuen großen Versprechungen versucht Herr Waigel jetzt, von seinem völlig mißlungenen Gesetzentwurf abzulenken.
Er kündigt an, das Jahr 1996 werde das Jahr der Steuersenkungen sein.
Aber vor welchem Hintergrund finden denn die
Steuersenkungen 1996 statt? Davor liegen doch die
Joachim Poß
Jahre der permanenten Steuer- und Abgabenerhöhungen von insgesamt 116 Milliarden DM.
Das waren aber auch die Jahre der Verschiebung der Steuerbelastung zu Lasten der Lohnsteuerzahler und der Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen.
Bei einem Gesamtzuwachs der Steuereinnahmen zwischen 1983 und 1995 von 114 % stieg die Steuerbelastung des Normalbürgers weit überproportional. Die Lohnsteuer nahm um 121 % zu, die Umsatzsteuer um 127 %, die Mineralölsteuer sogar um 181 %. Dagegen stiegen im selben Zeitraum die unternehmensnahen Steuern wie die Vermögensteuer mit 54 % und die Gewerbesteuer mit 73 % deutlich unterproportional.
Die geringste Zunahme gegenüber 1983 hatten die Körperschaftsteuer mit nur 15 % und die veranlagte Einkommensteuer mit sogar nur 2,5 %. Auch wenn hierin gewisse Verschiebungen zwischen Lohn- und Einkommensteuer enthalten sind, läßt sich die von Ihnen betriebene Umverteilung der Steuerlasten nicht leugnen.
Das war das Jahrzehnt der Umverteilung zu Lasten der breiten Schichten dieses Volkes, Herr Waigel. Dafür sind Sie mitverantwortlich.
Der Bundesfinanzminister hat immer wieder versucht, diese zunehmende soziale Schieflage zu verheimlichen. Wenn wir Sozialdemokraten ebenso wie der Bund der Steuerzahler die permamente Zunahme der Lohnsteuerbelastung kritisierten, haben Sie immer nur die Steuerbelastung der Wirtschaft und der hohen Einkommen mit fadenscheinigen Modellrechnungen propagandistisch dagegengestellt. Das ging so lange gut, bis das Bundesverfassungsgericht mit dieser sozialen Schieflage der Besteuerung befaßt wurde. Das Bundesverfassungsgericht hat dann klipp und klar festgestellt, daß die Bürger mit kleinen und mittleren Einkommen wegen der verfassungswidrigen Besteuerung des Existenzminimums Jahr für Jahr zuviel Steuern zahlen. Das gleiche hat das Bundesverfassungsgericht auch mit Blick auf die Familien wegen der zu geringen Berücksichtigung des Kinderexistenzminimums festgestellt.
Stellen Sie sich, Herr Waigel, daher deshalb hier nicht in der Pose eines Gönners hin, der den Bürgern die Steuern senken will! Geben Sie vielmehr zu, daß Sie in den letzten Jahren von den Bürgern in verfassungswidriger Weise zuviel Steuern einkassiert haben
und daß Sie jetzt vom Bundesverfassungsgericht gezwungen werden, auf diese zu Unrecht einkassierten Steuern von jährlich mehr als 20 Milliarden DM zu verzichten!
Würde dieser Gesetzentwurf verabschiedet, so würde das Jahr 1995 leider in die Steuergeschichte als das Jahr der verpaßten Neuorientierung in der Steuerpolitik eingehen.
Mit diesem Gesetzeswerk - das wissen Sie ganz genau, Herr Kollege hauser - sollten eigentlich die steuerpolitischen Weichen für die nächsten Jahre gestellt werden. Mit diesem Entwurf wird jedoch nicht die längst überfällige und von zahlreichen Experten aus der Wissenschaft und aus den Verbänden immer wieder angemahnte Neuorientierung in der Steuerpolitik gelingen. Ohne wirkliche Reform wird so weitergewurstelt wie bisher.
Ich möchte das vor allem an dem wichtigen Punkt der Steuerfreiheit des Existenzminimums näher darlegen. Das Verfassungsgericht hat ja bereits im September 1992 verlangt, daß spätestens ab dem 1. Januar 1996 dieser verfassungswidrige Zustand beendet werden muß. Trotz unserer damaligen Aufforderung, Herr Waigel, umgehend einen Gesetzentwurf vorzulegen, haben Sie ein Jahr untätig verstreichen lassen. Dann haben Sie im November 1993 eine Expertenkommission aus Wissenschaftlern und Praktikern eingesetzt, die grundlegende Vorschläge zur Berücksichtigung des Existenzminimums im Steuerrecht und zur Reform der Einkommensteuer machen sollte.
Vor der Bundestagswahl haben Sie jede Frage von uns und von anderen danach, wie Sie sich die Lösung dieses gewiß nicht einfachen Problems vorstellen, mit Hinweis auf diese Kommission zurückgewiesen. Als Ihnen dann zwei Wochen nach der Bundestagswahl die Bareis-Kommission ihre Vorschläge übergeben hat, haben Sie sofort erklärt, daß Sie die Vorschläge nicht aufgreifen wollen. Sie haben die Kommission nur als Alibi im Bundestagswahlkampf mißbraucht.
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Sie wollten von vornherein keine systemkonforme Lösung; Sie wollten sich von vornherein an den Vorgaben des Verfassungsgerichts vorbeimogeln.